Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.07.2022, Az.: 11 OA 61/22
Auffangwert; Auffangwert, halber; Empfehlung; Ermessen; Streitwertbeschwerde; Streitwert; Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit; Versammlung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 08.07.2022
- Aktenzeichen
- 11 OA 61/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59625
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 11.02.2022 - AZ: 10 B 547/22
Rechtsgrundlagen
- § 52 Abs 2 GKG
- § 53 Abs 2 Nr 2 GKG
- § 68 Abs 1 S 1 GKG
- Art 8 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bei versammlungsrechtlichen (Eil-)Verfahren folgt der Senat nunmehr der Empfehlung in Ziffer 45.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, den halben Auffangwert festzusetzen.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird die Streitwertfestsetzung im Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 11. Februar 2022 - 10. Kammer - geändert.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das erstinstanzliche Verfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.
Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
Die Streitwertbeschwerde der Antragstellerin hat Erfolg.
Mit Beschluss vom 11. Februar 2022 hat das Verwaltungsgericht den Wert des Streitgegenstands in einem versammlungsrechtlichen Eilverfahren auf 5.000 EUR festgesetzt. In dem Eilverfahren hat sich die Antragstellerin gegen die versammlungsrechtliche Beschränkung gewandt, während einer von ihr angezeigten Versammlung am 12. Februar 2022 in Hannover Bildnisse von Abdullah Öcalan zu zeigen. Zur Begründung der Streitwertfestsetzung hat das Verwaltungsgericht auf § 52 Abs. 2 GKG verwiesen und ausgeführt, dass eine Halbierung des Streitwerts im Hinblick auf die Vorwegnahme der Hauptsache nicht angezeigt sei.
Die gegen die Streitwertfestsetzung gerichtete Beschwerde der Antragstellerin, mit der sie eine Herabsetzung des festgesetzten Streitwerts auf 2.500 EUR begehrt, ist gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 GKG statthaft, da der Wert des Beschwerdegegenstands, also die Differenz der Gerichts- und Anwaltsgebühren (vgl. dazu: Toussaint, in: Toussaint, Kostenrecht, 52. Aufl. 2022, § 68 GKG Rn. 11; Zimmermann, in: Binz/Dörndorfer/Zimmermann, GKG, FamGKG, JVEG, 5. Aufl. 2021, § 68 GKG Rn. 6; OVG SA, Beschl. v. 21.9.2021 - 3 O 175/21 - juris Rn. 3) 200 EUR übersteigt. Die Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden (§§ 68 Abs. 1 Satz 3, 63 Abs. 3 Satz 2 GKG).
Die Beschwerde ist auch begründet.
Gemäß § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG bestimmt sich der Streitwert in Verfahren, in denen - wie hier - vorläufiger Rechtsschutz auf der Grundlage von § 80 Abs. 5 VwGO begehrt wird, nach § 52 Abs. 1 und 2 GKG. § 52 Abs. 1 GKG regelt, dass der Streitwert u.a. in Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit, soweit nichts anderes bestimmt ist, nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen ist. Bietet der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, ist nach § 52 Abs. 2 GKG ein Streitwert von 5.000 EUR - der sogenannte Auffangstreitwert - anzunehmen.
Das Verwaltungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung diesen Auffangwert in Höhe von 5.000 EUR festgesetzt und dies auf § 52 Abs. 2 GKG gestützt. Nicht erwähnt hat das Verwaltungsgericht dabei die von der Antragstellerin in ihrer Streitwertbeschwerdebegründung angeführte Empfehlung in Ziffer 45.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (i.d.F. der am 31.5./1.6.2012 und am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen, NordÖR 2014, 11). Danach beträgt der Streitwert bei den Streitgegenständen „Versammlungsverbot, Auflage“ „½ des Auffangwerts“, also 2.500 EUR. Diese Empfehlung, die wie sämtliche im Streitwertkatalog enthaltenen Angaben für die Gerichte nicht bindend sind (vgl. dazu auch die 3. Vorbemerkung der aktuellen Fassung des Streitwertkatalogs, NordÖR 2014, 11, sowie OVG SA, Beschl. v. 21.9.2021 - 3 O 175/21 - juris Rn. 7), ist im Zuge der letzten Änderungen des Streitwertkatalogs im Jahr 2013 aufgenommen worden. Die vorherige Fassung des Streitwertkatalogs vom 7./8. Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327) sah demgegenüber in Ziffer 45.4 für Versammlungsverbote und versammlungsrechtliche Auflagen vor, den (vollen) Auffangwert festzusetzen.
