Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.05.2020, Az.: 2 LA 686/19

beBPO; Divergenzrüge; Fristversäumnis; offenkundiger Formmangel; ordnungsgemäßer Geschäftsgang; prozessuale Fürsorgepflicht; sicherer Übermittlungsweg; Verschulden; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Wiedereinsetzung von Amts wegen; Zulassungsantragsfrist

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.05.2020
Aktenzeichen
2 LA 686/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71997
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 16.09.2019 - AZ: 2 A 7882/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die sich aus dem Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf ein faires gerichtliches Verfahren ergebende prozessuale Fürsorgepflicht verpflichtet die Gerichte, auf offenkundige Formmängel eines bestimmenden Schriftsatzes - hier: Mangel bei der elektronischen Übermittlung - hinzuweisen. Deshalb sind die Gerichte gehalten, im ordnungsgemäßen Geschäftsgang die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um eine drohende Fristversäumung zu vermeiden.
2. Unterbleibt ein gebotener Hinweis, ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Hinweis des Gerichts bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang so rechtzeitig hätte erfolgen können und müssen, dass eine Fristwahrung noch möglich gewesen wäre.

Tenor:

Auf den Antrag der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichter der 2. Kammer - vom 16. September 2019 zugelassen.

Das Berufungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen

2 LB 239/20

geführt.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts ist zulässig (dazu 1.) und begründet (dazu 2.).

1. Der Antrag ist im Ergebnis zulässig. Die Beklagte hat zwar die einmonatige Frist gemäß § 78 Abs. 4 Satz 1 und 2 AsylG zur Einreichung und Begründung des Zulassungsantrages versäumt (dazu a), auf ihren Antrag ist ihr aber Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (dazu b).

a) Der Antrag der Beklagten ist nicht formgerecht in der Monatsfrist des § 78 Abs. 4 Satz 1 und 4 AsylG gestellt und begründet worden. Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. September 2019 wurde der Beklagten ausweislich ihres Empfangsbekenntnisses am 19. September 2019 zugestellt. Die Frist zur Stellung des Zulassungsantrags und dessen Begründung lief mithin am 21. Oktober 2019, einem Montag, ab. Innerhalb dieser Frist ist bei dem Verwaltungsgericht ausweislich des Transfervermerks zwar am 8. Oktober 2019 um 13.01 Uhr der auf denselben Tag datierte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung eingegangen. Dieser Antrag wurde allerdings nicht formwirksam, nämlich ausschließlich als elektronisches Dokument ohne qualifizierte elektronische Signatur über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP), eingereicht. Die Beklagte hat es damit versäumt, den Antrag auf Zulassung der Berufung gemäß § 55a Abs. 1 VwGO nach Maßgabe der Absätze 2 und 6 in Verbindung mit den Bestimmungen der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung) - im Folgenden: ERVV - als elektronisches Dokument bei dem Verwaltungsgericht einzureichen. Sie hat ihren Zulassungsantrag weder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur im Sinne des § 55a Abs. 3 Alt. 1 in Verbindung mit § 4 ERVV versehen, noch hat sie ihn auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 55a Abs. 3 Alt. 2, Abs. 4 VwGO, der über das besondere elektronische Behördenpostfach die Übermittlung ohne qualifizierte Signatur erlaubt, eingereicht (vgl. hierzu ausführlich Senatsbeschl. v. 6.5.2020 - 2 LA 722/19 -, juris Rn. 3 ff. m.w.N.).

b) Der Beklagten ist aber gemäß § 60 Abs. 1 VwGO im Ergebnis Wiedereinsetzung in die Antragsfrist des § 78 Abs. 4 Satz 1 und 4 AsylG zu gewähren.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt nach § 60 Abs. 1 VwGO voraus, dass der Betroffene ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Wiedereinsetzungsantrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen; bei Versäumung der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung beträgt die Frist einen Monat (§ 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Die Wiedereinsetzungsgründe, d. h. sämtliche Umstände, die für die Frage von Bedeutung sind, auf welche Weise und durch wessen Verschulden es zu der Fristversäumnis gekommen ist, müssen grundsätzlich innerhalb der Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO dargelegt werden. Erforderlich ist eine rechtzeitige substantiierte und schlüssige Darstellung der für die unverschuldete Fristsäumnis wesentlichen Tatsachen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.6.2017 - 1 B 113.17 u. a. -, juris Rn. 5). Nachgeholt werden kann im Verfahren nach § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO nur die Glaubhaftmachung der fristgerecht dargelegten Tatsachen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 6.12.2000 - 2 B 57.00 -, juris Rn. 3 m. w. N.). Zudem ist gemäß § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO innerhalb der Antragsfrist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Wenn dies geschehen ist, kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag von Amts wegen gewährt werden (§ 60 Abs. 2 Satz 4 VwGO). Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann - wenn wie hier der Rechtsstreit bereits in der zweiten Instanz anhängig ist - auch bei dem Gericht gestellt werden, das über die versäumte Rechtshandlung zu befinden hat. Dies gilt auch für die versäumte Prozesshandlung und zwar auch dann, wenn für diese Prozesshandlung
- wie hier in § 78 Abs. 4 Satz 2 AsylG - vorgeschrieben ist, dass diese in der ersten Instanz zu stellen ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 3.1.1961 - III ER 414.60 -, NJW 1961, 573, juris; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 238).

