Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.07.2022, Az.: 2 LB 218/21
Familienangehörige; Reflexverfolgung; Sippenhaft; Syrien; Wehrdienst; Wehrdienstentzieher
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 18.07.2022
- Aktenzeichen
- 2 LB 218/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59903
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 28.06.2017 - AZ: 3 A 437/17
Rechtsgrundlagen
- § 3 AsylVfG 1992
- § 3a AsylVfG 1992
- § 3a Abs 2 Nr 5 AsylVfG 1992
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Familienangehörigen von Männern, die sich dem Wehrdienst in Syrien entzogen haben, droht ohne Hinzutreten gefahrerhöhender Risikomerkmale und mithin allein in Anknüpfung an die Wehrdienstentziehung keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne einer Sippenhaft oder Reflexverfolgung.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der Beschluss ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Beschlusses vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Kläger, ein im Jahr 1980 geborener Mann und sein im Jahr 2010 geborener Sohn, sind syrische Staatsangehörige arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Sie verfügen über den Status der subsidiär Schutzberechtigten und begehren im Wege der Aufstockungsklage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Im Asylverfahren gab der Kläger zu 1. gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu seinem Verfolgungsschicksal und demjenigen seines Sohnes, des Klägers zu 2., im Wesentlichen an, sie hätten Syrien Anfang Oktober 2015 verlassen und seien Ende Oktober 2015 nach Deutschland eingereist. Bis zu ihrer Ausreise hätten sie gemeinsam mit der Ehefrau bzw. Mutter und zwei weiteren Kindern bzw. Geschwistern in Rief Damaskus gelebt. Ursprünglich habe die Familie in Al Sabinah gelebt. Nach Ausbruch des Krieges sei die Familie aber von dort vertrieben worden und nach Al Kisuwah/Rief Damaskus gezogen. Gemeinsam mit einem Freund habe der Kläger zu 1. dort als Transportfahrer gearbeitet. Es habe dann aber Probleme mit dem Reservedienst gegeben. Deswegen habe er sein Wohnviertel nicht mehr verlassen können und sei gezwungen gewesen dort zu bleiben. Wenn er aber ganz dortgeblieben wäre, wäre er gezwungen gewesen, sich einer anderen kämpfenden Gruppierung anzuschließen. Deswegen sei er ausgereist. Bevor die Familie 2012 aus Al Sabinah vertrieben worden sei, sei er einmal bei der Besorgung von Brot belästigt worden. Er hätte für den Brotkauf fast drei Stunden in einer Schlange gestanden, während sich Mitglieder der Gruppierung vorgedrängt und sofort Brot bekommen hätten. Der Kläger zu 1. habe eine dieser Personen angesprochen und gefragt, warum er sich nicht auch in der Schlange anstelle. Darauf sei er von den Personen aufgefordert worden mit ihnen zu kämpfen. Deswegen sei er ausgereist. Ihm sei danach sonst nichts passiert. Als die syrische Armee Al Sabinah 2013 zurückerobert habe, habe er wieder einmal Brot holen wollen. Auf dem Rückweg zu seinem Auto sei er an einem Kontrollposten gehindert worden weiter zu gehen. Als er mit den Soldaten über die Sache habe diskutieren wollen, hätten sie ihn, seine Geschwister und Eltern beschimpft und beleidigt und angefangen, ihn mit ihren Gewehren auf den Rücken zu schlagen. Er habe anschließend versucht, die Kontrollposten der Regierung und der Opposition zu meiden. Kurz vor der Ausreise sei zudem ein Auto, mit dem er unterwegs gewesen sei, von Soldaten angehalten worden. Ein Soldat habe mit dem Fahrer gesprochen, er, der Kläger zu 1., habe aus dem Auto geschaut, und daraufhin habe ihn der Soldat aus dem Auto geholt. Nachdem er eine Stunde gewartet habe, hätte er wieder gehen können. Im Falle einer Rückkehr befürchte der Kläger zu 1., zum Reservedienst in der syrischen Armee eingezogen oder von einer anderen Gruppierung zwangsrekrutiert zu werden.
