Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.07.2022, Az.: 14 ME 277/22

Betreuungsanspruch Kind

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
19.07.2022
Aktenzeichen
14 ME 277/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59899
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 14.06.2022 - AZ: 4 B 527/22

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Der Anspruch eines Kindes, das das dritte Lebensjahr vollendet hat, umfasst grundsätzlich die Förderung in einer Tageseinrichtung und kann nicht alternativ durch die Vermittlung von Tagespflegepersonen erfüllt werden, es sei denn es liegt hierfür ein besonderer Bedarf i.S.d. § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII vor.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 14. Juni 2022 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet hat, der am 15. Januar 2017 geborenen Antragstellerin zum 1. Juli 2022 einen dem individuellen Bedarf entsprechenden integrativen Betreuungsplatz in einer Kindertagesstätte zu verschaffen, hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat auch unter Berücksichtigung des für die Prüfung des Senats nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein maßgeblichen Beschwerdevorbringens voraussichtlich zu Recht festgestellt, dass die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat.

Nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das - wie die Antragstellerin - das dritte Lebensjahr vollendet hat, bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Kinder, die - wie die Antragstellerin - nach § 99 SGB IX i. V. m. § 53 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGB XII in der am 31. Dezember 2019 geltenden Fassung leistungsberechtigt sind, haben nach der Sonderregelung in § 20 Abs. 2 des niedersächsischen Gesetzes über Tageseinrichtungen für Kinder (NKiTaG) einen Anspruch auf Betreuung in einer Gruppe, in der sich ausschließlich Kinder befinden, die Leistungen nach dem SGB IX erhalten.

Dem nach dem Verlust des Integrationsplatzes bei der Kinderbetreuungseinrichtung „D.“ vom Verwaltungsgericht bejahten Anspruch der Antragstellerin auf Förderung in einer integrativen Tageseinrichtung aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII (vgl. hierzu NdsOVG, Beschl. v. 15.12.2021 - 10 ME 170/21 -, juris Rn. 6) steht nach vorläufiger Einschätzung des Senats entgegen dem Vorbringen des Antragsgegners kein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Vaters der Antragstellerin entgegen. Ob einem Anspruch der Antragstellerin auf Förderung in einer Tageseinrichtung überhaupt entgegengehalten werden könnte, wenn die Kündigung auf ein rechtsmissbräuchliches - der Antragstellerin zuzurechnendes Verhalten ihres Vaters - zurückzuführen wäre, kann vorliegend - wie auch in der von dem Antragsgegner zitierten Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Dezember 2021 (10 ME 170/21, juris Rn. 6) - dahingestellt bleiben. Denn der Antragsgegner legt entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO bereits nicht dar, dass ein solches rechtsmissbräuchliches Verhalten tatsächlich vorliegt; ein solches Verhalten wird vielmehr unter pauschalem Verweis auf den Verwaltungsvorgang lediglich behauptet. Unabhängig davon geht der Senat nach vorläufiger Einschätzung auch nicht von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des Vaters aus. Allein der Umstand, dass es zu Auseinandersetzungen zwischen dem Vater der Antragstellerin und der Kinderbetreuungseinrichtung „D.“ kam, wodurch die Kinderbetreuungseinrichtung den Betreuungsvertrag schriftlich fristlos gekündigt hat, stellt keinen Rechtsmissbrauch dar. Ein solcher könnte eventuell dann vorliegen, wenn der Vater der Antragstellerin es bewusst hätte drauf ankommen lassen, dass der Betreuungsvertrag gekündigt wird und sachwidrige Gründe dafür vorgeschoben hätte. Dies ist vorliegend nicht ansatzweise erkennbar. Zwar hat der Vater der Antragstellerin in verschiedenen Emails seinen Unmut über die Betreuungssituation der Antragstellerin kundgetan und war dabei ersichtlich emotional. Auch waren die Ausführungen des Vaters der Antragstellerin - wie das Amtsgericht Stade in seiner Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung vom 24. Januar 2022 (61 C 662/21) richtig festgestellt hat - sicherlich nicht freundlich, dennoch waren sie mit Sachbezug. Gegen eine provozierte und somit rechtsmissbräuchliche Kündigung spricht vor allem auch, dass der Vater der Antragstellerin nach der ausgesprochenen Kündigung grundsätzlich Interesse an einer außergerichtlichen Einigung mit der Kindertageseinrichtung „D.“ hatte, was unter anderem durch den zwischen den Prozessbevollmächtigten gewechselten Schriftsätze vom 27. und 28. Januar 2022 deutlich wird.

