Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.05.2024, Az.: 14 LB 115/23

Streit um eine Verfügung in Bezug auf die tierärztliche Hausapotheke einer Tierärztin; Maßstäbe für eine Behörde bei der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Wirksamkeit einer elektronischen Zustellung bei Abgabe eines elektronischen Empfangsbekenntnisses; Organisationsverschulden

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
03.05.2024
Aktenzeichen
14 LB 115/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 14589
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2024:0503.14LB115.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 12.05.2022 - AZ: 6 A 245/20

Fundstelle

  • RENOpraxis 2024, 138

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Bei der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO gelten für die Behörde dieselben rechtlichen Maßstäbe wie für Rechtsanwälte.

  2. 2.

    Ein Organisationsverschulden liegt vor, wenn vor der Abgabe eines elektronischen Empfangsbekenntnisses die Berufungsbegründungsfrist nicht von einer zur Prozessvertretung berechtigten Person berechnet und notiert worden ist.

  3. 3.

    Zur Wirksamkeit einer elektronischen Zustellung bei Abgabe eines elektronischen Empfangsbekenntnisses

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 6. Kammer - vom 12. Mai 2022 wird verworfen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Der Beschluss ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über eine Verfügung des Beklagten in Bezug auf die tierärztliche Hausapotheke der Klägerin.

Die Klägerin ist Tierärztin und betreibt eine tierärztliche Praxis mit tierärztlicher Hausapotheke in der im Landkreis E. liegenden Gemeinde A-Stadt.

Am 13. Mai 2018 zeigte die Klägerin dem Beklagten formlos an, dass ab dem 14. Mai 2018 keine Arzneimittel mehr in ihrer Praxisnebenstelle in F. gelagert würden, sondern stattdessen in ihrer Zweitpraxis in G.. Daraufhin informierte der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 27. Juni 2018, dass der Betrieb einer zweiten tierärztlichen Hausapotheke in G. gegen die Regelung in § 9 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über tierärztliche Hausapotheken (TÄHAV) verstoße. Die Klägerin erwiderte hierauf, dass es sich bei der Praxis in G. um eine Untereinheit ihrer Praxis in A-Stadt handele, in der Arzneimittel gelagert werden dürften, weil sie die jederzeitige und uneingeschränkte Kontrolle über die ordnungsgemäße Lagerung habe. Daraufhin führte der Beklagte erfolgreich ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Klägerin, im Rahmen dessen schließlich das Oberlandesgericht Oldenburg in seinem Urteil vom 7. August 2019 feststellte, dass ein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 TÄHAV vorliege, weil die Klägerin wissentlich und willentlich in ihrer Praxis in G. Arzneimittel lagere.

Mit Schreiben vom 30. September 2019 teilte die Klägerin dem Beklagten mit, dass in ihrer Praxis in G. keine Arzneimittel mehr gelagert würden.

Am 27. November 2019 fand in der Praxis der Klägerin in G. eine Kontrolle durch die zuständigen bremischen Behörden statt. Ausweislich des Berichts und der darin befindlichen Fotos habe sich in der Praxis ein Schrank mit Arzneimitteln, eine Art Werkzeugwagen, ein Kasten aus Kunststoff zum Transport von Durchstechflaschen und ein Behälter aus Styropor zum Transport von kühlpflichtigen Impfstoffen befunden. Die Klägerin habe erklärt, dass sie die Medikamente seit dem Gerichtsurteil täglich zwischen A-Stadt und G. hin und her transportiere und diese täglich in die Schränke im Behandlungsraum ein- und wiederausräume. Um den Werkstattwagen in das Auto transportieren zu können, sei außerdem eine mobile Rampe in der Praxis vorhanden.

Im Anschluss an die Kontrolle hörte der Beklagte die Klägerin zu dem streitgegenständlichen Bescheid an. Die Klägerin teilte dem Beklagten mit, dass sie die Arzneimittel täglich zwischen A-Stadt und G. hin und her transportiere. Zu diesem Zweck würden fahrbare Trolleys benutzt, aus denen die Arzneimittel herausgegeben würden. Eine stationäre Aufbewahrung und Lagerung für eine spätere Verwendung finde nicht statt. Die Arzneimittel seien nur wenige Stunden im Trolley und würden am Ende eines Arbeitstages nach A-Stadt zurückgebracht.