Die Beklagte erkannte den Klägern mit Bescheid vom 29. Mai 2017 den Status der subsidiären Schutzberechtigten zu, lehnte jedoch die weitergehenden Asylanträge ab.
Mit ihrer dagegen gerichteten Klage haben die Kläger vorgetragen, ihnen drohe im Falle einer Rückkehr nach Syrien schon deshalb Verfolgung durch den syrischen Staat, weil sie Syrien illegal verlassen, im Ausland einen Asylantrag gestellt und sich länger im europäischen Ausland aufgehalten hätten. Zudem drohe dem Kläger zu 1. Verfolgung seitens des syrischen Staats, weil er sich durch seine Ausreise dem Wehrdienst entzogen habe.
Die Kläger haben beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 2. des Bescheides vom
29. Mai 2017 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen, und den Bescheid der Beklagten aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht. Zur Begründung hat das Gericht zusammenfassend ausgeführt: Nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel sei davon auszugehen, dass den Klägern bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung drohe. Die Kläger seien (illegal) ausgereist, hätten sich länger im westlichen Ausland aufgehalten und einen Asylantrag gestellt. Diese Risikomerkmale machten es beachtlich wahrscheinlich, dass ihnen der syrische Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellen und sie deshalb bei der Rückkehr verhaften und misshandeln werde. Dem Kläger zu 1., der sich im wehrpflichtigen Alter befinde, drohe zudem - eigenständig tragend - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgung, weil er sich durch die Ausreise dem Wehrdienst in der syrischen Armee entzogen habe. Ihm drohe auch eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, weil ihm in Syrien Strafverfolgung und Bestrafung wegen der Entziehung vom Militärdienst in dem dortigen Krieg drohe und dieser Militärdienst die Begehung von Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen würden. Gleiches würde dem Kläger zu 1. im Falle einer Zwangsrekrutierung durch andere Kriegsparteien/Kampfverbände in Syrien drohen. Unter dem Gesichtspunkt der Reflexverfolgung drohe auch dem Kläger zu 2. flüchtlingsrelevante Verfolgung, diese knüpfe an die dem Kläger zu 1. im Zusammenhang mit seiner Wehrdienstentziehung drohende Verfolgung an. Eine inländische Fluchtalternative bestehe nicht.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat zugelassene Berufung der Beklagten. Sie greift die Auffassung des Verwaltungsgerichts an, gegenwärtig habe bei Rückkehr mit Verfolgung zu rechnen, wer Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich im westlichen Ausland aufgehalten habe. Auch die Entziehung vom Wehrdienst begründe keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Damit scheide auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber dem Kläger zu 2. aus dem Gesichtspunkt einer Reflexverfolgung/Sippenhaft aus.
Die Beklagte beantragt,
das erstinstanzliche Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angegriffene Urteil und verweisen zudem auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020. In der Entscheidung habe der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass Menschen, die wegen des Wehrdienstes aus Syrien geflohen seien, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Zudem gehe der syrische Staat bei einer Wehrdienstentziehung von der Zugehörigkeit zur Opposition aus, so dass auch ein individueller Verfolgungsgrund vorliege.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten Bezug genommen. Die von dem Senat zugrunde gelegten Erkenntnismittel ergeben sich aus der den Klägern übersandten Liste.
II.
Der Senat trifft diese Entscheidung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss (§ 130a Satz 1 VwGO), weil er die Berufung einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (zur Zulässigkeit einer Entscheidung nach § 130a VwGO vgl. Senatsbeschl. v. 5.9.2017 - 2 LB 186/17 -, juris Rn. 18 ff.). Die aufgeworfenen rechtlichen und tatsächlichen Fragen sind in der Senatsrechtsprechung seit längerem geklärt (vgl. Senatsurt. v. 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - u. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, jeweils veröffentlicht in juris [so auch im Folgenden zitiert] sowie in beck-online und unter www.rechtsprechung.niedersachsen.de). Die Kläger haben keine Gesichtspunkte vorgetragen, die eine mündliche Verhandlung geboten erscheinen lassen.