Soweit der Antragsgegner rügt, das Verwaltungsgericht habe die von ihm zitierten Entscheidungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. Dezember 2005 (12 ME 422/05, juris) sowie des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2006 (1 BvR 91/06, juris) zu der Regelung des § 20 Abs. 2 NKiTaG (vormals § 12 Abs. 2 NKiTaG) nicht gewürdigt, genügt dieses Vorbringen schon nicht dem Darlegungsgebot des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Das Verwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung ausgeführt, dass entgegen der offenbar vom Antragsgegner vertretenen Auffassung die Regelung des § 20 Abs. 2 NKiTaG nicht lediglich einen Anspruch auf Betreuung in einer Gruppe vermittle, in der sich ausschließlich Kinder befinden, die Leistungen nach dem SGB IX beziehen. In diesem Zusammenhang hat es zur Begründung auf einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg verwiesen, in dem die vom Antragsgegner genannte Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. Dezember 2005 (12 ME 422/05, juris) zitiert wird, und hat die Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung zur Vorgängernorm (§ 12 Abs. 2 NKiTaG) auf den nunmehr geltenden § 20 Abs. 2 NKiTaG bejaht. Auch die in diesem Zusammenhang stehenden Ausführungen des Antragsgegners im erstinstanzlichen Verfahren, dass der konkrete Förderbedarf der Antragstellerin nicht feststehe und ein Anspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Integrationsgruppe wegen fehlender Kapazität nicht bestehe, hat das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss gewürdigt. Der pauschale Verweis des Antragsgegners auf die beiden o.g. Entscheidungen genügt daher nicht dem Darlegungsgebot des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Auch wenn das Verwaltungsgericht die zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der die Verfassungsmäßigkeit der Vorgängernorm des § 12 Abs. 2 NiKitaG festgestellt wird, nicht ausdrücklich erwähnt hat, führt dies nicht zu der Annahme, dass es dieses Vorbringen nicht gewürdigt hat. Es hätte dem Antragsgegner oblegen, in Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Beschluss darzulegen, aus welchen Gründen sich dieser mit Blick auf die von ihm angeführte Rechtsprechung als unzutreffend darstellt.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist der Anspruch der Antragstellerin auch nicht dadurch erfüllt, dass sie derzeit offensichtlich in Kindertagespflege betreut wird. Anders als zu dem Anspruch der unter Dreijährigen (vgl. § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) kann der Anspruch auf Förderung nicht alternativ durch die Vermittlung von Tagespflegepersonen erfüllt werden. Nach dem klaren Wortlaut des § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist der Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung gerichtet (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 20.6.2019 - 10 ME 134/19 -, juris Rn 4; BayVGH, Urt. v. 22.7.2016 - 12 BV 15.719 -, juris Rn. 43; OVG Berl.-Bbg., Beschl. v. 28.9.2015 - 6 S 41/15 -, juris Rn. 4; Struck/Schweigler, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Auflage 2022, § 24 Rn. 69). Zwar kann gemäß § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII das Kind bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespflege, also etwa bei einer Tagesmutter, gefördert werden. Ein besonderer Bedarf liegt hier jedoch nicht vor. Ein solcher kann beispielsweise eine Krankheit oder Behinderung des Kindes sein, wodurch im Einzelfall die Betreuung in einer kleinen, familienähnlichen Kindertagespflegegruppe, in der stärker auf die individuellen Bedürfnisse eingegangen werden kann, die tatsächlich gegenüber der Förderung in Tageseinrichtungen geeignetere Betreuungsform darstellen (Beckmann, in: Münder/Meysen/Trenczek, 9. Aufl. 2022, SGB VIII, § 24 Rn. 56). Im Hinblick auf die Gruppensituation kann eine besondere Bedarfslage auch bei Kindern in Betracht kommen, die generell oder zumindest noch über das dritte Lebensjahr hinaus Schwierigkeiten mit der Gruppenkonfiguration und insbesondere mit großen Gruppen, wie sie zumeist in Tageseinrichtungen bestehen, haben (Beckmann, in: Münder/Meysen/Trenczek, 9. Aufl. 2022, SGB VIII, § 24 Rn. 56). Anhaltspunkte dafür, dass die Förderung der Antragstellerin wegen ihrer gesundheitlichen Situation in einer Tageseinrichtung unzumutbar wäre, sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist auch nicht erkennbar, dass die Antragstellerin Schwierigkeiten mit der Gruppenkonfiguration in Tageseinrichtungen haben könnte (vgl. OVG Berl.-Bbg., Beschl. v. 28.9.2015 - 6 S 41/15 -, juris Rn. 7: zum Erfordernis einer spezifischen ärztlichen Bescheinigung für die Annahme eines besonderen Bedarfs i.S.d. § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII). Der Antragsgegner hat hierzu auch nichts Konkretes vorgetragen, sondern lediglich einen besonderen Bedarf im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII behauptet. Der amtsärztlichen Stellungnahme vom 20. Januar 2022 zufolge ist wegen der deutlichen Sprachentwicklungsstörung und des kognitiven Entwicklungsrückstandes bei der Antragstellerin vielmehr der Wechsel in eine heilpädagogische Gruppe und ggfs. in einen Sprachheilkindergarten empfohlen. Im Übrigen wäre selbst bei der Annahme eines besonderen Bedarfs auch nicht geklärt, ob die zurzeit besuchte Kindertagespflege, die die Eltern der Antragstellerin offensichtlich selbst beschafft haben, für die Förderung der Antragstellerin überhaupt geeignet wäre (vgl. Beckmann in: Münder/Meysen/Trenczek, 9. Aufl. 2022, SGB VIII, § 24 Rn. 57).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).