Mit Bescheid vom 11. Juni 2020 ordnete der Beklagte gegenüber der Klägerin unter Auferlegung der Kostenpflicht an, innerhalb von zwei Wochen nach Bestandskraft der Verfügung die Lagerung von Arzneimitteln an einem der von der Klägerin betriebenen Standorte in A-Stadt bzw. G. einzustellen. Die Klägerin solle benennen, an welchem Standort sie die Lagerung beende. Für den Fall der Nichtbefolgung drohte der Beklagte die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 500 Euro an. Den Bescheid begründete der Beklagte damit, dass ein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 1 TÄHAV vorliege. Die Klägerin lagere an beiden Praxisstandorten Arzneimittel. Eine Lagerung setze dabei nicht voraus, dass die Medikamente über Nacht an dem Ort verbleiben würden. Ein Lagern liege bei jeder stationären Aufbewahrung oder bei einem Ablegen an einem Ort für eine spätere Verwendung vor, wobei die Dauer des Ablegens bzw. der Aufbewahrung unerheblich sei. Eine Lagerung sei deshalb durch das Aufbewahren der Medikamente tagsüber am Standort in G. gegeben. Die in § 9 Abs. 1 Satz 2 TÄHAV enthaltenen Ausnahmen könnten nicht geltend gemacht werden. Eine Bezugnahme auf § 11 TÄHAV sei für die Vorgehensweise der Klägerin nicht möglich, da sie keine Außenpraxis betreibe.

Hiergegen hat die Klägerin am 9. Juli 2020 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, ihre Vorgehensweise entspreche nicht einer "Lagerung" im Sinne von § 9 TÄHAV, sondern vielmehr einem "Mitführen" im Sinne von § 11 TÄHAV, sodass das Vorgehen erlaubt sei. Sie führe die voraussichtlich am Behandlungstag in der Untereinheit in G. zu benutzenden Arzneimittel mobil mit sich.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 11. Juni 2020 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat der Klage durch das - ohne mündliche Verhandlung ergangene - Urteil vom 12. Mai 2022 stattgegeben. Es hat festgestellt, dass am Hauptstandort in A-Stadt eine tierärztliche Hausapotheke bestehe und die Klägerin die erforderlichen Arzneimittel zur Anwendung und Abgabe an Tierhalter unter Nutzung eines Werkstattwagens täglich zwischen A-Stadt und G. hin und her transportiere. Ein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 1 TÄHAV liege damit nicht vor. Das tägliche Transportieren der Arzneimittel zur Praxisnebenstelle und der damit verbundene zeitweilige Aufenthalt dieser Medikamente in G. stelle kein Lagern im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 TÄHAV dar, solange die Klägerin nach Beendigung ihres Arbeitstages alle Arzneimittel wieder in das Lager im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 TÄHAV, also in ihre Hauptpraxis, verbringe.

Auf Antrag des Beklagten hat der Senat die Berufung mit Beschluss vom 26. Oktober 2023 wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts zugelassen. Der Beschluss wurde dem Beklagten ausweislich des elektronischen Empfangsbekenntnisses am 27. Oktober 2023 zugestellt.

Mit gerichtlicher Verfügung vom 28. November 2023 ist der Beklagte darauf hingewiesen worden, dass eine Berufungsbegründung nicht fristgemäß eingegangen sei und beabsichtigt sei, die Berufung zu verwerfen. Daraufhin stellte der Beklagte am 30. November 2023 einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und reichte am 12. Dezember 2023 die Begründung der Berufung nach.

Zu dem Antrag auf Wiedereinsetzung hat der Beklagte ausgeführt:

Zuständig für die Rechtsstreitigkeiten einschließlich der Vornahme von Verfahrenshandlungen sei ausschließlich das Dezernat H. (I.), dem die Unterzeichnerin des Wiedereinsetzungsantrages angehöre. Für dieses Verfahren sei sie wiederum allein zuständig.