Die zulässige Berufung ist begründet. Die Klage ist unbegründet und daher abzuweisen. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründe) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). In § 3a Abs. 2 Nrn. 1 bis 6 AsylG werden einzelne Beispiele für Verfolgungshandlungen genannt, unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (Nr. 1), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3) oder eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (Nr. 5). Gemäß § 3c AsylG sind Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, u. a. der Staat oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.
Zwischen den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten und in § 3b Abs. 1 AsylG jeweils näher erläuterten Verfolgungsgründen sowie den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG beschriebenen Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich z. B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreicht, wenn der Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Unerheblich ist dabei, ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist (BVerfG, Beschl. v. 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, juris Rn. 5; Senatsurt. v. 27.6.2017 - 2 LB 91/17 -, juris Rn. 31). Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen (vgl. näher zu den Voraussetzungen Senatsurt. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, juris Rn. 21 bzw. 20).
Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) drohen (stRspr, vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 19, 32; Beschl. v. 15.8.2017 - 1 B 120.17 -, juris Rn. 8). Für die anzustellende Verfolgungsprognose gilt - unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht - ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU, nicht (mehr) durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 21 f.; Senatsurt. v. 27.6.2017 - 2 LB 91/17 -, juris Rn. 34). Eine Verfolgung ist beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. hierzu sowie zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt und den Maßgaben der richterlichen Überzeugungsbildung im Einzelnen Senatsurt. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, juris Rn. 22 ff. bzw. 21 ff.).
Nach diesen Maßgaben besteht für die Kläger bei einer - hypothetischen - Rückkehr nach Syrien zur Überzeugung des Gerichts keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen.
1. Die Kläger sind nicht vorverfolgt ausgereist, sodass ihnen die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU nicht zugutekommt. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger zu 1. zum Zeitpunkt der Ausreise flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung (Vorverfolgung) drohte, lassen sich auch seinen Schilderungen zu der vorübergehenden Behinderung seiner Weiterfahrt durch Soldaten an einem Kontrollpunkt kurz vor der Ausreise aus Syrien nicht entnehmen. Insoweit sind weder eine als Verfolgung einzustufende Handlung im Sinne des § 3a Abs. 1 u. 2 AsylG noch die rechtlich vorausgesetzte Verknüpfung zwischen den in § 3 Absatz 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und einer in § 3a Abs. 1 u. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen ersichtlich. Nach den Gesamtumständen handelte es sich bei der einstündigen Behinderung der Weiterfahrt kurz vor der Ausreise ebenso wie bei der geschilderten Behinderung an dem Kontrollposten in Al Sabinah nach den Erkenntnissen des Gerichts um typische willkürliche Ereignisse, die den Krieg in Syrien prägen und allen Menschen in Syrien passieren können. Eine flüchtlingsrechtliche Relevanz lässt sich diesen Ereignissen indes nicht entnehmen.
