Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 01.03.2013, Az.: 12 Sa 1169/12

Tariflicher Sonderkündigungsschutz für ältere Beschäftigte in der Textilindustrie Westfalen; Betriebsbedingte Kündigung bei unsubstantiierten Darlegungen der Arbeitgeberin zur Unmöglichkeit der Weiterbeschäftigung

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
01.03.2013
Aktenzeichen
12 Sa 1169/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 35873
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2013:0301.12SA1169.12.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BAG - 05.06.2014 - AZ: 2 AZR 418/13

Amtlicher Leitsatz

Eine Durchbrechung des tariflichen Sonderkündigungsschutzes für ältere Arbeitnehmer in der Textilindustrie Westfalen in "anderen sachlich begründeten Fällen" findet nicht stets dann statt, wenn die kündigungsauslösende Maßnahme die Qualität eine Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG hat. Vorraussetzung ist vielmehr, dass die Weiterbeschäftigung der zur Kündigung ausgewählten älteren Arbeitnehmer in einem Maße erschwert oder unmöglich ist, wie dies bei Betriebsstilllegungen oder Betriebsteilstilllegungen der Fall ist.

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 12.09.2012 - 4 Ca 156/12 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung, die die Beklagte dem Kläger gegenüber mit Schreiben vom 29.03.2012 ausgesprochen hat.

Der am 00.00.1952 geborene, verheiratete Kläger war seit dem 19.04.1993 bei der Beklagten als Maschinenführer zuletzt zu einem Bruttomonatseinkommen von ca. 2.500,00 € beschäftigt. Der Kläger war im Bereich Ausrüstung tätig. Dort war er eingesetzt an der Senge, an der Babcock und an der Benninger-Waschmaschine.

Im Frühjahr 2012 beschäftigte die Beklagte noch ca. 225 Arbeitsnehmerinnen und Arbeitnehmer. Bei der Beklagten ist ein Betriebsrat gebildet.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der "Tarifvertrag zur Sicherung älterer Arbeitnehmer" vom 23. Mai 1974 Anwendung, welcher zwischen dem Verband der Textilindustrie Westfalen und der damaligen Gewerkschaft Textil-Bekleidung B-Stadt abgeschlossen worden ist (künftig: TV-Sicherung). § 2 dieses Tarifvertrages lautet:

"Kündigungsschutz

1. Einem gewerblichen Arbeitnehmer kann nach Vollendung des 55. Lebensjahres und einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit von mindestens zehn Jahren bis zur Bewilligung des Altersruhegeldes, längstens jedoch bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres das Beschäftigungsverhältnis nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden.

Bei Betriebsstilllegungen ist die ordentliche Kündigung erst zum Zeitpunkt der endgültigen Produktionseinstellung zulässig.

2. Wenn der Betriebsrat nicht widerspricht, kann von Ziffer 1 abgewichen werden:

a) bei Stilllegung wesentlicher Betriebsteile,

b) in anderen sachlich begründeten Fällen.

Erhebt der Betriebsrat Widerspruch, so hat er diesen sachlich zu begründen. Kommt zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat keine Einigung zustande, so werden die Tarifparteien angerufen. Bleiben auch deren Einigungsbemühungen erfolglos, so steht der Rechtsweg offen. (...)"

Vor dem Hintergrund einer deutlich verringerten Auslastung der Produktionsanlagen der Beklagten unterzeichneten die Betriebsparteien am 28.03.2012 einen Interessenausgleich mit Namensliste. Die "Namensliste Kündigungen" weist 50 zu kündigende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer namentlich aus. Der Kläger ist als Ziffer 1 der Namensliste aufgeführt.

Mit Schreiben vom 29.03.2012 kündigte die Beklagte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis unter Bezugnahme auf die tarifliche Kündigungsfrist mit Wirkung zum 31.05.2012. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner am 13.04.2012 bei Gericht eingegangen Kündigungsschutzklage. Seit dem 01.06.2012 bezieht der Kläger Arbeitslosengeld.

