Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.11.2001, Az.: 4 LB 2522/01

Anrechnung; Bedarfsdeckung; Bedarfsmonat; Eilfall; Einkommen; Einkommensgrenze; Frist; Kenntnis; Kostenerstattung; Nothelfer; Opferentschädigung; Schätzung; Sozialhilfe; Sozialhilfeträger; Taxifahrer; Trinkgeld; Träger der Sozialhilfe; Vermögen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.11.2001
Aktenzeichen
4 LB 2522/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 40417
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 22.12.2000 - AZ: 3 A 5559/97

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Prüfung der Frage, ob der Träger der Sozialhilfe bei rechtzeitiger Kenntnis von dem Eilfall Hilfe - an Stelle des Nothelfers - gewährt haben würde, ist auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Hilfeempfängers im Bedarfsmonat abzustellen. Die Höhe von Trinkgeldeinnahmen eines Taxifahrers kann geschätzt werden. Bei stationärer Krankenhausbehandlung ist das die Einkommensgrenze des § 79 BSHG übersteigende Einkommen nach Maßgabe des § 84 Abs. 1 BSHG einzusetzen. Mögliche Ansprüche des Hilfeempfängers nach dem Opferentschädigungsgesetz sind keine "bereiten Mittel" zur Bedarfsdeckung.

Gründe

II.

1

Der Senat kann gemäß § 130 a VwGO über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn er sie einstimmig für begründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Beteiligten sind zu der Absicht des Senats, durch Beschluss zu entscheiden, gehört worden.

2

Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Beklagte als Rechtsnachfolgerin der Landeshauptstadt H. in deren Eigenschaft als örtliche Trägerin der Sozialhilfe ist verpflichtet, die Kosten der Behandlung des Herrn C. in dem Krankenhaus der Klägerin aus Sozialhilfemitteln zu übernehmen.

3

Gemäß § 121 Satz 1 BSHG sind, wenn jemand in einem Eilfall einem anderen Hilfe gewährt hat, die der Träger der Sozialhilfe bei rechtzeitiger Kenntnis nach diesem Gesetz gewährt haben würde, ihm auf Antrag die Aufwendungen in gebotenem Umfang zu erstatten. Diese Voraussetzungen sind hier zugunsten der Klägerin erfüllt.

4

Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass es sich bei der Behandlung des Kieferbruchs um einen Eilfall gehandelt habe und dass die Klägerin auch den Antrag auf Übernahme der Kosten durch die damals noch zuständig gewesene Landeshauptstadt H. innerhalb angemessener Frist im Sinne des § 121 Satz 2 BSHG gestellt habe.

5

Der Senat teilt aber nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts, Herr C. habe zur Zeit der Behandlung über hinreichendes Einkommen verfügt, um für die Behandlungskosten aufzukommen, so dass die Landeshauptstadt H. als Rechtsvorgängerin der Beklagten auch bei rechtzeitiger Kenntnis von dem Behandlungsfall nicht Hilfe nach dem BSHG hätte leisten müssen.

6

Herr C. hat bei seiner Vernehmung als Zeuge gemäß dem Vernehmungsprotokoll (Bl. 91 d. GA) angegeben, seinerzeit monatliche Einkünfte von 1.400,-- DM brutto (nicht: netto, wie es aber in dem angefochtenen Urteil heißt) aus seiner Tätigkeit als angestellter Taxifahrer gehabt zu haben. Seine monatlichen Unterkunftskosten betrugen 435,-- DM. Aus diesen Einkünften konnte er den laufenden Lebensunterhalt decken, so dass - entgegen der Meinung der Beklagten - nicht Anlass zu der Annahme besteht, er habe weitere verdeckte Einkünfte gehabt. Anhaltspunkte dafür, dass er zusätzlich eine prozentuale Beteiligung an den Einnahmen erhalten habe, wie die Beklagte mutmaßt, oder noch Trinkgelder hinzuzurechnen wären, liegen nicht vor. Dass Herr C. nicht bei der Krankenversicherung angemeldet war, bedeutet umgekehrt nicht, dass er nicht Einkünfte in der von ihm genannten Höhe gehabt hätte.

7

Herrn C. war aber bei Berücksichtigung der für die Hilfe in besonderen Lebenslagen geltenden Einkommensgrenze gemäß § 79 Abs. 1 BSHG nicht zuzumuten, für die Kosten der Behandlung im Krankenhaus (insgesamt 6.417,75 DM) aufzukommen, so dass die Landeshauptstadt H. insoweit bei rechtzeitiger Kenntnis zur Hilfeleistung verpflichtet gewesen wäre. Das ergibt sich aus folgender Übersicht:

8

Bedarf des Klägers im August 1994 für den Lebensunterhalt

9

Regelsatz Haushaltsvorstand

10

520,00 DM

11

Unterkunft

12

435,00 DM

13

955,00 DM

14

einzusetzendes Einkommen des Klägers zur Zeit der Behandlung im August 1994 (bei Lohnfortzahlung während der Krankheitszeit)

15

Einkommen mtl. brutto

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1.400,00 DM

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abzgl. Steuern

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-32,50 DM

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Abzug KV entfällt, da nicht gezahlt;

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sonstige Abzüge u. Werb.-Kosten nicht bekannt

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verfügbares Nettoeinkommen

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1.367,50 DM

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allg. Einkommensgrenze n. § 79 Abs. 1 BSHG ab 1. Juli 1994

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999,00 DM (Nr.1) + 435,00 DM (Nr. 2)

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1.434,00 DM

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einzusetzendes über der Eink.-Grenze liegendes Einkommen

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0,00 DM

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Auf den Einsatz von unterhalb der Einkommensgrenze liegendem Einkommen nach § 85 BSHG hätte Herr C. nicht verwiesen werden können.