Eine Vorverfolgung ergibt sich - auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 (- C-238/19 -, juris) - nicht im Hinblick darauf, dass sich der Kläger zu 1. bereits zum Zeitpunkt seiner Ausreise dem Wehrdienst auf Seiten des syrischen Staates entzogen hat. Dies gilt auch im Hinblick auf eine mögliche Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wie sie der Tatbestand dieser Bestimmung zunächst voraussetzt, hat der Kläger vor seiner Ausreise aus Syrien seinen eigenen Angaben zufolge nicht erlitten. Die Annahme einer bei der Ausreise unmittelbar drohenden Strafverfolgung oder Bestrafung (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU) wegen Verweigerung des Militärdienstes i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kann nach der Senatsrechtsprechung nur dann in Betracht kommen, wenn sich ein im militärdienstpflichtigen Alter befindlicher Mann aus Sicht des syrischen Staates bereits vor dem Moment seiner Ausreise erkennbar dem Militärdienst entzogen hatte und er gerade aus diesem Grund der beachtlich wahrscheinlichen Gefahr unterlag, Verfolgungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte erleiden zu müssen (vgl. im Einzelnen Senatsurt. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, juris Rn. 32 ff. bzw. 31 ff.). Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger nicht vor. Dass er bereits konkret zum Dienstantritt aufgefordert worden wäre und ein Verhalten an den Tag gelegt hätte, welches aus Sicht des Regimes für eine Entziehung bereits vor der Ausreise hätte sprechen können, hat der Kläger nicht vorgetragen. Vielmehr hat der Kläger zu 1. lediglich vorgebracht, eine Einziehung zum (Reserve-)Militärdienst in der syrischen Armee oder eine Zwangsrekrutierung durch andere Kampfverbände befürchtet zu haben.
Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger aus anderen Gründen zum Zeitpunkt ihrer Ausreise vorverfolgt waren, bestehen nicht.
2. Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit begründende Ereignisse, die eingetreten sind, nachdem die Kläger ihr Herkunftsland verlassen haben (§ 28 Abs. 1a AsylG), liegen ebenfalls nicht vor.
Syrische Staatsangehörige unterliegen nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats (Urt. v. 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - u. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, juris) allein aufgrund einer (illegalen) Ausreise, einer Asylantragstellung und einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland, der Herkunft aus einem (ehemals) von der Opposition beherrschten Gebiet und wegen des Umstandes, dass sie sich durch ihre Ausreise oder ihren längeren Aufenthalt im Ausland dem Wehrdienst entzogen haben, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
Es fehlt jedenfalls an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen einer etwaigen Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b AsylG. Die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel lassen den Schluss, dass Rückkehrern ohne besonderes Profil von Seiten des syrischen Staates regelhaft eine oppositionelle Gesinnung zugeschrieben wird, weiterhin nicht zu. Das gilt auch bei (einfacher) Wehrdienstentziehung. Nach der vom Senat geteilten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. zusammenfassend BVerwG, Beschl. v. 24.4.2017 - 1 B 22.17 -, juris Rn. 14). An einer solchen Verknüpfung zwischen der Bestrafung von Rückkehrern wegen einer Wehrdienstentziehung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG fehlt es.
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Wehrdienstentziehung liegt auch unter Berücksichtigung des in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG aufgenommenen Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG nicht vor. Die dort genannten Voraussetzungen sind in zweifacher Hinsicht nicht erfüllt. Zum einen geht der Senat nicht davon aus, dass der Wehr- bzw. Reservedienst in der syrischen Armee Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Zum anderen fehlt es auch hier an der erforderlichen Verknüpfung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund.
Zur näheren Begründung seiner Einschätzung nimmt der Senat vollumfänglich Bezug auf seine Urteile vom 27. Juni 2017 - 2 LB 91/17 - und vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, juris (zur Zulässigkeit einer solchen Bezugnahme vgl. BVerwG, Beschl. v. 3.4.1990 - 9 CB 5.90 -, juris Rn. 6, v. 22.11.1994 - 5 PKH 64.94 -, juris Rn. 4, u. v. 3.12.2008 - 4 BN 25.08 -, juris Rn. 9; Lambiris in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 58. Ed. 2020, § 117 Rn. 19a; Kilian/Hissnauer in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 117 Rn. 85). Das klägerische Vorbringen gibt keine Veranlassung zu einer veränderten Bewertung. Neuere Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass die Situation von Rückkehrern aus Europa anders zu beurteilen wäre, liegen nicht vor. Auch die übrige obergerichtliche Rechtsprechung verneint in den genannten Fällen ganz überwiegend eine politische Verfolgung (OVG NRW, Beschl. v. 25.1.2021 - 14 A 822/19.A -, juris; VGH BW, Urt. v. 4.5.2021 - A 4 S 468/21 - u. Urt. v. 18.8.2021 - A 3 S 271/19 -, juris; OVG MV, Urt. v. 26.5.2021 - 4 L 238/13 -, juris; BayVGH, Urt. v. 23.6.2021 - 21 B 19.33586 -, juris; OVG LSA, Urt. v. 1.7.2021 - 3 L 154/18 -, juris; SächsOVG, Urt. v. 22.9.2021 - 5 A 855/19.A -, juris; Hess VGH, Urt. v. 23.8.2021 - 8 A 1992/18.A -, juris; a.A. OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 29.1.2021 - OVG 3 B 108.18 -, juris, wobei das Bundesverwaltungsgericht gegen dieses Urteil die Revision zugelassen hat, vgl. Beschl. v. 22.7.2021 - 1 B 28.21 -, juris).
