Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.06.2012, Az.: 2 LA 185/12
Anforderungen der Rechtsprechung an die Organisation eines Anwaltsbüros zur Vermeidung der Versäumung von Fristen
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 29.06.2012
- Aktenzeichen
- 2 LA 185/12
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 19672
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2012:0629.2LA185.12.0A
Rechtsgrundlage
- § 124a Abs. 4 S. 4 VwGO
Redaktioneller Leitsatz
Erfolgt die Zustellung eines Urteils mit Empfangsbekenntnis, darf der Rechtsanwalt dieses erst unterzeichnen und zurückgeben, wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert wurde. Anderenfalls genügt es auch, wenn die für die Berechnung der Fristen eingesetzte Bürokraft ihre Berechnung zeitnah durch den Rechtsanwalt überprüfen lässt. Diese Grundsätze gelten auch für die Frist zur Begründung eines Zulassungsantrages.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unzulässig, weil er nicht fristgerecht begründet worden ist. Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen (§ 124a Abs. 4 Satz 5 VwGO). Das Urteil vom 13. März 2012 ist im Büro des Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 21. März 2012 eingegangen; am 22. März 2012 hat er das Empfangsbekenntnis unterzeichnet. Mithin ist die Frist zur Begründung des Zulassungsantrags am 22. Mai 2012 abgelaufen. Innerhalb dieser Frist ist eine Begründung des Zulassungsantrags beim Oberverwaltungsgericht nicht eingegangen, sondern - auf gerichtliche Nachfrage - erst am 12. Juni 2012.
Der zugleich gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat keinen Erfolg. Dabei kann unterstellt werden, dass die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen richtig sind. Mit ihnen und dem Schriftsatz vom 12. Juni 2012 ist jedoch eine hinreichende Büroorganisation nicht dargetan.
Hiernach ist eine Rechtsanwaltsfachangestellte, die in der Kanzlei seit über 10 Jahren beschäftigt ist, angewiesen, bei Eingang gerichtlicher Schreiben zu überprüfen, ob eine Frist einzuhalten ist und - wenn dies der Fall ist - diese Frist sowie eine Vorfrist von einer Woche vor Fristablauf in das Fristenbuch einzutragen. Sie hat die Eintragung dann auch auf dem Handaktenvorblatt vorzunehmen. Das sei seit Jahren beanstandungsfrei erfolgt, wobei der Prozessbevollmächtigte hervorhebt, die Rechtsanwaltsfachangestellte sei sorgfältig ausgewählt, angeleitet und überwacht worden und äußerst zuverlässig.
Aus Anlass der Eingangsbestätigung des Oberverwaltungsgerichts für den Antrag auf Zulassung der Berufung, die er am 30. April 2012 erhalten habe, habe er die Rechtsanwaltsfachangestellte bei der Übergabe der Post ausdrücklich auf dieses Schreiben hingewiesen und sie angewiesen, die bei Antragseinlegung zu notierende Antragsbegründungsfrist zu überprüfen und als verbindlichen Ablauf der Antragsbegründungsfrist den 22.5.2012 sowie die einwöchige Vorfrist zu notieren, sofern diese Daten nicht bereits notiert seien. Diese Eintragung habe die Rechtsanwaltsfachangestellte jedoch aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen versäumt.
Die Berechnung der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bereite ihm und seinem Büro keine besonderen Schwierigkeiten und weise auch keine Besonderheiten auf, weil er mit einer Vielzahl von verwaltungsrechtlichen Gerichtsverfahren betraut sei, insbesondere auch vor den Oberverwaltungsgerichten.
Das erfüllt indes nicht die Anforderungen, welche die Rechtsprechung an die Organisation eines Anwaltsbüros stellt.
Erfolgt die Zustellung des Urteils - wie hier - mit Empfangsbekenntnis, darf der Rechtsanwalt dieses erst unterzeichnen und zurückgeben, wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist (vgl.BVerwG, Beschl. v. 23.6.2011 - 1 B 7.11 -, [...]; BGH in ständiger Rechtsprechung, z.B. Beschl. v. 2.2.2010 - VI ZB 58/09 -, NJW 2010, 1080). Anderenfalls genügt es auch, wenn die für die Berechnung der Fristen eingesetzte Bürokraft ihre Berechnung zeitnah durch den Rechtsanwalt überprüfen lässt (vgl. im Einzelnen BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - 3 C 21.11 -, [...]). Dafür ist hier nichts vorgetragen; nach den eidesstattlichen Versicherungen nimmt die Rechtsanwaltsfachangestellte die Eintragung der Fristen selbständig vor und wird insoweit nur regelmäßig kontrolliert.
