Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 16.07.2004, Az.: 1 B 52/04
Diplomarbeit; Erfolgsaussicht; Fachbereich; Folgenabwägung; Grundrechtsschutz; Hauptsache; Interessenabwägung; Prüfungsausschuss; Vorwegnahme der Hauptsache; Vorwegnahmeverbot
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 16.07.2004
- Aktenzeichen
- 1 B 52/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 50876
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 123 VwGO
- Art 12 Abs 1 GG
- Art 19 Abs 4 GG
- § 24 Abs 3 DiplPrO ND
Gründe
I.
Die Klägerin studiert seit dem Wintersemester 1998/1999 im Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Antragsgegnerin den Studiengang Betriebswirtschaftslehre (BWL). Mit Bescheid vom 10. Juli 2002 teilte der Vorsitzende des Prüfungsausschusses des Fachbereichs der Antragstellerin mit, dass sie die Diplomvorprüfung wegen nicht ausreichender Prüfungsleistungen endgültig nicht bestanden habe. Der Widerspruch der Antragstellerin wurde mit Bescheid vom 5. Dezember 2002 zurückgewiesen, mit Urteil vom 10. Dezember 2002 wies die erkennende Kammer die Klage - 1 A 333/02 - hiergegen zurück. Über den Antrag der Antragstellerin auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil hat das Nds. OVG - 2 LA 823/04 - bisher noch nicht entschieden.
Unter dem 18. Juni 2004 beantragte sie gegenüber dem Prüfungsausschuss des Fachbereiches Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Antragsgegnerin, sie vorläufig zur Diplomarbeit mit dem im Tenor genannten Thema zuzulassen. Diesen Antrag lehnte der Vorsitzende des Prüfungsausschusses mit Bescheid vom 25. Juni 2004 ab. Zur Begründung führte er an, dass gemäß § 24 Abs. 1 Ziffer 2 DPO zur Diplomprüfung nur zugelassen werden könne, wer die Diplomvorprüfung im Studiengang BWL bestanden habe. Wegen der noch ausstehenden endgültigen Klärung im Klage- und Widerspruchsverfahren zu zwei Prüfungsleistungen habe die Antragstellerin ihr Vordiplom bisher nicht bestanden. Damit sei die Zulassungsvoraussetzung gemäß § 24 DPO nicht erfüllt. Eine Ausnahme bestehe gemäß § 24 Abs. 3 DPO nur für die vorläufige Zulassung zu den Fachprüfungen des Diploms. Über den Widerspruch der Antragstellerin gegen diesen Bescheid ist bisher noch nicht entschieden.
Am 14. Juli 2004 hat die Antragstellerin um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Das Gericht kann gemäß § 123 Abs. 1 VwGO eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO - Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn die Regelung - insbesondere bei dauernden Rechtsverhältnissen - zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO - Regelungsanordnung). Beide Formen der einstweiligen Anordnung setzen voraus, dass sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht werden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Auflage 2003, § 123 Rdnr. 6). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
Zunächst ist festzuhalten, dass der Verpflichtung, die Antragstellerin vorläufig zur Diplomarbeit zuzulassen, das sog. Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache nicht entgegensteht. Denn durch die vorläufige Zulassung zur Diplomarbeit erlangt die Antragstellerin lediglich eine für sie unsichere Rechtsposition. Der Erlass der einstweiligen Anordnung ist für sie mit einem Anordnungsrisiko verbunden. Sofern die Sach- und Rechtslage im Hauptsacheverfahren anders beurteilt und die Klage rechtskräftig abgewiesen wird, verliert der Prüfling seine vorläufig erlangte Rechtsposition - und zwar selbst dann, wenn er zwischenzeitlich die Prüfung bestanden hat (BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 12.3.1999 - 1 BvR 355/99 -, NVwZ 1999, 866, 867 und Beschl. v. 25.7.1996 - 1 BvR 638/96 -, NVwZ 1997, 479, 481; BVerwG, Urt. v. 15.12.1993 - 6 C 20.92 -, BVerwGE 94, 352, 356 = NJW 1994, 1601).
Angesichts des Umstandes, dass nicht absehbar ist, wann eine Entscheidung in dem Verfahren 2 LA 823/04 vor dem Nds. Oberverwaltungsgericht ergehen wird, und der Fortgang des Studiums der Antragstellerin sich daher in der Zwischenzeit um einen nicht unerhebliche Zeitraum verzögert, sie - wie die Kammer mit Beschlüssen vom 8. Juli 2003 (1 B 30/03) und 19. November 2003 (1 B 57/03) festgestellt hat - aber in dieser Zwischenzeit gezwungen ist, gemäß §§ 11, 13 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 NHG Studiengebühren ohne die Möglichkeit eines Erlasses nach § 14 Abs. 2 NHG zu zahlen, ist ein Anordnungsgrund gegeben.