Die Beklagte hat zwar innerhalb der Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO keine durchgreifenden Gründe vorgebracht, aus denen sich ergibt, dass sie ohne Verschulden verhindert gewesen ist, die Frist zur formwirksamen Einlegung und Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung einzuhalten (dazu aa). Ihr ist aber wegen eines kausalen Verstoßes des Senats gegen die ihm der Beklagten gegenüber obliegende prozessuale Fürsorgepflicht von Amts Wiedereinsetzung zu gewähren (dazu bb).

aa) Die Beklagte hat in der Begründung ihres Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom 29. November 2019 innerhalb der Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht substantiiert und schlüssig Gründe dargelegt, aus denen sich ergibt, dass sie ohne Verschulden verhindert gewesen ist, die Frist zur formwirksamen Einlegung und Begründung ihres Zulassungsantrags einzuhalten. Ihr ist vielmehr in dem Bereich der elektronischen Kommunikation mit Gerichten unter Nutzung eines sicheren Übermittlungswegs - hier: besonderes elektronisches Behördenpostfach (beBPO) - ein Organisationsversagen vorzuhalten, weil sie in dem maßgeblichen Zeitraum über keine wirksame Ausgangskontrolle verfügte. Zur näheren Begründung verweist der Senat auf seinen Beschluss vom 6. Mai 2020 (- 2 LA 722/19 -, juris Rn. 16 ff. m.w.N.).

bb) Ungeachtet dessen ist der Beklagten aber von Amts wegen Wiedereinsetzung in die versäumte Antragsfrist zu gewähren.

Die sich aus dem Anspruch der Prozessbeteiligten auf ein faires gerichtliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) ergebende prozessuale Fürsorgepflicht verpflichtet die Gerichte, auf offenkundige Formmängel eines bestimmenden Schriftsatzes hinzuweisen. Prozessbeteiligte können deshalb erwarten, dass solche Mängel vom Gericht in angemessener Zeit bemerkt und im ordnungsgemäßen Geschäftsgang die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumung zu vermeiden. Zur sofortigen Prüfung solcher Formalien sind die Gerichte jedoch nicht generell verpflichtet, weil dies die Prozessbeteiligten von ihrer eigenen Verantwortung für deren Einhaltung entheben würde. Unterbleibt ein danach gebotener Hinweis, ist deshalb Wiedereinsetzung in eine versäumte Frist nur zu gewähren, wenn der Hinweis bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang so rechtzeitig hätte erfolgen können und müssen, dass eine Fristwahrung noch möglich gewesen wäre. Das gilt nicht nur für offenkundige Mängel der Schriftform, sondern auch für Mängel bei der elektronischen Übermittlung, sofern der Mangel dem Transfervermerk, Prüfprotokoll oder nunmehr dem Prüfvermerk ohne weiteres entnommen werden kann (vgl. hierzu SächsOVG, Beschl. v. 16.12.2019 - 4 A 1158/19.A -, juris Rn. 16 m.w.N.; Ulrich, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Juli 2019, § 55a Rn. 103 m.w.N.). So liegt es hier.

Die Gerichtsakten sind von dem Verwaltungsgericht übersandt und beim Oberverwaltungsgericht am 17. Oktober 2019, einem Donnerstag, und damit drei Arbeitstage vor Ablauf der Antragsfrist am 21. Oktober 2019, einem Montag, eingegangen. Daher hatte der beschließende Senat im ordentlichen Geschäftsgang noch ausreichend Zeit, den ordnungsgemäßen Eingang des Zulassungsantrags der Beklagten zu überprüfen. Bei dieser Prüfung hätte er den Mangel bei der elektronischen Übermittlung insbesondere anhand des Transfervermerks ohne Weiteres feststellen und die Beklagte noch rechtzeitig vor Fristablauf hierauf aufmerksam machen können und müssen.

Die Beklagte hat in ihrem Schriftsatz vom 29. November 2019 - vorab per Fax mit handschriftlicher Unterschrift und zusätzlich per EGVG mit dem Transfervermerk „sicherer Übermittlungsweg aus einem besonderen Behördenpostfach“ am selben Tag beim Senat eingegangen - zudem ausdrücklich beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen und die Klage des Klägers abzuweisen. Zugleich hat sie in diesem Schriftsatz ihren Zulassungsantrag in einer den Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Weise begründet. Die Frist des § 60 Abs. 2 VwGO ist gewahrt, da die Beklagte nach ihrem glaubhaften Vortrag erstmals am 15. November 2019 Kenntnis von dem Übermittlungsfehler erlangt hat.

2. Der Antrag hat in der Sache Erfolg. Die Berufung ist wegen Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) zuzulassen, weil das Verwaltungsgericht die aufgeworfene Tatsachenfrage, ob Wehrdienstentziehung ohne ein Hinzutreten individueller Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgung wegen der politischen Überzeugung führt, abweichend von dem Urteil des Senats vom 27. Juni 2017 (- 2 LB 91/17 -, juris; zuletzt bestätigt durch Senatsbeschl. v. 16.1.2020 - 2 LB 731/19 -, juris) beantwortet hat und die Entscheidung auf der Abweichung beruht.

Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG). Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, oder in elektronischer Form nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des 2. Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 6 VwGO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).