Zwar bezieht sich diese Rechtsprechung unmittelbar auf die Rechtsbehelfsfrist; für die Frist zur Begründung eines Zulassungsantrages kann aber nichts anderes gelten. Im Regelfall darf die Berechnung dieser Frist nicht Büroangestellten überlassen werden (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 4.11.2008 - 4 LC 234/07 -, NJW 2009, 615; OVG Münster, Beschl. v. 12.8.2011 - 1 A 2050/09 -, NJW 2011, 3465; OVG Saarlouis, Beschl. v. 31.8.2011 - 2 A 272/11 -, NJW 2012, 100 im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Berechnung der Frist zur Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde nach § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO, vgl. Beschl. v. 23.6.2011 - 1 B 7.11 -, [...]). Nur dann, wenn sich die Abwicklung solcher Verfahren nach den konkreten Verhältnissen in der Rechtsanwaltskanzlei als Routineangelegenheit darstellt - wie hier geltend gemacht wird -, sind geringere Anforderungen zu stellen, allerdings nur in dem Sinne, dass der Anwalt die Frist nicht selbst berechnen muss, sondern sich auf eine Überprüfung beschränken kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - 3 C 21.11 -, [...]). Die zugrunde liegenden Erwägungen zu den besonderen Schwierigkeiten der Berechnung solcher Fristen machen deutlich, dass insoweit auch in Bezug auf die Büroorganisation in gleicher Weise Vorsorge gegen Fehler getroffen werden muss wie bei der Rechtsmittelfrist selbst. Auch diese Frist ist deshalb regelmäßig unmittelbar bei Eingang der potentiell mit Rechtsmittel anzugreifenden Entscheidung zu berechnen und einzutragen, d.h. vor Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses oder mit zeitnaher Überprüfung durch den Rechtsanwalt. Es genügt nicht, diesen Vorgang zu einem späteren Zeitpunkt - etwa nach der Entscheidung über die Einlegung des Rechtsmittels - nachzuholen.
Auch die vom Rechtsanwalt nach Eingangsbestätigung durch das Oberverwaltungsgericht zutreffend erteilte Einzelanweisung reichte hier für sich genommen nicht aus, um die bereits vorher eingetretenen Defizite auszugleichen. Die genannte Eingangsbestätigung hatte für die Fristberechnung selbst keine Aussagekraft. Sie bestätigte nicht einmal den maßgeblichen Zeitpunkt des Eingangs des Zulassungsantrags beim Verwaltungsgericht, sondern nur den Eingang der Gerichtsakten beim Oberverwaltungsgericht. Als genereller Anknüpfungspunkt für die Vornahme von Fristberechungen oder Überprüfungen sind solche Eingangsbestätigungen deshalb nicht geeignet, zumal ihre regelmäßige Übermittlung nicht durch besondere Vorkehrungen sichergestellt ist.
Grundsätzlich darf ein Rechtsanwalt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allerdings darauf vertrauen, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt. Er ist im allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung seiner Weisung zu vergewissern. Eine konkrete Einzelanweisung kann den Rechtsanwalt jedoch nicht stets von einer unzureichenden Büroorganisation entlasten. Betrifft sie einen so wichtigen Vorgang wie die Eintragung einer Rechtsmittelfrist und wird sie nur mündlich erteilt, müssen in der Kanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass die Anweisung in Vergessenheit gerät und die Fristeintragung unterbleibt. In einem solchen Fall bedeutet das Fehlen jeder Sicherung einen entscheidenden Organisationsmangel (vgl. BGH, Beschl. v. 15.5.2012 - VI ZB 27/11 -, [...]; vgl. im Übrigen auch Senatsbeschl. v. 20.1.2010 - 2 NB 400/09 u.a. -, NJW 2010, 1391). Auch im vorliegenden Fall fehlten ausreichende Sicherungen sowohl im Zeitpunkt des Eingangs der angegriffenen Entscheidung als auch im Zeitpunkt der Erteilung der Einzelanweisung, denn der Anwalt hat zu keinem der beiden Zeitpunkte eine eigene Überprüfung der erforderlichen Fristeintragungen vorgenommen.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).