Die Anwendung der seit 2013 in Ziffer 45.4 enthaltene Empfehlung des Streitwertkatalogs wird in der aktuellen Rechtsprechung unterschiedlich gehandhabt. So behält eine Vielzahl von Obergerichten ihre bisherige Praxis bei, in versammlungsrechtlichen Verfahren vom vollen Auffangwert auszugehen, allerdings überwiegend ohne sich mit der Frage der Heranziehung der in Ziffer 45.4 enthaltenen Empfehlung explizit bzw. argumentativ auseinanderzusetzen (vgl. VGH BW, Beschl. v. 16.5.2020 - 1 S 1541/20 - juris Rn. 20; OVG Bremen, Beschl. v. 1.3.2020 - 1 B 137/20 - juris Rn. 5; SächsOVG, Beschl. v. 30.4.2020 - 3 B 167/20 - juris Rn. 19; OVG BB, Beschl. v. 30.4.2020 - OVG 11 S 36/20 - juris Rn. 10; OVG NW, Beschl. v. 30.4.2020 - 15 B 606/20 - juris Rn. 58; ThürOVG, Beschl. v. 10.4.2020 - 3 EN 248/20 - juris Rn. 63; BayVGH, Beschl. v. 10.4.2014 - 10 C 14.512 - juris Rn. 8; OVG SA, Beschl. v. 21.9.2021 - 3 O 175/21 - juris Rn. 6). Auch der Senat hat bisher in vergleichbaren versammlungsrechtlichen Verfahren ungeachtet der soeben angeführten Änderung des Streitwertkatalogs ebenfalls weiterhin den vollen Auffangstreitwert festgesetzt (vgl. nur Senatsbeschlüsse v. 1.9.2021 - 11 ME 275/21 - juris Rn. 26; v. 4.6.2021 - 11 ME 126/21 - juris Rn. 23; v. 13.11.2020 - 11 ME 293/20 - juris Rn. 41 und v. 29.11.2019 - 11 ME 385/19 - juris Rn. 14). Demgegenüber folgen andere Obergerichte in ihrer neueren Rechtsprechung der in Ziffer 45.4 enthaltenen Empfehlung und gehen in versammlungsrechtlichen Verfahren vom halben Auffangwert aus (siehe HessVGH, Beschl. v. 17.6.2020 - 2 E 1289/20 - juris Rn. 11; derselbe, Beschl. v. 18.3.2022 - 2 B 375/22 - juris Rn. 44; OVG Bremen, Beschl. v. 4.12.2020 - 1 B 385/20 - juris Rn. 13; dasselbe, Beschl. v. 4.5.2021 - 1 B 215/21 - juris Rn. 21; OVG RP, Urt. v. 22.9.2016 - 7 A 11077/15 - juris Rn. 33; OVG Saarland, Beschl. v. 13.11.2017 - 2 A 240/16 - juris Rn. 20; uneinheitlich insofern: BayVGH, Beschl. v. 17.10.2016 - 10 ZB 16.224 - juris Rn. 12). In der erstinstanzlichen Rechtsprechung wird mittlerweile - soweit ersichtlich überwiegend - ebenfalls der Empfehlung in Ziffer 45.4 des Streitwertkatalogs gefolgt (vgl. VG Ansbach, Beschl. v. 27.10.2021 - AN 4 S 21.01807 - juris Rn. 93; VG Frankfurt, Beschl. v. 11.12.2020 - 5 L 3330/20.F - juris Rn. 40; VG Regensburg, Beschl. v. 13.11.2020 - RO 4 S 20.2767 - juris Rn. 55; VG Augsburg, Urt. v. 14.7.2020 - Au 8 K 19.1736 - juris Rn. 35; dasselbe, Beschl. v. 28.4.2022 - 7 K 1394/22 - juris Rn. 42; VG Karlsruhe, Urt. v. 14.5.2020 - 3 K 5923/18 - juris Rn. 41; VG Gießen, Beschl. v. 28.2.2022 - 9 L 423/22.GI - juris Rn. 26; VG Oldenburg, Beschl. v. 12.7.2021 - 7 B 2319/21 - juris Rn. 41; VG Kassel, Beschl. v. 18.6.2021 - 6 L 1137/21.KS - juris Rn. 26; VG Bremen, Beschl. 28.4.2021 - 5 V 807/21 - juris Rn. 38; VG Darmstadt, Beschl. v. 3.12.2020 - 3 L 1995/20.DA - juris Rn. 33; VG Lüneburg, Beschl. v. 18.5.2020 - 5 B 25/20 - juris Rn. 16; VG Braunschweig, Beschl. v. 29.5.2018 - 5 B 238/18 - juris Rn. 32; VG Mainz, Beschl. v. 20.7.2017 - 1 L 625/17.MZ - juris Rn. 15; VG Weimar, Beschl. v. 30.4.2020 - 7 E 589/20 - juris Rn. 18, unter Bezugnahme auf unveröffentlichte Entscheidungen des ThürOVG, Beschlüsse v. 3.5.2016 - 3 EO 274/16 - und v. 6.6.2018 - 3 EO 420/18 -).
