Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 17.01.2003, Az.: 2 ME 16/03

Vorläufiger Rechtsschutz im Prüfungsrecht; Vorläufige Zulassung zur mündlichen Prüfung im Rahmen der ersten juristischen Staatsprüfung ; Vorwegnahme der Hauptsache; Verfahren der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache; Verfahren der Folgenabwägung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
17.01.2003
Aktenzeichen
2 ME 16/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 22584
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2003:0117.2ME16.03.0A

Fundstellen

  • NdsVBl 2003, 132-133
  • NordÖR 2003, 124-125 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

Eine vorläufige Zulassung zur mündlichen Prüfung kann ohne Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache allein auf Grund einer Folgenabwägung (Abwägung der widerstreitenden Interessen) einstweilen angeordnet werden.

Gründe

1

Die nach § 146 Absätze 1 und 4 VwGO zulässige Beschwerde hat Erfolg.

2

Der Antragsgegner ist nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO verpflichtet, die Antragstellerin nach Maßgabe des Tenors vorläufig zur mündlichen Prüfung im Rahmen der ersten juristischen Staatsprüfung zuzulassen. Dadurch wird die Hauptsache nicht vorweggenommen (BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 12.3.1999 - 1 BvR - 355/99 -, NVwZ 1999, 866, 867 [BVerfG 12.03.1999 - 1 BvR 355/99] unter Verweis auf BVerwG, Urt. v. 15.12.1993 - BVerwG 6 C 20. 92 -, BVerwGE 94, 352, 356 [BVerwG 15.12.1993 - 6 C 20/92]; vgl. auch VG Schwerin, Beschl. v. 17.11.2000 - 7 B 859/00 -, in: juris). Die durch die einstweilige Anordnung vermittelte Rechtsposition entfällt rückwirkend, wenn die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren verliert (BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 25.7.1996 - 1 BvR 638/96 -, NVwZ 1997, 479, 481) [BVerfG 25.07.1996 - 1 BvR 638/96].

3

Das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 25.7.1996, a.a.O., S. 480 f) hat für den vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 VwGO u.a. im Prüfungsrecht zwei voneinander unabhängige Verfahren für zulässig erachtet, nämlich das Verfahren der Folgenabwägung (Abwägung der widerstreitenden Interessen) ohne Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache und das Verfahren der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Im Verfahren der Folgenabwägung verpflichtet der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verankerte Anspruch des Bürgers auf eine tatsächliche und rechtlich wirksame Kontrolle die Gerichte, bei ihrer Entscheidungsfindung diejenigen Folgen zu erwägen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Bürger verbunden sind. Je schwerer die sich daraus ergebenden Belastungen wiegen, je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden (BVerfG, Beschl. v. 25.7.1996, a.a.O., S. 480 m.w.Nw. ). Führen die Gerichte indessen eine Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache durch, sind sie gemäß Art. 19 Abs. 4 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes jedenfalls dann auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen, wenn diese Versagung zu schweren und unzumutbaren Nachteilen führt. Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht. Dann verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, dass sich die Gerichte auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes mit berechtigten Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit und damit Gültigkeit von entscheidungserheblichen Normen sowie mit den Möglichkeiten ihrer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung auseinandersetzen (BVerfG, a.a.O., S. 480).

4

Während das Verwaltungsgericht das Verfahren der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gewählt hat, entscheidet sich der beschließende Senat für das Verfahren der Folgenabwägung. Diese Wahlmöglichkeit steht dem Senat offen. Denn das Bundesverfassungsgericht (a.a.O., S. 480) hat ausdrücklich ausgeführt, dass den Gerichten "ein anderes Verfahren offensteht", wenn sie - beispielsweise wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit - es für untunlich halten, Rechtsfragen vertiefend zu behandeln. Nur insofern würden die Anforderungen des Verfahrens der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache die Gerichte nicht unzumutbar belasten (BVerfG, a.a.O., S. 480).

5

Der Senat hält das Verfahren der Folgenabwägung im vorliegenden Falle insbesondere deswegen für geboten, weil die Antragstellerin nur wegen eines fehlenden halben Punktes an der Zulassung zur mündlichen Prüfung im Rahmen der ersten juristischen Staatsprüfung gescheitert ist. Sie hat statt der nach § 14 Abs. 1 Nr. 2a) NJAG erforderlichen elf Punkte lediglich 10,5 Punkte erreicht. Dieser tatsächliche Umstand würde im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG nach der erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine besonders sorgfältige Durchprüfung der Sach- und Rechtslage hinsichtlich der einzelnen Klausurbewertungen wie in der Hauptsache erfordern, wozu sich der Senat angesichts der gebotenen Eile und der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht in der Lage sieht.

6

Eine unter dem Gesichtspunkt von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht zu beanstandende Folgenabwägung muss zum einen die grundrechtlich geschützte Position der Antragstellerin, zum anderen den Umstand einbeziehen, dass die Teilnahme an einer Prüfung auf Grund einer einstweiligen Anordnung auf eigenes Risiko erfolgt (BVerfG, a.a.O., S. 481).

7

Danach fällt die Abwägung der Folgen zu Gunsten der Antragstellerin aus. Würde sie in der Hauptsache Recht erhalten und nicht einstweilen zur mündlichen Prüfung zugelassen werden, dann würde sich ihre Ausbildung erheblich verzögern. Sie wäre gehalten, prüfungsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand zu halten, obwohl ihre Situation durch die Ungewissheit über den weiteren Werdegang gekennzeichnet ist (BVerfG, a.a.O., S. 481). Die Verzögerung einer Berufszugangsprüfung um ein Jahr stellt einen schweren Nachteil im Sinne des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO dar (BVerfG, Beschl. v. 12.3.1999, a.a.O., S. 867 zu § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO). Im vorliegenden Falle hat die Antragstellerin ihre Aufsichtsarbeiten im Oktober 2001 geschrieben, so dass nunmehr schon mehr als ein Jahr verstrichen ist. Der Antragstellerin ist es daher nicht länger zuzumuten, ihr prüfungsrelevantes Wissen auf dem aktuellen Stand bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu halten.

8

Auf der anderen Seite fällt demgegenüber nicht entscheidungserheblich ins Gewicht, dass die Antragstellerin auf Grund der einstweiligen Anordnung die mündliche Prüfung jetzt vorläufig ablegen und später in der Hauptsache unterliegen kann. Hier gilt, dass die Teilnahme an einer Prüfung auf Grund einer einstweiligen Anordnung auf eigenes Risiko erfolgt. Die durch die einstweilige Anordnung vermittelte Rechtsposition entfällt rückwirkend, wenn die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren verlieren würde (BVerfG, Beschl. v. 25.7.1996, a.a.O., S. 481).

9

Nach allem kommt es im Rahmen der Folgenabwägung auf etwaige "berechtigte Zweifel" (BVerfG, Beschl. v. 25.7.1996, a.a.O., S. 480) an der Richtigkeit der Prüfungsentscheidung entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht an. Die Antragstellerin sei daher nur vorsorglich darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 9.6.1995 - BVerwG 6 B 100. 94 -, Buchholz 421. 0 Prüfungswesen Nr. 350) die Nichtbestehensregelung des § 14 Abs. 1 Nr. 2a) NJAG wohl keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen dürfte.