Der Kläger hat bestritten, dass sein Arbeitsplatz weggefallen sei und dass die Beklagte eine ordnungsgemäße Sozialauswahl durchgeführt habe. Insbesondere der zum Kündigungszeitpunkt des Klägers erst 43 Jahre alte Mitarbeiter A. weise eine erheblich kürzere Betriebszugehörigkeit auf und sei damit sozial deutlich weniger schützenswert. Der Kläger hat die ordnungsgemäße Durchführung der Betriebsratsanhörung, das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige sowie die feste Verbindung zwischen dem Interessenausgleich und der Namensliste bestritten. Der Kläger hat sich auf den besonderen Kündigungsschutz nach dem TV-Sicherung berufen.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 29.03.2012 nicht beendet worden ist,

2. im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Maschinenführer weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat sich auf die Vermutungswirkung des § 1 Abs. 5 KSchG berufen. Ausweislich des Interessenausgleichs vom 28.03.2012 seien in der Abteilung Ausrüstung aufgrund betriebsorganisatorischer Maßnahmen insgesamt fünf Arbeitsplätze entfallen. Die vorgenommene Sozialauswahl sei nicht grob fehlerhaft. Mit gegebenenfalls sozial weniger schutzwürdigen Arbeitnehmern sei der Kläger nicht vergleichbar, da er nicht über eine entsprechende Verwendungsbreite an den verschiedenen Maschinen im Bereich der Ausrüstung verfüge. Die Betriebsratsanhörung habe der Zeuge S. am 27. und 28.03.2012 ordnungsgemäß gegenüber dem Betriebsratsvorsitzenden L. durchgeführt. Die erforderliche Massenentlassungsanzeige sei ausweislich der Bestätigung der Bundesagentur für Arbeit vom 29.03.2012 ordnungsgemäß erstattet worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens in erster Instanz wird auf die dort gewechselten Schriftsätze sowie das Sitzungsprotokoll vom 12.09.2012 verwiesen.

Mit Urteil vom 12.09.2012 hat das Arbeitsgericht Osnabrück der Klage vollumfänglich stattgegeben. Diese Entscheidung wurde am 18.09.2012 an die Prozessbevollmächtigten der Beklagten zugestellt. Die hiergegen gerichtete Berufungsschrift ist am 21.09.2012 beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Die Berufungsbegründung ist am 08.11.2012 und damit noch vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 19.11.2012 beim Landesarbeitsgericht eingegangen.

Zur Begründung der Berufung macht die Beklagte geltend, dass der vom Kläger geltend gemachte tarifliche Sonderkündigungsschutz im vorliegenden Fall durchbrochen werde, da ein Fall des § 2 Ziffer 2 b) TV-Sicherung vorliege. Der Betriebsrat habe dem Kündigungsbegehren des Arbeitgebers nicht widersprochen und es liege ein entsprechender "sachlich begründeter" Ausnahmefall im Sinne der Tarifvorschrift vor. Die Beklagte habe die Voraussetzungen einer Betriebseinschränkung im Sinne von § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG dargelegt. Vor dem Hintergrund der tatsächlich ausgesprochenen 43 Kündigungen sei der maßgebliche Schwellenwert deutlich überschritten. Zur weiteren Begründung ihrer Berufung macht die Beklagte sich die Rechtsauffassung des Landesarbeitsgerichts Hamm im Urteil vom 21.07.2005 (4 Sa 695/05) zu eigen, wonach ein sachlich begründeter Ausnahmefall im Sinne der Tarifvorschrift immer dann vorliege, wenn der Arbeitgeber zu einer Betriebsänderung im Sinne von § 111 BetrVG gezwungen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 12.09.2012 - 4 Ca 156/12 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und vertritt die Auffassung, dass ein Ausnahmetatbestand im Sinne von § 2 Ziffer 2 b) des TV-Sicherung nur vorliegen würde, wenn die tatsächliche Weiterbeschäftigung des für die Kündigung in Betracht gezogenen Arbeitnehmers in der Weise erschwert oder unmöglich sei, wie dies im Falle einer Betriebsstilllegung oder Betriebsteilstilllegung der Fall sei. Im konkreten Fall bestehe der bisherige Arbeitsplatz des Klägers in der Ausrüstung unverändert fort. Der Kläger bestreitet weiterhin die Durchführung einer ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung und das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige. Der Kläger rügt, dass die Beklagte ihre Erwägungen zur Sozialauswahl nicht ausreichend dargelegt habe. Die Beklagte habe noch nicht einmal vollständig offengelegt, welche Arbeitnehmer sie in der Abteilung Ausrüstung beschäftige.

