Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.07.2022, Az.: 14 OB 274/22

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.07.2022
Aktenzeichen
14 OB 274/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59632
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 24.05.2022 - AZ: 6 A 559/21

Tenor:

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Nichtabhilfebeschluss des Verwaltungsgerichts Stade – 6. Kammer (Berichterstatter) – vom 16. Juni 2022 aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht Stade zur erneuten Abhilfeentscheidung zurückverwiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

Die Klägerin wendet sich gegen den einen Aussetzungsantrag nach § 94 VwGO versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade vom 24. Mai 2022.

Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig (1.) und führt zur Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht, damit dieses erneut über die Frage der Abhilfe befinden kann (2.).

1. Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere steht ihr nicht das erstmals im Beschwerdeverfahren geltend gemachte Begehren, das beim Verwaltungsgericht anhängige Klageverfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17. März 2022 (BGH III ZR 79/21) auszusetzen, entgegen; vielmehr ist hierin eine zulässige Antragsänderung nach dem entsprechend anzuwendenden § 91 Abs. 1 VwGO zu sehen. Dass die Antragsänderung erstmals im Beschwerdeverfahren geltend gemacht wurde, ist - anders als in Beschwerdeverfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 27.1.2022 - 14 ME 55/22 -, juris Rn. 5 m.w.N.) - unbeachtlich (vgl. Peters/Kujath in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 91 Rn. 6). Das in Beschwerdeverfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§ 146 Abs. 4 VwGO) herangezogene Argument, die Überprüfung des Beschwerdegerichts sei auf die verwaltungsgerichtliche Entscheidung zu beschränken, da es andernfalls zu einer erstmaligen materiell-rechtlichen Prüfung durch das Beschwerdegericht käme, die insbesondere dem Straffungs- und Beschleunigungsziel der besonderen Regelungen über die Beschwerde in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zuwiderliefe, ist auf Beschwerdeverfahren außerhalb des einstweiligen Rechtsschutzes nicht übertragbar. Das gilt insbesondere, wenn - wie hier - die Antragsänderung bereits mit der Beschwerdeeinlegung geltend gemacht wird. Wegen des vorgeschalteten Abhilfeverfahrens (§ 148 VwGO) kommt es nicht zur erstmaligen Prüfung durch das Beschwerdegericht; vielmehr hat das Verwaltungsgericht die Möglichkeit und Aufgabe, die erstmals im Beschwerdeverfahren begehrte Antragsänderung in seiner Abhilfeentscheidung zu berücksichtigen.

Die Antragsänderung ist auch als sachdienlich anzusehen (vgl. § 91 Abs. 1 Alt. 2 VwGO). Eine Klage- bzw. hier Antragsänderung ist in der Regel dann sachdienlich, wenn sie der endgültigen Beilegung des sachlichen Streits zwischen den Beteiligten im laufenden Verfahren dient und der Streitstoff bei Würdigung des Einzelfalls im Wesentlichen derselbe bleibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.1980 - IV C 61.77 -, juris Rn. 23). Die Sachdienlichkeit ist regelmäßig erst dann zu verneinen, wenn ein völlig neuer Streitstoff zur Entscheidung gestellt wird, ohne dass das Ergebnis der bisherigen Prozessführung verwertet werden könnte (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.8.1982 - 5 C 102.81-, juris Rn.10). Die Klägerin begehrt nunmehr statt der Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofes (III ZR 79/21) und des Bundesverwaltungsgerichts (3 B 29.21), die Aussetzung bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die gegen die - zwischenzeitlich getroffene - Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 17. März 2022 (III ZR 79/21) erhobene Verfassungsbeschwerde. Der Streitstoff bleibt dabei im Wesentlichen derselbe.

2. Auf die Beschwerde der Klägerin gegen den den Aussetzungsantrag nach § 94 VwGO versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts war der hierzu ergangene Nichtabhilfebeschluss vom 16. Juni 2022 aufzuheben und die Sache an das Verwaltungsgericht zur erneuten Abhilfeentscheidung über die Beschwerde der Klägerin zurückzuverweisen.