Auch die Furcht des Klägers zu 1. vor einer Zwangsrekrutierung durch eine andere Gruppierung begründet keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Selbst wenn unterstellt würde, dass die von dem Kläger zu 1. nicht näher bezeichnete Gruppierung die rechtlichen Anforderungen eines Akteurs, von dem Verfolgung ausgehen kann, erfüllt (§ 3c AsylG), ist nicht ersichtlich, dass eine etwaige Zwangsrekrutierung des Klägers zu 1. an einen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe anknüpfen könnte.
Steht dem Kläger zu 1. unter dem Gesichtspunkt einer Entziehung vom Wehrdienst kein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zu, so scheidet damit auch ein davon abgeleiteter Anspruch des Klägers zu 2. auf eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter dem Aspekt einer Reflexverfolgung oder Sippenhaft aus.
Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. Senatsbeschl. v. 30.3.2020 - 2 LB 452/18 - juris Rn. 43) ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass Familienangehörigen von Männern, die sich dem Wehrdienst in Syrien entzogen haben, ohne Hinzutreten gefahrerhöhender Risikomerkmale und mithin allein in Anknüpfung an die Wehrdienstentziehung flüchtlingsrelevante Verfolgung im Sinne einer Sippenhaft oder Reflexverfolgung droht. Zwar können Familienangehörige von Wehrdienstentziehern im Einzelfall, unter besonderen Umständen, wie beispielsweise der Herkunft der Familie aus einem von der Opposition kontrollierten Gebiet, einer sichtbaren oppositionellen Gesinnung oder regimekritischen politischen Betätigung sowie einer Kooperation mit regimekritischen Verbänden flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungshandlungen seitens der syrischen Sicherheitskräfte ausgesetzt sein (vgl. z.B. The Danish Immigration Service, „Syria: Security clearance and status settlement for returnees“, 12/2020, S. 11; The Danish Immigration Service, „Syria: Militäry Service - Report based on a factfinding mission to Istanbul and Beirut“, May 2020 S. 36; EASO, COI Report, „Syria: Military Service“, April 2021, S. 38, Schweizerische Flüchtlingshilfe „Syrien, Rekrutierung in Qamishli und Verfolgung von Familienangehörigen“, 26.2.2019, S. 6 f.). Solche gefahrerhöhenden Umstände haben die Kläger aber weder vorgetragen noch sind solche sonst ersichtlich. Ohne Hinzutreten solcher besonderen Umstände hat die Entziehung vom Wehrdienst für Familienangehörige im Regelfall keine Folgen (vgl. auch HessVGH, Beschl. v. 25.8.2020 - 8 A 780/17.A -, juris Rn. 27; BayVGH, Urt. v. 3.1.2022 - 21 B 19.32835 -, juris Rn. 26, v. 21.9.2020 - 21 B 19.32725 - juris Rn. 67 und v. 9.4.2019 - 21 B 18.33075 - juris, Rn. 34 ff.; VGH BW, Urt. v. 18.8.2021 - VGH A 3 S 277/19 - juris, Urteilsabdruck, S. 20; SächsOVG, Urt. v. 21.1.2022 - 5 A 1402/18.A - juris Rn. 37 ff.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.