Im Rahmen der behördlichen Büro- und Postorganisation sei das Dezernat J. (K.) für den Abruf und die Verteilung sowie für den Versand in und aus dem besonderen elektronischen Behördenpostfach zuständig. Die dem Dezernat J. angehörende Mitarbeitende Frau L. sei aufgrund des behördlichen Geschäftsverteilungsplans gehalten und angewiesen, eingehende Schriftstücke dem für die Bearbeitung zuständigen Fachdezernat zu übermitteln. Die Mitarbeiterin des Dezernats J. sei für diese Aufgabe ausreichend geschult und eingewiesen. Gleichwohl sei es in dieser Sache zu einem Fehler gekommen. Der die Berufung zulassende Beschluss des Senats vom 26. Oktober 2023 (14 LA 268/22) sei entgegen der Anweisung weder von Frau L. noch von einer/m anderen Mitarbeitenden mit Zugriff auf das beBPo aus dem Behördenpostfach an die Unterzeichnerin oder das Dezernat H. weitergeleitet worden. Erst durch den Hinweis des Gerichts vom 28. November 2023 habe sie, die Unterzeichnerin, von dem Beschluss Kenntnis erlangt. Der Beschluss sei im beBPo aufgefunden worden, ohne einen Hinweis darauf, dass dieser jemals dem Dezernat H. noch der Unterzeichnerin im Wege der (elektronischen) Hauspost weitergeleitet worden sei. Auf die Einhaltung der Postverteilungsregelungen habe er, der Beklagte, sich verlassen können. In der Vergangenheit seien solche Fehler nicht aufgetreten, beispielsweise seien am 11. und 19. Oktober alle Eingänge im beBPo zuverlässig an die zuständige Sachbearbeitung im Dezernat H. weitergeleitet worden. Frau L. sei eine bisher stets zuverlässige Mitarbeitende. Seit Mai 2023 habe sie die Aufgabe der Weiterleitung und Verteilung der per Behördenpostfach eingegangenen Schriftsätze stets zuverlässig wahrgenommen. Es habe auch aus anderen Gründen nie Anlass zur Beanstandung der Arbeitsleistungen von Frau L. gegeben.

Auch im Weiteren sei der Unterzeichnerin kein Organisationsverschulden zuzurechnen. Sie trage sich nach dem Einreichen von Schriftsätzen stets Wiedervorlagefristen in ihren elektronischen Kalender ein. Vorliegend sei die Frist noch nicht abgelaufen gewesen. Mit einer Entscheidung des Gerichts habe die Unterzeichnerin aufgrund des Hinweises des Gerichts im Mai 2023, dass ein genauer Entscheidungstermin nicht mitgeteilt werden könne, nicht rechnen müssen. Zur Glaubhaftmachung der Tatsachen, die in ihrem Wahrnehmungsbereich lägen, versichere die Unterzeichnerin deren Richtigkeit.

Frau L. hat am 30. November 2023 an Eides statt versichert, dass sie im Rahmen ihrer Tätigkeit für das Dezernat J. für die Überwachung des beBPo-Postfachs von Mai 2023 bis zum November 2023 verantwortlich gewesen sei. Sobald ein neues Schriftstück eingegangen sei, habe sie dieses in der behördeninternen Ablage abgespeichert und die zuständige Organisationeinheit über den Eingang per E-Mail mit Angabe des Aktenzeichens und des Gerichts informiert. Ohne diese Benachrichtigung würden die zuständigen Organisationseinheiten weder eine Information darüber erhalten, dass neue Eingänge im beBPo vorhanden seien, noch, dass diese von ihr in der Ablage abgespeichert worden seien. Die Beschlüsse des Senats vom 26. Oktober 2023 (14 LA 268/22 und 14 LA 269/22) seien über das beBPo am 27. Oktober 2023 eingegangen. Hierüber habe sie zuständigkeitshalber eine Information per E-Mail erhalten. Sodann habe sie die Schriftstücke abgerufen und die Dokumente in der Ablage abgespeichert. Leider habe sie keine Benachrichtigung per E-Mail an das Dezernat H. versendet. Die zuständige Sachbearbeiterin habe somit nicht Kenntnis von dem Eingang nehmen können. Sie könne sich nicht erklären, weshalb ihr dieser Fehler unterlaufen sei.