Die Antragstellerin hat den erforderlichen Anordnungsanspruch ebenfalls hinreichend glaubhaft gemacht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (Beschl. v. 25.7.1996 - 1 BvR 638/96 -, a. a. O.), dem das Nds. Oberverwaltungsgericht für das Prüfungsrecht gefolgt ist (Nds. OVG, Beschl. v. 17.1.2003 -2 ME 16/03 -), bestehen für den vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO u. a. im Prüfungsrecht alternativ zwei voneinander unabhängige Verfahren für eine derartige Prüfung: Zum einen das Verfahren der Folgenabwägung ohne Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache und zum anderen das Verfahren der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Im Verfahren der Folgenabwägung verpflichtet der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verankerte Anspruch des Bürgers auf eine tatsächliche und rechtlich wirksame Kontrolle die Gerichte, bei ihrer Entscheidungsfindung diejenigen Folgen zu erwägen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Bürger verbunden sind. Je schwerer die sich daraus ergebenden Belastungen wiegen, je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Fall des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Führen die Gerichte indessen eine Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache durch, sind sie gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes jedenfalls dann auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen, wenn diese Versagung zu schweren und unzumutbaren Nachteilen führt. Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht. Dann verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, dass sich die Gerichte auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes mit berechtigten Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit und damit Gültigkeit von entscheidungserheblichen Normen sowie mit den Möglichkeiten ihrer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung auseinandersetzen.
Im vorliegenden Fall hält die Kammer das Verfahren der Folgenabwägung für geboten. Zwar hat sie im Urteil vom 10. Dezember 2003 - 1 A 333/02 - ausgesprochen, dass die Antragstellerin die Diplomvorprüfung endgültig nicht bestanden hat und diese - so ist zu ergänzen - an sich auch nicht (jedenfalls nicht endgültig) zur Diplomprüfung zugelassen werden kann. Dieses Urteil ist zum einen aber noch nicht rechtskräftig. Zum anderen besteht vor allem aber selbst nach § 24 Abs. 3 Satz 1 der Diplomprüfungsordnung für den Studiengang Betriebswirtschaftslehre (DPO) selbst in dem hier vorliegenden Fall, dass der Prüfling die Diplomvorprüfung nicht bestanden ist, die Möglichkeit, die vorläufige Zulassung zur Diplomprüfung nach § 25 Abs. 8 DPO zu beantragen. Nach § 24 Abs. 3 Satz 2 DPO berechtigt diese vorläufige Zulassung zwar nur zur Teilnahme an einem Teil der Diplomprüfung, nämlich den Fachprüfungen. Nicht möglich ist hiernach hingegen die hier erstrebte Zulassung zu der Diplomarbeit als dem zweiten Teil der Diplomprüfung (vgl. § 23 Abs. 1 DPO). Nach der im vorliegenden Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung ist gerade unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 Abs. 1 GG die Rechtmäßigkeit einer derartige Differenzierung aber nicht ohne Weiteres ersichtlich. Dies gilt um so mehr, als die Klägerin ihr Studium trotz der bisherigen Feststellung, dass sie die Diplomvorprüfung endgültig nicht bestanden hat, im Einverständnis der Antragsgegnerin fortgesetzt und inzwischen im Hauptstudium bereits 109 von insgesamt erforderlichen 120 Bonuspunkten erworben hat. Dass sie hierbei auch bereits die zulässige Anzahl an Maluspunkten überschritten hat, so dass die Antragsgegnerin ihr mit - allerdings ebenfalls noch nicht rechtskräftigem - Bescheid das Nichtbestehen der Diplomprüfung mitgeteilt hat, fällt bei der Interessenabwägung dagegen nicht entscheidungserheblich ins Gewicht. Der in diesem Zusammenhang erfolgte Hinweis der Antragsgegnerin auf den Beschluss der Kammer vom 20. Januar 2003 - 1 B 85/02 - (dort S. 4 BA) greift schon deshalb nicht durch, weil die Kammer hier nur die nach der Diplomprüfungsordnung bestehende Möglichkeit der vorläufigen Zulassung zur Diplomprüfung mit der Folge der Berechtigung der Teilnahme (nur) an den Fachprüfungen des Hauptstudiums referiert hat, ohne diese Beschränkung im Einzelnen überprüft und für rechtmäßig erklärt zu haben.
Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist bei der somit vorzunehmenden Interessenabwägung zum einen die grundrechtlich geschützte Position der Antragstellerin und zum anderen der Umstand einzubeziehen, dass die Teilnahme an einer Prüfung oder einem Teil einer Prüfung auf Grund einer einstweiligen Anordnung auf eigenes Risiko erfolgt. Die demnach erforderliche Interessenabwägung fällt zugunsten der Antragstellerin aus. Würde sie in der Hauptsache Recht erhalten und nicht einstweilen zur Diplomarbeit zugelassen werden, würde sich ihre Ausbildung erheblich verzögern - zumal sie nach ihren glaubhaften Angaben bereits viel Zeit und Mühe in das von ihr gewählte Diplomthema gesteckt und Kontakte zur Wirtschaft geknüpft hat. Sie wäre gehalten, prüfungsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten sowie die angebahnten Kontakte auf dem aktuellen Stand zu halten, obwohl ihre Situation durch die Ungewissheit über den weiteren Werdegang gekennzeichnet ist. Ihr ist es daher nicht länger zuzumuten, mit der Fertigung der Diplomarbeit bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu warten.
Auf der anderen Seite fällt demgegenüber nicht entscheidungserheblich ins Gewicht, dass die Antragstellerin auf Grund der einstweiligen Anordnung die Diplomarbeit jetzt vorläufig ablegen und später in der Hauptsache unterliegen kann. Hier gilt der bereits mehrfach genannte Grundsatz, dass die Teilnahme an einer Prüfung oder an Teilen einer Prüfung auf Grund einer einstweiligen Anordnung auf eigenes Risiko erfolgt und die hierdurch vermittelte Rechtsposition rückwirkend entfällt, wenn die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren verlieren würde.
Entscheidungserhebliche entgegenstehende Interessen der Antragsgegnerin sind von dieser hingegen weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 2 GKG.