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Etwas Anderes ergäbe sich auch dann nicht, wenn man zu dem von Herrn C. angegebenen Einkommen noch Trinkgelder hinzurechnete und den Ausfall der Trinkgelder in der Zeit des Krankenhausaufenthalts vernachlässigte. Für diese Vergleichsberechnung bedarf es nicht weiterer Ermittlungen, vielmehr genügt eine Schätzung. Dabei lassen sich nicht Erfahrungswerte, wie sie etwa für Bedienungspersonal in Gaststätten angenommen werden, zugrunde legen, da dort je nach Art des Betriebes mit einer bestimmten Kundschaft gerechnet und dementsprechend die Trinkgelder höher oder niedriger angenommen werden können. Dagegen sind Trinkgeldeinnahmen bei Taxifahrern von Zufälligkeiten bestimmt (Zahl der Fahrten pro Schicht, finanzielle Situation der Fahrgäste, Witterungsbedingungen usw.). Der Senat legt deshalb hier der Berechnung mögliche zusätzliche Trinkgeldeinnahmen - bezogen auf die Verhältnisse im Jahr 1994 - in Höhe von

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180,-- DM monatlich zugrunde (wie LG Osnabrück, Beschl. v. 12.6.1998 - 7 T 72/98 -, FamRZ 1999, 946 = JurBüro 1999, 214). Damit ergibt sich ein verfügbares monatliches Nettoeinkommen in Höhe von 1.547,50 DM, das um 113,50 DM über der Einkommensgrenze liegt. Selbst wenn man von Herrn C. erwartete, dass er diesen Betrag nicht nur in angemessenem Umfang (§ 84 Abs. 1 BSHG), sondern ganz einsetzte, könnte er davon nicht die Kosten der Behandlung im Krankenhaus aufbringen. Denn einzusetzen wäre hier allenfalls das über der Einkommensgrenze liegende Einkommen des Bedarfsmonats August 1994. § 84 Abs. 3 BSHG, der den Einsatz des Einkommens aus mehreren Monaten regelt, ist hier nicht einschlägig.

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Ohne Erfolg beruft sich die Beklagte darauf, dass einem Anspruch des Herrn C. auf Gewährung von Leistungen nach dem BSHG deren Nachrangigkeit gegenüber Ansprüchen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG -) entgegenstehe. Zwar sind Ansprüche nach dem BSHG gegenüber solchen nach dem OEG gemäß § 2 BSHG nachrangig (vgl. BSG, Urt. v. 22.4.1998 - B 9 VG 6/96 R -, BSGE 82, 112 = FEVS Bd. 49, 281). Bei einem eventuellen Anspruch des Herrn C. auf Leistungen nach dem OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) handelte es sich aber nicht um ein sog. "bereites Mittel", das geeignet gewesen wäre, seinen Bedarf auf Deckung der Behandlungskosten rechtzeitig zu befriedigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.10.1993 - BVerwG 5 C 38.92 -, NDV 1994, 152 = DVBl. 1994, 425 = FEVS Bd.44, 225; Beschl. v. 13.5.1996 - BVerwG 5 B 52.96 -, Buchholz 436.0 § 2 BSHG Nr. 20). Der Bedarf ist jedenfalls entstanden, als die Klägerin ihm die Behandlung in Rechnung gestellt hat, was bereits vor dem 13. Februar 1995 geschehen ist, wie sich aus dem Antrag der Klägerin von diesem Tag an die Landeshauptstadt Hannover ergibt. Selbst wenn Herr C. bereits bei der Aufnahme in das Krankenhaus einen Antrag auf Leistungen nach dem OEG gestellt hätte, wäre nicht damit zu rechnen gewesen, dass kurzfristig eine positive Entscheidung ergangen wäre. Denn hierfür wäre es nötig gewesen festzustellen, dass in seinem Fall nicht nur die speziellen Voraussetzungen für Leistungen an ausländische Staatsangehörige (§ 1 Abs. 4 u. 5 OEG), sondern vor allem die Grundvoraussetzung des § 1 Abs. 1 OEG erfüllt war, dass er nämlich "infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat" und ferner die Schädigung nicht selbst "verursacht" hat und die Gewährung einer Entschädigung auch nicht aus sonstigen Gründen unbillig wäre (§ 2 OEG). Dass diese Feststellung kurzfristig, insbesondere noch vor dem Vorliegen des Urteils des Amtsgerichts vom 18. Januar 1996 in dem Strafverfahren gegen einen der Täter hätte getroffen werden können, ist nicht ersichtlich. Die Landeshauptstadt H. als damalige Sozialhilfeträgerin war deshalb hier verpflichtet, angesichts der Notlage des Herrn C. Hilfe zu gewähren (zu der Möglichkeit des Sozialhilfeträgers, in derartigen Fällen die Kostenerstattung von dem für die Leistungen nach dem OEG zuständigen Träger zu betreiben, vgl. BSG, Urt. v. 22.4.1998 - B 9 VG 6/96R -, a.a.O.).

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Die Landeshauptstadt H. hätte nach alledem bei rechtzeitiger Kenntnis von dem Bedarf des Herrn C. Hilfe leisten müssen. Die Beklagte als Rechtsnachfolgerin der Landeshauptstadt H. ist somit zur Übernahme der geltend gemachten Behandlungskosten verpflichtet (§ 121 BSHG).

33

Der Zinsanspruch (beginnend sechs Monate nach Eingang des vorsorglich gestellten Kostenübernahmeantrags vom 7.10.1994, also mit dem 7.4.1995) folgt aus § 44 SGB I.

34

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10 ZPO