Letztgenannter Auffassung schließt sich der Senat nunmehr nach erneuter Überprüfung und Abwägung der maßgeblichen Gesichtspunkte an.
Zwar lassen sich weder den Vorbemerkungen des aktuellen Streitwertkatalogs noch der im Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht zum Thema Streitwertkatalog geführten Verwaltungsakte konkrete Anhaltspunkte für die hinter der in Ziffer 45.4 erfolgten Änderung stehenden Motive entnehmen. Gleichwohl sind für den Senat im Wesentlichen zwei Gesichtspunkte maßgeblich, die dafür sprechen, in versammlungsrechtlichen (Eil-)Verfahren gemäß der in Ziffer 45.4 enthaltenen Empfehlung eine Halbierung des Auffangwerts vorzunehmen: Zum einen erscheint es dem Senat gerade angesichts des Umstandes, das zum Streitwert oftmals vieles vertretbar ist, bereits im Grundsatz sinnvoll und erstrebenswert, im Interesse der Einheitlichkeit und Berechenbarkeit der zu erwartenden Prozesskosten den Empfehlungen des Streitwertkatalogs weitest möglich zu folgen (ähnlich HessVGH, Beschl. v. 17.6.2020 - 2 E 1289/20 - juris Rn. 11). So verfährt der Senat auch in den allermeisten der in seinem Zuständigkeitsbereich liegenden Rechtsgebieten. Zum anderen hält der Senat eine Halbierung des Auffangwerts in versammlungsrechtlichen (Eil)Verfahren deshalb für angemessen, weil dadurch die finanziellen Risiken, die mit der Einlegung eines Rechtsmittels verbunden sind, speziell für das Versammlungsrecht reduziert werden. Damit wird die Anrufung der Gerichte erleichtert und der besonderen Bedeutung von Art. 8 GG Rechnung getragen (vgl. HessVGH, Beschl. v. 17.6.2020 - 2 E 1289/20 - juris Rn. 14).
