Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.01.2003, Az.: 13 ME 28/03
Abschiebung; Abschiebungshindernis; Aufenthaltserlaubnis; Ausländer; Duldung; Duldungsanspruch; Ehe; Familie; Lebensgemeinschaft; Versagungsgrund
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 16.01.2003
- Aktenzeichen
- 13 ME 28/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48484
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 18.11.2002 - AZ: 6 B 548/02
Rechtsgrundlagen
- § 23 Abs 1 Nr 1 AuslG
- § 17 Abs 1 AuslG
- § 17 Abs 5 AuslG
- § 8 Abs 2 AuslG
- § 23 Abs 3 AuslG
- § 55 Abs 2 AuslG
- Art 6 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK bieten unmittelbar einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
2. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, die in einer Gefährdung der familiären Lebensgemeinschaft und der Ehe generell ein inlandsbezogenes, einem Vollzug der Abschiebung entgegenstehendes Hindernis sieht, das einen Anspruch auf Duldung begründet, begegnet Bedenken.
3. Eine Abschiebung ist jedenfalls dann unbedenklich, sofern besondere Umstände fehlen, die eine vorübergehende Trennung unzumutbar erscheinen lassen.
Gründe
Die Beschwerde hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Antragsgegnerin zu Unrecht verpflichtet, dem Antragsteller im Wege einer einstweiligen Anordnung eine ausländerrechtliche Duldung zu erteilen, um sich bei seiner in ihrem Bezirk lebenden Ehefrau aufhalten zu dürfen.
Nach §146 Abs. 4 Satz 6 VwGO prüft das Oberverwaltungsgericht (im Beschwerdeverfahren) nur die dargelegten Gründe. Dies bedarf hier deshalb besonderer Erwähnung, weil die Antragsgegnerin die umfassenden rechtlichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts lediglich in einem Punkt angreift, mit dem sich das VG gewissermaßen nur am Rande befasst hat. Mit der Beschwerde tritt die Antragsgegnerin nämlich allein der Annahme des VG entgegen, die materiellen Voraussetzungen für die begehrte Duldung seien erfüllt. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist also insbesondere nicht die Frage, ob der Erteilung der begehrten Duldung entgegensteht, dass dem Antragsteller seitens des Beigeladenen bereits eine Duldung erteilt worden ist, die ihm wegen der beigefügten räumlichen Beschränkung jedoch ein Zusammenleben mit seiner Ehefrau in Niedersachsen nicht ermöglicht, oder ob der Erteilung der begehrten Duldung das besondere öffentliche Interesse, Binnenwanderungen zu vermeiden, entgegensteht. Ferner hat die Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren auch nicht die Frage aufgegriffen, ob die vom Antragsteller geschlossene Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen nicht lediglich dem Zweck dienen soll, ihm einen Aufenthaltsstatus zu verschaffen, weshalb diese Ehe rechtlich nicht schutzwürdig wäre.
Die Antragsgegnerin begründet ihre Beschwerde vielmehr allein unter dem Gesichtspunkt, dass die Erteilung einer (weiteren) Duldung an den Antragsteller eine unzulässige Regelung eines Daueraufenthalts darstelle, und deshalb nicht das geeignete rechtliche Mittel sei, um die eheliche Lebensgemeinschaft herzustellen. Dieser Auffassung ist im Ergebnis zu folgen.
Für das einstweilige Rechtsschutzverfahren ist davon auszugehen, dass der ausländische Antragsteller mit einer Deutschen verheiratet ist und diese Ehe im Bundesgebiet am Wohnort seiner Ehefrau in Braunschweig führen will. Dafür sieht das Ausländergesetz einen Anspruch des Ausländers auf eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG nach Maßgabe des § 17 Abs. 1 AuslG vor. Einem Ausländer, der ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, darf indessen nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs eine Aufenthaltsgenehmigung nicht erteilt werden. Die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 23 Abs. 1 AuslG kann nach ganz überwiegender und auch überzeugender Auffassung neben § 17 Abs. 5 AuslG, der in § 23 Abs. 3 AuslG ausdrücklich genannt ist, auch aus den Gründen des § 8 AuslG versagt werden (Hailbronner, AuslR, § 23 AuslG, Rdnrn. 7, 10a u.H. auf Renner, AuslR, § 23 AuslG, Rdnr. 10; Hess. VGH, DVBl. 1926, 216; DVBl. 1994, 69; Thür. OVG, Beschl. v. 5.11.1998 - 3 ZEO 954/98 -; a.A. OVG MV, NVwZ-RR 1997, 256 [OVG Mecklenburg-Vorpommern 20.09.1996 - 2 M 11/96]). Der Auffassung des OVG MV folgt der Senat ausdrücklich nicht; denn diese hätte zur Folge, dass die Visumsvorschriften in den Fällen des Familiennachzugs nicht durchsetzbar wären (vgl. auch Hailbronner, aaO, Rdnr. 10a).
Im Falle des Antragstellers liegt der besondere Versagungsgrund des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG vor. Er ist nämlich im Januar 2000 in seine Heimat abgeschoben worden, ungeachtet der Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG bereits drei Monate später erneut in das Bundesgebiet - und zwar unerlaubt - eingereist und hält sich hier seitdem ohne Erlaubnis auf. Der Beigeladene hatte die erneute Abschiebung des Antragstellers bereits veranlasst. Das Vollstreckungsverfahren ist lediglich im Hinblick auf das anhängige einstweilige Rechtsschutzverfahren unterbrochen worden.
