Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 01.11.2000, Az.: 4 L 2499/00

Behörde; Berufungsbegründungsfrist; Fristversäumung; Verschulden; Versäumung; Wiedereinsetzung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
01.11.2000
Aktenzeichen
4 L 2499/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2000, 41577
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 18.01.2000 - AZ: 3 A 5988/99

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn eine Behörde die Berufungsbegründungsfrist versäumt hat.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob § 26 Abs. 2 Nr. 2 BSHG auch dann anwendbar ist, wenn die Auszubildende zwar eine Ausbildung betreibt, die einen Bedarf nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 BAföG begründet, ihr aber Ausbildungsförderung nicht (mehr) gewährt wird, weil sie eine für die Förderung der Ausbildung allgemein geltende Voraussetzung (hier: Einhaltung der Altersgrenze gem. § 10 Abs. 3 BAföG) nicht erfüllt.

2

Da diese Frage grundsätzliche Bedeutung hat, hat der Senat mit Beschluss vom 6. Juli 2000 - 4 L 1204/00 - die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer - vom 18. Januar 2000 (3 A 5988/99) zugelassen. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Urteil die o.g. Frage bejaht.

3

Der Beschluss des Senats vom 6. Juli 2000 enthielt den Hinweis, daß die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses zu begründen und die Begründung bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht einzureichen sei (§ 124 a Abs. 3 S. 1 und 2 VwGO). Der zugestellte Beschluss, in dem als das Verfahren führendes Amt fälschlich das Sozialamt der Beklagten (Dienststelle S.-straße 11) anstelle des Rechts- und Standesamtes (H.-straße) genannt und der auch an die entsprechende falsche Dienststelle übersandt worden ist, ist von einem Mitarbeiter der Beklagten in der Botenmeisterei - Behörden- und Städtesammelpost -, Herrn D., entgegengenommen worden, der auch das Empfangsbekenntnis abgestempelt und unterschrieben hat. Die Zustellung des Beschlusses ist ausweislich dieses Empfangsbekenntnisses am 13. Juli 2000 erfolgt. Die Beklagte hat die Berufung mit Schriftsatz vom 5. September 2000, eingegangen bei dem Oberverwaltungsgericht per Telefax am selben Tag, begründet und zugleich hinsichtlich der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung dieses Antrags trägt sie vor: Bis zum Zeitpunkt des Eingangs der gerichtlichen Verfügung vom 15.08.2000, mit dem auf die Fristversäumnis hingewiesen worden sei - im Rechts- und Standesamt der Beklagten am 22.08.2000, der zuständigen Vertreterin vorgelegt am 23.08.2000 - habe diese nicht Kenntnis vom Beginn der Berufungsbegründungsfrist gehabt. Nachforschungen hätten ergeben, dass der Beschluss über die Zulassung der Berufung vom 06.07.2000 zwar am 17.07.2000 (Datum des internen Eingangsstempels) im Rechts- und Standesamt der Beklagten eingegangen sei, jedoch aus nicht mehr feststellbaren Gründen in einem nicht dazugehörigen Vorgang abgeheftet und in der Registratur abgehängt worden sei. Es handele sich hierbei um ein Verschulden des Büropersonals, das ihr, der Beklagten, nicht zuzurechnen ist. Insoweit gälten dieselben Grundsätze wie für das Anwaltsverschulden. Ihr Rechts- und Standesamt verfüge über eine geordnete Büroorganisation. Die Registratur sei mit sorgfältig ausgewähltem, erfahrenem und seit Jahren in diesem Büro tätigen Personal besetzt. Es habe keinerlei Anlass bestanden, an seiner Zuverlässigkeit zu zweifeln. Zu den wesentlichen Aufgaben des Büropersonals gehörten die Zuordnung von Posteingängen und die Überwachung und Beachtung von Fristen. Die für das Streitverfahren zuständige Vertreterin des Rechts- und Standesamtes habe sich darauf verlassen dürfen, dass ihr der Beschluss über die Zulassung der Berufung unverzüglich nach Eingang im Rechts- und Standesamt der Beklagten am 17.07.2000 vorgelegt würde. Dass dies durch ein Versehen einer Bürokraft nicht geschehen sei, sei ihr nicht zuzurechnen.

4

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und Beiakten verwiesen.

II.

5

Der Senat kann gem. § 125 Abs. 2 VwGO über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn sie unzulässig ist. Diese Voraussetzung liegt hier vor. Die Beteiligten sind zu der Absicht des Senats, durch Beschluss zu entscheiden, gehört worden.

6

Die Berufung der Beklagten ist unzulässig.

7

Nach § 124 a Abs. 3 S. 1 VwGO ist die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Auf diese Notwendigkeit und die einzuhaltende Frist ist die Beklagte in dem Zulassungsbeschluss hingewiesen worden (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1998 - BVerwG 9 C 6.98 - NVwZ 1998, 1311 = DVBl. 1999, 95). Der Beschluss ist der Beklagten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 13. Juli 2000 zugestellt worden. Die Zustellung ist ordnungsgemäß erfolgt. Zwar ist in dem Beschluss als das Verfahren führendes Amt fälschlich das Sozialamt der Beklagten anstelle des Rechts- und Standesamtes genannt und ist der Beschluss auch an die entsprechende falsche Dienststelle übersandt worden. Das hat sich aber nicht ausgewirkt. Denn der zuzustellende Beschluss ist von dem Mitarbeiter der Beklagten in der Botenmeisterei, Herrn D., entgegengenommen worden, der auch das Empfangsbekenntnis abgestempelt und unterschrieben hat. Die Beklagte hat mitgeteilt, dass Herr D. befugt sei, Zustellungen mit Wirkung sowohl für das Sozialamt als auch für das Rechts- und Standesamt entgegenzunehmen.

8

Die einmonatige Berufungsbegründungsfrist ist, da der 13. August 2000 ein Sonntag war, am 14. August 2000 abgelaufen (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 2 ZPO). Die Beklagte hat die Berufung aber erst mit Schriftsatz vom 5. September 2000, eingegangen bei dem Oberverwaltungsgericht am selben Tag, begründet. Die Berufung ist damit wegen Nichteinhaltung der Berufungsbegründungsfrist unzulässig (§ 124 a Abs. 3 S. 5 VwGO).

9

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Berufungsbegründungsfrist kann der Beklagten nicht gewährt werden. Aus ihrem Vorbringen ergibt sich nicht, dass sie bzw. ihre sachbearbeitende Mitarbeiterin im Rechtsamt "ohne Verschulden" i.S. des § 60 Abs. 1 VwGO gehindert gewesen wäre, die Frist einzuhalten.

10

Grundsätzlich sind an die Sorgfaltspflichten bei der Fristenüberwachung und die Büroorganisation in einer Behörde dieselben Anforderungen zu stellen wie bei einem Rechtsanwalt (BVerwG, B. v. 6.6.1995 - BVerwG 6 C 13.93 -, Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 198 = NVwZ-RR 1996, 60 = DVBl. 1995, 937 LS). Die Feststellung und Berechnung der prozessualen Fristen ist grundsätzlich Sache des Rechtsanwalts selbst. Nur wenn es sich um einfache und übliche, in der Praxis des Rechtsanwalts häufig vorkommende Fristen (Routinefristen) handelt, kann er sich auf die Berechnung durch gut geschultes und sorgfältig überwachtes Büropersonal verlassen (BAG, B. v. 20.6.1995 - 3 AZN 261/95 -, NZA 1995, 1119 = BB 1995, 2118).

11

Die Feststellung, dass mit der Zustellung des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts über die Zulassung einer Berufung eine Frist zu deren Begründung in Lauf gesetzt wird, ist nicht eine solche Routineangelegenheit, dass sie dem Büropersonal überlassen bleiben könnte. Das gilt um so mehr, als ein solcher Zulassungsbeschluss zwar eine Belehrung über die Notwendigkeit und Fristgebundenheit der Berufungsbegründung enthält, diese aber nicht als "Rechtsmittelbelehrung" bezeichnet ist - es handelt sich eben nicht um ein Rechtsmittel - und damit von nicht rechtskundigen Personen leicht übersehen oder in ihrer Bedeutung nicht erkannt werden kann. Das erfordert es, bei der Büroorganisation sicherzustellen, dass solche gerichtlichen Beschlüsse dem Rechtsanwalt bzw. dem/der sachbearbeitenden juristischen Mitarbeiter/in der Behörde unverzüglich vorgelegt werden. Das kann etwa durch Vorlage gleich bei Eingang (Eingangsmappe) oder durch Vorlage zusammen mit der zugehörigen Akte erfolgen, sofern im letzteren Fall sichergestellt ist, dass die Akten mit den vorzulegenden Eingängen nicht mit dem sonstigen Aktenumlauf vermischt werden und dadurch übersehen werden können.

12

Die Beklagte meint zwar, sie verfüge über eine "geordnete Büroorganisation". Abgesehen davon, dass das bereits die Wertung enthält, die der Senat vorzunehmen hat, lässt sich dem Vorbringen der Beklagten aber nicht entnehmen, dass bei ihr die Vorlage derartiger Eingänge wie hier des Berufungszulassungsbeschlusses bei dem/der Sachbearbeiter/in durch die organisatorischen Maßnahmen hinreichend sichergestellt ist. Wenn der eingegangene Beschluss nicht nur - erstens - einer falschen Akte zugeordnet wird, sondern - zweitens - die Akte dann auch nicht mit dem eingegangenen Schriftstück vorgelegt, statt dessen vielmehr einfach weggehängt wird, erscheint eine zuverlässige Büroorganisation nicht als gewährleistet.

13

Zwar lassen sich auch bei sorgfältigster Büroorganisation Bearbeitungsfehler nicht völlig ausschließen. Um ein Verschulden i.S. des § 60 Abs. 1 VwGO ausschließen zu können, müssen aber wenigstens die regulären Büroabläufe nachvollzogen werden können, die mit dem konkreten Vorgang befassten Personen benannt und deren Kontrolle erläutert werden. Auch diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Beklagten nicht.

14

Lediglich ergänzend merkt der Senat in diesem Zusammenhang an, dass er bereits mit Beschluss vom 4. Juli 2000 (4 L 1538/00 = Az. 30.1-50-999-44/99 der Beklagten) eine Berufung, deren Zulassung die Beklagte erstritten hatte, verworfen hat, da die Beklagte - dort allerdings ohne Angabe von Gründen - die Berufung nicht begründet hat.