Der Beklagte beantragt schriftlich,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 6. Kammer -vom 12. Mai 2022 die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat (noch) keinen Antrag gestellt.

Eine Erwiderung zur Berufungsbegründung ist (bisher) nicht vom Senat angefordert worden. Dem Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten ist die Klägerin entgegengetreten.

Den Beteiligten ist mit gerichtlicher Verfügung vom 8. April 2024 Gelegenheit zur Stellungnahme zu einer Entscheidung nach § 125 Abs. 2 VwGO gegeben worden. Hiervon haben die Beteiligten Gebrauch gemacht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 5 und § 125 Abs. 2 Satz 1 und 2 VwGO nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht gemäß § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO innerhalb eines Monats nach Zustellung des sie zulassenden Beschlusses begründet worden ist (1.) und dem Beklagten wegen der Versäumung dieser Frist nicht gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (2.).

1. Die Berufung wurde nicht fristgerecht von dem Beklagen begründet.

Die Monatsfrist des § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO zur Begründung der vom Senat mit Beschluss vom 26. Oktober 2023 zugelassenen Berufung (14 LA 268/22) wurde vom Beklagten nicht eingehalten. Sie begann mit der - ausweislich des vom Beklagten rückübersandten elektronischen Empfangsbekenntnisses - am 27. Oktober 2023 ordnungsgemäß bewirkten Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung an den Beklagten (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB) zu laufen und endete mit Ablauf des 27. November 2023 (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB), einem Montag.

Eine Begründung der Berufung ist nicht innerhalb dieser Frist, sondern erst nach dem gerichtlichen Hinweis vom 28. November 2023 am 12. Dezember 2023 eingegangen.

2. Der Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Begründung der Berufung hat keinen Erfolg.

Über den Antrag des Beklagten, ihm wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren, ist gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 ZPO zusammen mit der nachgeholten Prozesshandlung nach den für dieses Rechtsmittel geltenden Vorschriften zu entscheiden; ist ein Wiedereinsetzungsantrag erfolglos, ist mithin die Berufung unter Ablehnung dieses Antrags gemäß § 125 Abs. 2 Satz 1 VwGO durch Beschluss zu verwerfen (VGH BW, Beschl. v. 6.12.2017 - 1 S 1484/17 -, juris Rn. 7; vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.10.1997 - 2 C 13.97 -, juris Rn. 8).

Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand liegen nicht vor.

Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen; bei Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung, des Antrags auf Zulassung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Beschwerde beträgt die Frist einen Monat (§ 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind nach § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Erforderlich ist dabei eine rechtzeitige substantiierte und schlüssige Darstellung der für die unverschuldete Fristsäumnis wesentlichen Tatsachen (BVerwG, Beschl. v. 23.6.2011 - 1 B 7/11 -, juris Rn. 3). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (§ 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Zwar hat der Beklagte sowohl den Antrag auf Wiedereinsetzung am 30. November 2023 gestellt als auch die versäumte Prozesshandlung schließlich am 12. Dezember 2023 binnen eines Monats nach Kenntnis von dem Beschluss des Senats vom 26. Oktober 2023 nachgeholt. Jedoch hat er nicht glaubhaft gemacht, dass er ohne Verschulden daran gehindert war, die Berufung bis zum Ablauf des 27. November 2023 zu begründen. Entgegen der Auffassung des Beklagten beruht das Fristversäumnis nicht auf dem Verschulden einer Hilfsperson, der Frau L., für das der Beklagte nicht nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO einzustehen hätte (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.5.1991 - 3 C 68.89 -, juris Rn. 12 m.w.N.). Die Schilderungen des Beklagten rechtfertigen vielmehr die Annahme eines ihm zurechenbaren Organisationsverschuldens. Denn es ist von ihm nicht hinreichend dafür Sorge getragen worden, dass vor Rücksendung des elektronischen Empfangsbekenntnisses der Senatsbeschluss vom 26. Oktober 2023 und damit der Lauf einer Berufungsbegründungsfrist der mit der Bearbeitung betrauten juristischen Mitarbeiterin überhaupt bekannt wurden.