Ergänzend wird auf die in der Berufungsinstanz zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und das Protokoll der Kammerverhandlung am 01.03.2013 verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

I. Die Berufung der Beklagten ist gemäß § 64 Abs. 1 Buchstabe c ArbGG statthaft. Sie ist auch gemäß den §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519 Abs. 1, 520 ZPO in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden. Die Berufung setzt sich insbesondere mit der tragenden Begründung des Arbeitsgerichts auseinander, dass die streitbefangene Kündigung am tariflichen Sonderkündigungsschutz gemäß § 2 TV-Sicherung scheitere.

II. Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht ist das Arbeitsgericht davon ausgegangen, dass der Beklagten eine ordentliche Kündigung des Klägers mit Rücksicht auf § 2 TV-Sicherung verwehrt ist.

1. Der Kläger unterfällt dem Anwendungsbereich des besonderen Kündigungsschutzes nach § 2 TV-Sicherung. Er ist ein "gewerblicher Arbeitnehmer" im Sinne dieser Vorschrift und hatte zum Kündigungszeitpunkt bereits das 60. Lebensjahr vollendet. Dabei blickt der Kläger auf eine fast 19-jährige Betriebszugehörigkeit bei der Beklagten zurück. Dem Kläger ist noch kein Altersruhegeld bewilligt und er hat auch das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet. Eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund hat die Beklagte gegenüber dem Kläger nicht ausgesprochen. Der Ausnahmetatbestand der Betriebsstilllegung) gemäß § 2 Ziffer 1 Satz 2 TV-Sicherung liegt unstreitig nicht vor.

2. Auch auf den Ausnahmetatbestand des § 2 Ziffer 2 a) TV-Sicherung (Stilllegung wesentlicher Betriebsteile) kann sich die Beklagte nicht berufen. Der Interessenausgleich vom 28.03.2012 sieht zwar die Stilllegung der Weberei in A-Stadt zum 20.07.2012 vor. Unstreitig ist der Kläger in diesem Betriebsteil nicht beschäftigt gewesen. Insofern kann die Frage, ob es sich bei der Weberei, der nur fünf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugeordnet waren, um einen "wesentlichen" Betriebsteil gehandelt hat, dahinstehen. Bei der Auflösung der Abteilung "Haus und Hof" handelt es sich zum einen nicht um die Stilllegung eines wesentlichen Betriebsteils und zum anderen war der Kläger auch dieser Abteilung nicht zugeordnet.

3. In Betracht käme daher allenfalls eine Durchbrechung des besonderen Kündigungsschutzes, wenn ein "anderer sachlich begründeter Fall" vorliegen würde. Die zusätzlich nach § 2 Ziffer 2 TV-Sicherung erforderliche Zustimmung des Betriebsrates liegt vor.

a) Die Auslegung eines Tarifvertrages hat wie die Auslegung eines Gesetzes zunächst vom Wortlaut auszugehen und über den reinen Wortlaut hinaus den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien und den damit von ihnen beabsichtigten Sinn und Zweck der Tarifnorm zu berücksichtigen, sofern die Vorstellungen der Parteien in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Dabei ist insbesondere auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, weil sich häufig nur daraus und nicht aus den einzelnen Tarifnormen auf den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien schließen lässt. Verbleiben nach der Berücksichtigung dieser Auslegungskriterien noch Zweifel an der wirklichen Bedeutung einer Tarifnorm, dann kann zur Ermittlung des Willens der Tarifvertragsparteien auf weitere Kriterien wie auf die Entstehungsgeschichte und die praktische Tarifübung zurückgegriffen werden.