Soweit die Festsetzung des halben Auffangwerts in versammlungsrechtlichen (Eil)Verfahren entgegen der in Ziffer 45.4 enthaltenen Empfehlung in der Rechtsprechung mit dem Verweis darauf abgelehnt wird, dass der Antrag des Antragstellers bei versammlungsrechtlichen Streitigkeiten für die Bestimmung eines vom Auffangwert abweichenden Streitwerts nach einem sich für ihn ergebenden wirtschaftlichen Interesse auf der Grundlage von § 52 Abs. 1 GKG in der Regel keine genügenden Anhaltspunkte biete (BayVGH, Beschl. v. 11.12.2013 -10 C 13.829 - juris Rn. 9, derselbe, Beschl. v. 10.4.2014 - 10 C 14.512 - juris Rn. 8; OVG SA, Beschl. v. 21.9.2021 - 3 O 175/21 - juris Rn. 6), ist diese Argumentation im Ausgangspunkt nachvollziehbar. Gleichwohl misst der Senat diesem Argument gegenüber den soeben angeführten Gesichtspunkten für eine Heranziehung der in Ziffer 45.4 enthaltenen Empfehlung geringeres Gewicht bei. Denn das Argument, dass keine genügenden Anhaltspunkte für eine vom Auffangstreitwert abweichende Festsetzung des Streitwerts bestehen, benennt lediglich eine dem Streitwertkatalog immanente Schwierigkeit und lässt sich gegen eine Vielzahl der vom Auffangwert abweichenden Empfehlungen des Streitwertkatalogs anführen, insbesondere für diejenigen, in denen der Katalog ebenfalls den hälftigen Auffangwert empfiehlt. So bestehen in der Regel auch in Verfahren, in denen sich Antragsteller z.B. gegen ihre (isolierte) Abschiebung wenden, oder in denen es um eine ordnungsrechtliche Wohnungsverweisung oder einen hochschulrechtlichen Leistungsnachweis geht, und für die der Streitwertkatalog ebenfalls die Festsetzung des hälftigen Auffangwerts empfiehlt (vgl. Ziffern 8.3, 18.6 und 35.4 des Streitwertkatalogs), keine konkreten, an der (wirtschaftlichen) Bedeutung der Aktivpartei orientierten Anhaltspunkte für eine von dem Auffangwert abweichende Streitwertfestsetzung.
Von einer (weiteren) Reduzierung des Streitwerts nach Ziffer Nr. 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs sieht der Senat - wie bisher - gemäß Ziffer. 1.5. Satz 2 des Streitwertkatalogs ab. Nach letztgenannter Empfehlung kann in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, die die Entscheidung in der Sache ganz oder zum Teil vorwegnehmen, der Streitwert bis zur Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts angehoben werden. Diese Empfehlung trägt dem Grundsatz in § 52 Abs. 1 GKG Rechnung, dass für den Antragsteller eine im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erstrebte Regelung wegen ihrer Vorläufigkeit normalerweise im Vergleich zur Hauptsacheentscheidung eine geringere Bedeutung hat (vgl. HessVGH, Beschl. v. 17.6.2020 - 2 E 1289/20 - juris Rn. 5). Das Eilverfahren hat für den Antragsteller aber dann eine größere Bedeutung, wenn es die Entscheidung in der Sache ganz oder zum Teil vorwegnimmt. Letzteres ist in versammlungsrechtlichen Eilverfahren typischerweise der Fall, da bereits die Entscheidung im Eilverfahren darüber bestimmt, ob die Versammlung wie vom Anmelder gewünscht durchgeführt werden kann oder nicht. Zudem tritt nach Ablauf der angezeigten Versammlung bzw. des dafür vorgesehenen Zeitraums regelmäßig Erledigung ein. Das versammlungsrechtliche Eilverfahren hat also für den Antragsteller eine mit dem Hauptsacheverfahren vergleichbare Bedeutung, so dass eine über die aufgrund der Empfehlung in Ziffer 45.4 des Streitwertkatalogs hinausgehende (weitere) Reduzierung des Streitwerts nicht veranlasst ist (so auch bereits die bisherige Rspr. des Senats, z.B. Beschlüsse v. 1.9.2021 - 11 ME 275/21 - juris Rn. 26; v. 4.6.2021 - 11 ME 126/21 - juris Rn. 23; v. 13.11.2020 - 11 ME 293/20 - juris Rn. 41; v. 29.11.2019 - 11 ME 385/19 - juris Rn. 14; ebenso: HessVGH, Beschl. v. 17.6.2020 - 2 E 1289/20 - juris Rn. 5; derselbe, Beschl. v. 18.3.2022 - 2 B 375/22 - juris Rn. 44; OVG Bremen, Urt. v. 1.5.2020 - 1 B 137/20 -, juris Rn. 5; ThürOVG, Beschl. v. 10.4.2020 - 3 EN 248/20 - juris Rn. 63; für eine Halbierung des Auffangwerts in versammlungsrechtlichen Eilverfahren auch bei Vorwegnahme der Hauptsache demgegenüber: BayVGH, Beschl. v. 10.4.2014 - 10 C 14.512 - juris Rn. 7; derselbe, Beschl. v. 11.12.2013 - 10 C 13.829 - juris Rn. 8).
Die Nebenentscheidungen folgen aus § 68 Abs. 3 GKG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).