Ein "Verschulden" im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO liegt vor, wenn diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen wird, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (BVerwG, Beschl. v. 26.1.2021 - 2 B 59/20 -, juris Rn. 3). Dabei gelten die für eine Prozessvertretung durch Rechtsanwälte entwickelten Rechtsgrundsätze sinngemäß auch für den Fall der Prozessvertretung von juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden durch den in § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO (bis 30. Juni 2008: § 67 Abs. 1 Satz 3 VwGO) genannten Personenkreis. Das in dieser Vorschrift eingeräumte "Behördenprivileg" besteht ausschließlich darin, dass für die Behörde im Gegensatz zur Vertretung einer Privatperson neben Rechtsanwälten auch bestimmte eigene Bedienstete vertretungsberechtigt sind. Dagegen bezweckt es keine Besserstellung der Behörde im Hinblick auf die von einem Vertretungsberechtigten im Rahmen seiner Prozessführung zu wahrenden Sorgfaltspflichten (BVerwG, Beschl. v. 26.1.2021 - 2 B 59.20 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 22.12.2000 - 11 C 10.00 -, juris Rn. 7 m.w.N.; NdsOVG, Beschl. v. 8.5.2008 - 5 LA 46/04 -, juris Rn. 6; OVG NRW, Beschl. v. 9.12.2009 - 12 A 2310/08 -, juris Rn. 10).

So hat ein Rechtsanwalt durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig erstellt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Dabei kann er zwar die Feststellung, Berechnung und Notierung einfacher und in seinem Büro geläufiger Fristen gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Angestellten überlassen (BVerwG, Beschl. v. 23.6.2011 - 1 B 7.11 -, juris Rn. 5). Dies gilt jedoch nicht für Rechtsmittelbegründungsfristen, insbesondere der Frist zur Begründung der Berufung (BVerwG, Beschl. v. 4.2.2013 - 6 B 55.12 -, juris Rn. 6; NdsOVG, Beschl. v. 1.11.2000 - 4 L 2499/00 -, juris Rn. 11; VGH BW, Beschl. v. 2.8.2006 - 4 S 2288/05 -, juris Rn. 5; vgl. zu § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO: BVerwG, Beschl. v. 23.6.2011 - 1 B 7.11 -, juris Rn. 5, und zu § 139 Abs. 3 Satz 1 VwGO: BVerwG, Beschl. v. 28.2.2002 - 6 C 23.01 -, juris Rn. 7; Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 60 Rn. 14).

Des Weiteren hat ein Prozessbevollmächtigter durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden, insbesondere, wenn im Fall der Zustellung gegen Empfangsbekenntnis der Eingang der Entscheidung in der Kanzlei und die Entgegennahme durch den Rechtsanwalt zeitlich auseinanderfallen können (BVerwG, Beschl. v. 23.6.2011 - 1 B 7.11 -, juris Rn. 5). Erfolgt die Zustellung einer fristenauslösenden gerichtlichen Entscheidung wie eines die Berufung zulassenden Beschlusses gegen Empfangsbekenntnis, darf ein Rechtsanwalt dieses erst unterzeichnen und zurückgeben, wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist (BVerwG, Beschl. v. 4.2.2013 - 6 B 55.12 -, juris Rn. 6; vgl. auch BGH, Beschl. v. 2.2.2010 - VI ZB 58/09 -, juris Rn. 6; NdsOVG, Beschl. v. 29.6.2012 - 2 LA 185/12 -, juris Rn. 7; Hoppe in: Eyermann, 16. Aufl. 2022, VwGO, § 60 Rn. 14). Dies gilt auch im Falle der Rücksendung eines elektronischen Empfangsbekenntnisses (BVerwG, Beschl. v. 19.9.2022 - 9 B 2.22 -, juris Rn. 22).