b) In einer Entscheidung vom 08.08.1985 hat das Bundesarbeitsgericht (2 AZR 464/84, AP Nr. 10 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl) zu dem sehr ähnlich formulierten "Schwestertarifvertrag" für den Landesteil Nordrhein des Landes Nordrhein-Westfalen vom 08. Mai 1974 die Auffassung vertreten hat, der Sonderkündigungsschutz sei schon dann aufgehoben, wenn die Kündigung mit einer durch eine Rationalisierungsmaßnahme bedingten Personalreduzierung begründet wird, die nach § 111 BetrVG eine Betriebsänderung mit wesentlichen Nachteilen für die Belegschaft ist und nach § 112 BetrVG zu einem Sozialplan geführt hat. In seiner damaligen Entscheidung hat sich das Bundesarbeitsgericht auch auf ein Schreiben der tarifschließenden Gewerkschaft gestützt, die geltend gemacht hat, dass man für die älteren Arbeitnehmer die Möglichkeit der Inanspruchnahme der damaligen "59er-Regelung" vor Augen gehabt habe. Damit man in den Betrieben im Interesse einer gesunden Altersstruktur, natürlich unter Berücksichtigung von vernünftigen Abfindungsbeträgen, auch ältere Arbeitnehmer "freisetzen" könne, habe die Gewerkschaft für den Fall der Betriebsschließung hinaus die Kündigung solcher Personen möglich machen müssen (BAG 08.08.1985 aaO. Rn. 30). Das LAG Hamm hat mit Urteil vom 21.07.2005 (4 Sa 695/05, zitiert nach [...]) bezüglich des hier maßgeblichen Tarifvertrags die Auffassung vertreten, dass als "andere sachlich begründete Fälle" alle Konstellationen akzeptiert werden können, in denen eine Betriebsänderung im Sinne von § 111 Satz 3 BetrVG vorliegt.

c) Dieser Auslegung folgt das LAG Niedersachsen nicht. Eine Durchbrechung des besonderen Kündigungsschutzes für ältere Arbeitnehmer in der Textilindustrie kommt "in anderen sachlich begründeten Fällten" nur in Konstellationen in Betracht, in denen die Weiterbeschäftigung der zur Kündigung ausgewählten älteren Arbeitnehmer in einem Maße erschwert oder unmöglich ist, wie dies bei Betriebsstillegungen oder Betriebsteilstilllegungen der Fall ist.

Der Wortlaut des unbestimmten Rechtsbegriffs "in anderen sachlich begründeten Fällen" ist wenig ergiebig. Der von der Beklagten ins Feld geführte Kündigungsgrund des Personalüberhangs von fünf Maschinenbedienern in der Abteilung Ausrüstung ließe sich hierunter subsumieren. Die Anforderungen, die an das Vorliegen eines "anderen sachlich begründeten Falles" zu stellen sind, lassen sich erst im Wege der systematischen Auslegung entwickeln. Dabei ist zu beachten, dass für Kündigungen im Bereich des Kündigungsschutzgesetzes nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG ohnehin "dringende betriebliche Erfordernisse" vorliegen müssen, die einer Weiterbeschäftigung des zu kündigenden Arbeitnehmers in dem Betrieb entgegenstehen. Dieses Schutzniveau war bereits durch das Kündigungsschutzgesetz in der Fassung gewährleistet, die im Jahr 1974 zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des TV-Sicherung galt. Der dabei zwischen den Tarifparteien vereinbarte Sonderkündigungsschutz ergibt nur Sinn, wenn davon ausgegangen wird, dass mit dem TV-Sicherung das Schutzniveau über das allgemeine Schutzniveau des Kündigungsschutzgesetzes hinaus angehoben werden sollte.

Ferner geben die nach dem Tarifvertrag explizit zugelassenen Ausnahmen (Betriebsstilllegung und Betriebsteilstilllegung bei Zustimmung des Betriebsrates) einen Anhaltspunkt für das angestrebte Schutzniveau. In den genannten Situationen bestehen für den Arbeitgeber besondere Schwierigkeiten, für den tariflich "unkündbaren" Arbeitnehmer eine andere Beschäftigungsmöglichkeit zu finden. Die aufgeführten Beispiele lassen erkennen, dass gesteigerte Anforderungen an das Vorliegen eines Kündigungsgrundes zu stellen sind. Die Verwendung des Zusatzes "anderen" deutet darauf hin, dass es sich um Kündigungsgründe von vergleichbarem Gewicht handeln muss (LAG Hamm 20.09.2001, 16 Sa 1915/00, zitiert nach [...] Rn. 63).

Der in § 2 TV-Sicherung normierte Sonderkündigungsschutz ist ausweislich seiner Ziff. 1 mit einem gesicherten Übergang in den Rentenbezug verknüpft. Der Sonderkündigungsschutz endet spätestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres oder früher, wenn Altersruhegeld bewilligt ist. Mit Schreiben vom 20.04.1983 hat die Gewerkschaft Textil-Bekleidung zu der fraglichen Tarifnorm die Auffassung vertreten, dass eine Durchbrechung des Sonderkündigungsschutzes hingenommen werde könne, wenn die Arbeitnehmer von einer entsprechenden Vorruhestandsregelung ("59er-Regelung") Gebrauch machen können und etwaige Nachteile durch "vernünftige Abfindungsbeträge" kompensiert werden.

Eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Katalog des § 111 Satz 3 BetrVG haben die Tarifvertragsparteien in § 2 TV-Sicherung nicht hergestellt. Sie haben vielmehr selektiv die Betriebsstilllegung und die Betriebsteilstilllegung als Fälle der Durchbrechung des tariflichen Kündigungsschutzes geregelt. Gerade Betriebsstilllegungen und Betriebsteilstilllegungen führen dazu, dass dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung von Arbeitnehmern mit bestimmten Qualifikationen in ihrer ursprünglichen Position objektiv unmöglich wird. Wenn ein Betrieb beispielsweise seinen Fuhrpark/seine Auslieferung vollständig stilllegt, so ist die Beschäftigung von Berufskraftfahrern in dieser Funktion künftig unmöglich. Hier mag ferner an eine Durchbrechung des tariflichen Sonderkündigungsschutzes gedacht werden, selbst wenn der Fuhrpark eines produzierenden Unternehmens so klein ist, dass er nicht dem Tatbestandsmerkmal eines "wesentlichen Betriebsteils" entspricht. Hier wäre ein "anderer sachlich begründeter Fall" gegeben. Etwas anderes gilt indes im Falle einer Betriebsänderung im Sinne von § 111 Satz 3 Ziffer 2 BetrVG: Bei einer Verlegung eines Produktionsbetriebes von einem Ende einer Großstadt zum anderen läge zwar eine entsprechende Betriebsverlagerung vor, warum dies indes Grund sein soll, die Kündigung von Arbeitnehmern zuzulassen, die das 55. Lebensjahr vollendet haben und mehr als 10 Jahre im Betrieb beschäftigt sind, ist nicht nachvollziehbar. Das durch die Konstellationen Betriebsstilllegung und Teilbetriebsstilllegung vorgegebene Schutzniveau ist dahingehend zu konkretisieren, dass ein "anderer sachlich begründeter Fall" nur vorliegt, wenn es objektiv zwingende Gründe gibt, die eine Weiterbeschäftigung des tariflich besonders geschützten Arbeitnehmers in einem Maße unmöglich machen oder extrem erschweren würden, wie es typischerweise bei Betriebsstilllegungen oder Betriebssteilstilllegungen erreicht wird.

d) Dieses Gewicht haben die von der Beklagten ins Feld geführten Kündigungsgründe nicht. Selbst wenn zu Gunsten der Beklagten unterstellt wird, dass sich in der Abteilung Ausrüstung ein Personalüberhang von 7 Arbeitsplätzen davon 5 Maschinenbediener, ergeben hat, so ist zugleich unstreitig, dass die vom Kläger bisher bedienten Maschinen (Senge, Babcock und Benninger-Waschmaschine) bei der Beklagten weiter im Einsatz sind. Die Beklagte beschäftigt eine Vielzahl von gewerblichen Mitarbeitern, die diese Maschinen weiterhin bedienen. Sie beruft sich lediglich auf eine anteilige Verringerung des Beschäftigungsvolumens in diesem Bereich. Hierin liegt kein "anderer sachlich begründeter Fall" im Sinne der oben unter Ziffer 3 entwickelten Maßstäbe. Daran ändert sich auch nicht deshalb etwas, weil die Beklagte über die nach § 2 Ziffer 2 TV-Sicherung vorausgesetzte Zustimmung des Betriebsrates verfügt. Diese Betriebsratszustimmung müsste kumulativ vorliegen und ersetzt nicht das Vorliegen "anderer sachlich begründeter Fälle".

Der Kläger des vorliegenden Verfahrens wird durch die streitbefangene Kündigung hart getroffen. Eine "59er-Regelung", die er in Anspruch nehmen könnte, gibt es im Tarifbereich der Beklagten nicht mehr. Vielmehr steht ihm bis zum Erreichen des Renteneintrittsalters voraussichtlich eine fast 5-jährige Arbeitslosigkeit bevor, welche durch den Bezugszeitraum für Arbeitslosengeld I nach § 147 SGB III nicht annähernd abgedeckt wird. Auch sieht der bei der Beklagten abgeschlossene Sozialplan nicht das vor, was sich die Gewerkschaft Textil-Bekleidung in dem vom BAG zitierten Schreiben vom 20.04.1983 unter der Zahlung "vernünftiger Abfindungsbeträge" vorgestellt haben könnte. Die Beklagte hat dem Kläger nach fast 19-jähriger Betriebszugehörigkeit eine Grundabfindung in Höhe von lediglich 4.807,00 € in Aussicht gestellt. Selbst unter Berücksichtigung eines Betrages von weiteren 9.000,00 € aus dem Härtefond entspricht dies insgesamt einem Faktor von nur 0,3 Bruttomonatsgehältern pro Jahr der Betriebszugehörigkeit. Diese Summe würde die beim Kläger voraussichtlich bis zum Rentenbezug noch entstehenden Einbußen nur zu einem kleinen Bruchteil kompensieren.

4. Der Sonderkündigungsschutz des Klägers nach § 2 TV-Sicherung ist nicht vor dem Hintergrund der Bestimmungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) unwirksam.

a) § 2 Abs. 4 nimmt die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von Kündigungen aus dem Anwendungsbereich des AGG heraus und unterstellt sie allein den Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz.

b) Selbst wenn eine europarechtskonforme Rechtsanwendung die Berücksichtigung der Maßstäbe des AGG im vorliegenden Fall gebieten sollte, so wird der Kläger wegen seines in Bezug genommenen Lebensalters von mehr als 55 Jahren durch die Anwendung der tariflichen Vorschrift nicht im Sinne von § 7 Abs. 1 AGG "benachteiligt". Es läge vielmehr eine Bevorteilung des Klägers vor. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die durch diese Maßnahme gegenüber dem Kläger ihrerseits unmittelbar einen Nachteil erleiden, sind im vorliegenden Verfahren nicht beteiligt.

c) Ungeachtet dessen erwägt das Bundesarbeitsgericht nur in "Extremfällen" entsprechende Regelungen im Hinblick auf die Grundrechte der ordentlich kündbaren Mitarbeiter (Art. 12 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3 GG) verfassungskonform bzw. im Hinblick auf die Regelung zur Altersdiskriminierung gemeinschaftskonform einzuschränken bzw. für den Einzelfall durch einen ungeschriebenen Ausnahmetatbestand innerhalb der Tarifnorm anzupassen. Zwar seien Unkündbarkeitsvereinbarungen grundsätzlich als zulässig anzusehen. Die gebotene Grenze könne aber wie die wieder gestrichene Vorschrift des § 10 Nr. 7 AGG a.F. zeige dort liegen, wo die Fehlgewichtung durch den die ordentliche Unkündbarkeit eingeschränkten Auswahlpool zu einer grobfehlerhaften Auswahl führen würde (BAG 05.06.2008, 2 AZR 907/06, NZA 1121 f., Rn. 31). Im vorliegenden Fall ist der Kläger mit einem Lebensalter von 60 Jahren und einer Betriebszugehörigkeit von nahezu 19 Jahren selbst in einem solchen Maße sozial schutzwürdig, dass, wenn er von der Kündigung verschont bleibt, im Vergleich zu seinen Kolleginnen und Kollegen von einer grob fehlerhaften Auswahl nicht die Rede sein könnte.

III. Die Beklagte trägt gemäß § 97 ZPO die Kosten der von ihr erfolglos eingelegten Berufung.

Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Ziffer 2 ArbGG wegen einer Abweichung von der Entscheidung des LAG Hamm vom 21.07.2005 (4 Sa 695/05) und wegen einer etwaigen Kollision mit der Entscheidung des BAG vom 08.08.1985 (2 AZR 464/84, AP Nr. 10 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl) zuzulassen.