Wenn der (Nicht-)Abhilfebeschluss oder das Abhilfeverfahren - wie hier - an Mängeln leidet, ist das Beschwerdegericht im Rahmen des ihm obliegenden und zustehenden Ermessens befugt, den Nichtabhilfebeschluss wegen dieser Mängel aufzuheben und die Sache gemäß § 173 VwGO i. V. m. § 572 Abs. 3 ZPO zur erneuten Abhilfeentscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (vgl. OVG LSA, Beschl. v. 16.11.2021 - 1 O 85/21 -, juris Rn. 2; BayVGH, Beschl. v. 11.2.2015 - 5 C 15.81 -, juris Rn. 3 ff.; OVG Berl.-Bbg. Beschl. v. 1.7.2014 - 10 M 65/13 -, juris Rn. 6 m.w.N.; BayVGH, Beschl. v. 21.11.2019 - 11 C 19.1971 -, juris Rn. 12; VGH BW, Beschl. v. 30.3.2010 - 6 S 2429/09 -, juris Rn. 3; OVG NRW, Beschl. v. 31.8.2016 - 15 E 222/16 -, juris Rn. 29 ff.; NdsOVG, Beschl. v. 20.5.2014 - 11 PA 186/13 -, juris Rn. 7). Das in § 148 VwGO geregelte Abhilfeverfahren begründet die Pflicht des Verwaltungsgerichts, im Falle der Anfechtung seiner Entscheidung zunächst zu prüfen, ob die Beschwerde begründet ist, und ihr in diesem Fall abzuhelfen. Das Abhilfeverfahren dient dabei der Selbstkontrolle des Gerichts und soll auch im Interesse der Verkürzung der Verfahren eine kostenverursachende Befassung des Beschwerdegerichts mit der Sache vermeiden und dieses entlasten (vgl. BayVGH, Beschl. v. 11.2.2015 - 5 C 15/81 -, juris Rn. 3; OVG Berl.-Bbg. Beschl. v. 1.7.2014 - 10 M 65/13 -, juris Rn. 6 m.w.N.; Guckelberger in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 148 Rn. 1).

Wenn mit der Beschwerde neue Tatsachen vorgetragen werden, ist das Verwaltungsgericht verpflichtet, diese zu berücksichtigen und sich damit auseinanderzusetzen, weshalb auch ein Nichtabhilfebeschluss in diesem Fall ausnahmsweise begründet werden muss (vgl. OLG Berl.-Bbg., Beschl. v. 30.1.2008 - 13 W 66/07 -, juris Rn. 5;Guckelberger in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 148 Rn. 13).

Die Klägerin hat mit der Beschwerde erstmals geltend gemacht, dass gegen den Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 17. März 2022 (BGH III ZR 79/21) Verfassungsbeschwerde erhoben worden sei und die Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde beantragt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, sie gehe davon aus, dass ihr Antrag auf Entschädigung, der Gegenstand des Klageverfahrens vor dem Verwaltungsgericht Stade ist (6 A 559/21), neu zu bewerten sei, wenn die Norm des § 56 IfSG für verfassungswidrig erklärt würde. Der nicht begründete Nichtabhilfebeschluss lässt nicht erkennen, ob das Verwaltungsgericht die Begründung der Beschwerde zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Es kann vor allem nicht davon ausgegangen werden, dass das Verwaltungsgericht auch in Ansehung der Beschwerdebegründung schlicht an den Erwägungen in seinem Beschluss vom 24. Mai 2022 festhalten wollte, denn diese können aufgrund des veränderten Sachverhalts schon im Ansatz nicht mehr greifen.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass - sofern die Tatbestandsvoraussetzungen des § 94 Satz 1 VwGO vorliegen - die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens im richterlichen Ermessen liegt und den weiteren Verfahrensablauf in der ersten Instanz bestimmt, verweist der Senat die Sache zur erneuten Abhilfeentscheidung an das Verwaltungsgericht zurück.

Vorsorglich wird auf Folgendes hingewiesen: Sollte das Verwaltungsgericht unter Berücksichtigung des neuen Vorbringens dem Aussetzungsantrag der Klägerin nicht nachkommen, beschränkt sich die Prüfung des Beschwerdegerichts darauf, ob das Verwaltungsgericht die Grenzen seines Ermessens eingehalten und von seinem Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht hat. Eine Ermessensreduktion auf Null ist entgegen dem Vorbringen der Klägerin jedenfalls nicht erkennbar. Diese käme allein für den Fall in Betracht, dass ohne die Aussetzung eine sachgerechte Entscheidung nicht möglich wäre (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.12.2000 - 4 B 75.00 -, juris Rn. 7).

Außergerichtliche Kosten werden gemäß § 166 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).