Dies zugrunde gelegt lässt sich den Ausführungen des Beklagten nicht entnehmen, dass er die Anforderungen, die mit der Abgabe eines elektronischen Empfangsbekenntnisses und der Berechnung und Notierung von Rechtsmittelbegründungsfristen verbunden sind, im Allgemeinen und im konkreten Fall erfüllt (hat).

Nach der von dem Beklagten im Schriftsatz vom 18. April 2024 geschilderten allgemeinen Verfahrensweise werde ein Schriftsatz, der über das beBPo eingegangen sei, von den zuständigen Mitarbeitern des Dezernats J. abgerufen, abgespeichert, an das zuständige Fachdezernat weitergeleitet und das elektronische Empfangsbekenntnis abgegeben. Einen Fristenkalender führe das Dezernat J. behördenübergreifend nicht. Ein solcher werde stattdessen von den Dezernaten für ihren jeweiligen Fachbereich geführt. Eine Fristenkontrolle finde daher durch das Dezernat J. nicht statt. Im Dezernat H. nehme ein zuständiger Sachbearbeiter, welcher als Geschäftsstelle fungiere, Schriftsätze aus dem beBPo von Dezernat J. entgegen, notiere die Fristen und leite die Schriftsätze an den zuständigen Juristen weiter, der sich ebenfalls die Fristen notiere. Hinsichtlich der Führung eines Fristenkalenders und der Überwachung der Fristen sei der Sachbearbeiter des Dezernats H. geschult und verfüge über die für die Berechnung von Fristen besonderen Kenntnisse. Dies könne von den Mitarbeitern des Dezernats J. nicht verlangt werden.

Bereits hierin liegt ein Organisationsverschulden des Beklagten, da Mitarbeiter des Dezernats J. elektronische Empfangsbekenntnisse abgeben, ohne dass zuvor Rechtsmittelbegründungsfristen durch einen Juristen berechnet und auch notiert werden. Es kann daher dahinstehen, ob die Berechnung und Notierung einer Rechtsmittelbegründungsfrist durch den zuständigen Sachbearbeiter des Dezernats H., der nach dem Vorbringen des Beklagten lediglich als Geschäftsstelle fungiert, überhaupt ausreichend gewesen wäre.

Auch im Falle der Klägerin ist der Beklagte nicht von seiner allgemeinen Verfahrensweise abgewichen. Diesbezüglich hat der Beklagte vorgetragen, dass die für die Verteilung elektronischer Eingänge zuständige Mitarbeiterin des Dezernats J. den am 27. Oktober 2023 (um 9:39 Uhr) vom Gericht an den Beklagten elektronisch übermittelten Beschluss vom 26. Oktober 2023 am selben Tag aus dem beBPo abgerufen und in der internen Ablage abgespeichert habe. Eine E-Mail mit der Information über den Eingang dieses Beschlusses sei von ihr versehentlich nicht an das (in der Sache zuständige) Dezernat H. bzw. die Sachbearbeiterin gesandt worden. Gleichwohl ist das elektronische Empfangsbekenntnis noch am selben Tag, dem 27. Oktober 2023, von dem Beklagten elektronisch an das Gericht zurückgesandt worden (Eingang um 11:34 Uhr). Unabhängig davon, dass nicht bekannt ist, ob die für die Postverteilung zuständige Mitarbeiterin das elektronische Empfangsbekenntnis auch im konkreten Fall erzeugt und an das Gericht zurückgesandt hat, ist dieses offensichtlich weder von der zuständigen Sachbearbeiterin noch von einer anderen nach § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO zur Vertretung berechtigten Person des Dezernats H. erzeugt und zurückgesandt worden (zu den Einzelheiten der Erstellung eines elektronischen Empfangsbekenntnisses: BVerwG, Beschl. v. 19.9.2022 - 9 B 2.22 -, juris Rn. 16 ff.). Anderenfalls hätte die Sachbearbeiterin oder eine andere nach § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO zur Vertretung berechtigte Person des Dezernats H. von dem Beschluss, der der Nachricht angehängt war, für die das elektronische Empfangsbekenntnis angefordert wurde, Kenntnis erlangt und insbesondere vor der Rücksendung des elektronischen Empfangsbekenntnisses die Frist zur Begründung der Berufung notiert.

Wenn der Beklagte die Aufgabe der Erzeugung und Rücksendung eines elektronischen Empfangsbekenntnisses einer in der Sache nicht zuständigen Mitarbeiterin (ggf. ohne juristische Fachkenntnisse) überträgt, ohne sichergestellt zu haben, dass vor der Rücksendung eine Person im Sinne des § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO die Frist für die Begründung der Berufung berechnet und elektronisch oder schriftlich festgehalten hat, trägt er auch das Risiko dafür, dass der Vorgang - aus welchen Gründen auch immer - außer Kontrolle gerät, bevor die Frist notiert ist (vgl. OVG MV, Beschl. v. 21.10.2005 - 1 L 51/05 -, juris Rn. 12). Dass die Tätigkeit der zuständigen Mitarbeiterin - und die von dem Beklagten im Schriftsatz vom 18. April 2024 dargestellte allgemeine Verfahrensweise - bisher zu keinerlei Beanstandungen geführt hat, gebietet keine andere Beurteilung. Selbst wenn es bisher nicht zu Komplikationen bei Fristsachen gekommen sein mag, belegt dies die Tauglichkeit der Büroorganisation für eine zuverlässige Fristenkontrolle nicht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 11. Januar 2012 - 9 B 55/11 -, juris Rn. 4).

Der Vollständigkeit halber merkt der Senat an, dass aus diesem Sachverhalt keine Zweifel an der wirksamen elektronischen Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung vom 26. Oktober 2023 nach § 56 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. § 173 ZPO folgen. Die elektronische Zustellung des Beschlusses an den Beklagten ist gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO durch das elektronische Empfangsbekenntnis vom 27. Oktober 2023 nachgewiesen worden. Ebenso wie das papiergebundene Empfangsbekenntnis erbringt das elektronische Empfangsbekenntnis gegenüber dem Gericht den vollen Beweis für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme (BVerwG, Beschl. v. 19.9.2022 - 9 B 2/22 -, 1. Leits. u. Rn. 12; Kimmel in: BeckOK VwGO, 68. Ed. 1.1.2024, § 56 Rn. 26b). Dabei ist die Zustellung nicht schon mit dem Eingang des Dokuments in der (elektronischen) Posteingangsstelle einer Behörde bewirkt, sondern erst, wenn der empfangsbereite und -berechtigte Adressat, d.h. bei einer Behörde der hierfür nach der behördeninternen Geschäftsverteilung zuständige Bedienstete selbst das Dokument als zugestellt annimmt (BVerwG, Beschl. v. 19.9.2022 - 9 B 2.22. -, juris Rn. 22; OVG NRW, Beschl. v. 21.12.2016 - 20 A 335/15 -, juris Rn. 3 bis 5; Kimmel in: BeckOK VwGO, 68. Ed. 1.1.2024, § 56 Rn. 29; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 29.4.2011 - 8 B 86.10 -, juris Rn. 6, juris m.w.N.). Der Beklagte hat vorliegend nichts dazu vorgetragen, dass ein nach der behördeninternen Geschäftsverteilung nicht zuständiger Mitarbeiter den Beschluss als zugestellt angenommen hätte, indem er das elektronische Empfangsbekenntnis erzeugt und an das Gericht zurückgesandt hat. Auf den Tag, an welchem der zuständige Sachbearbeiter das Schriftstück entgegennimmt, kommt es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht an (VGH BW, Beschl. v. 30.9.1993 - A 16 S 1587/93 -, juris Rn. 2 m.w.N.; vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.12.1979 - 4 ER 500.79 -, juris Rn. 1).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.