Angesichts dieser Rechtslage hat das Verwaltungsgericht infolge der vom Antragsteller mit einer Deutschen geschlossenen Ehe die Unmöglichkeit seiner Abschiebung aus rechtlichen Gründen im Sinne des § 55 Abs. 2 AuslG angenommen und deshalb einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung bejaht. Dem folgt der Senat nicht. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts steht nicht im Einklang mit der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 51, 386, 396 f.; 80, 81, 93) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwGE 98, 31, 46; 105, 35, 39 m.w.N.) gewähren weder Art. 6 GG, noch Art. 8 EMRK unmittelbar einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den ausländischen Ehegatten. Die entscheidende Behörde hat allerdings die familiären Bindungen eines Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten - insbesondere also Deutsche -, bei der Anwendung offener Tatbestände und bei der Ermessensausübung pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz von Ehe und Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (BVerwGE 105, 35, 39 f u.H. auf BVerfGE 80, 81, 93).
Diese angemessene Berücksichtigung der familiären Bindungen des Ausländers erfordern indessen nicht, dass einer Wahrung der Familieneinheit in der Bundesrepublik Deutschland im Ergebnis in jedem Falle - wie offenbar das Verwaltungsgericht meint - der Vorrang einzuräumen wäre, notfalls unter Inanspruchnahme rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten, die diesem Zweck ersichtlich nicht dienen. So verfährt mittlerweile nicht selten aber die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, indem sie in einer Gefährdung der familiären Lebensgemeinschaft und der Ehe generell ein inlandsbezogenes, einem Vollzug der Abschiebung entgegenstehendes Hindernis erblickt, das einen Anspruch auf Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG begründet (vgl. Hailbronner, aaO, § 55 AuslG, Rdnr. 16). Da die Duldung indessen die zeitweise Aussetzung der Abschiebung bedeutet (§ 55 Abs. 1 AuslG), sie insbesondere nach der Neuregelung des Ausländerrechts durch das Ausländergesetz 1990 nicht mehr als zweitrangiges Aufenthaltsrecht dienen sollte, kann der Duldung nicht die Funktion eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts zugebilligt werden (BVerwGE 105, 35, 43 m.w.N.). Dies gilt umso mehr, als die Duldung nicht einen aufenthaltsrechtlichen Status vermittelt, der dem Anliegen des Familiennachzugs gerecht würde (BVerwG, aaO).
Die obergerichtliche Rechtsprechung setzt sich teilweise über derartige dogmatische Bedenken hinweg und bejaht einen Anspruch des Ausländers auf Erteilung einer Duldung jedenfalls in den Fällen, in denen über den bloßen Bestand der Ehe bzw. der familiären Lebensgemeinschaft hinaus besondere Umstände ersichtlich sind, die selbst eine vorübergehende Trennung der Familienangehörigen als unzumutbar erscheinen lassen (VGH BW, Beschl. vom 19.4.2001 - 13 S 555/01 -, InfAuslR 2001, 381; VGH BW, Beschl. vom 9.7.2002 - 11 S 2240/01 -; VGH BW, Beschl. vom 5.7.1999 - 13 S 1101/99 -, InfAuslR 1999, 495). Derartige besondere Umstände bejahen die genannten Entscheidungen im Verhältnis von Eltern und kleinen Kindern, bei Ehegatten aufgrund individueller Besonderheiten, etwa Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder psychischer Not und bei der Angewiesenheit auf Lebenshilfe aufgrund besonderer Umstände.
Im Rahmen dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens lässt es der Senat ausdrücklich offen, ob oder in welchem Umfang dieser Spruchpraxis gefolgt werden soll. Bedenken bestehen insbesondere im Hinblick auf die Entscheidung des VGH BW vom 5. Juli 1999 (InfAuslR 1999, 495 [VGH Baden-Württemberg 05.07.1999 - 13 S 1101/99]). Denn dort ist ausdrücklich ausgeführt, dass der Duldungsanspruch nach § 55 Abs. 2 AuslG solange bestehe, wie die Voraussetzungen des Abschiebungshindernisses vorlägen. Sei dies auf Dauer der Fall, sei die Abschiebung auch auf Dauer rechtlich unmöglich mit der Folge eines entsprechenden Duldungsanspruchs. Die Duldung sei in derartigen Fällen daher immer wieder zu erneuern (VGH BW, aaO, S. 497). Aus den dargelegten Gründen müssen dieser Rechtsauffassung, die im Übrigen höchstrichterlich, soweit ersichtlich, auch bisher nicht bestätigt worden ist, Bedenken entgegengebracht werden. Der Senat kann die aufgeworfene Frage im vorliegenden Verfahren aber offen lassen, weil es darauf für die Entscheidung nicht ankommt.
Im Falle des Antragstellers bestehen nämlich keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme besonderer Umstände, die selbst eine vorübergehende Trennung der Eheleute unzumutbar erscheinen lassen. Sie sind vom Antragsteller auch nicht geltend gemacht worden. Der Antragsteller darf daher darauf verwiesen werden, die der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung in seinem Fall entgegenstehenden Gründe zunächst zu beseitigen, indem er die Befristung des wegen seiner Abschiebung eingetretenen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG beantragt und den entsprechenden Beginn des Fristenlaufs durch seine Ausreise herbeiführt (§ 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG).