Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.11.2004, Az.: 11 ME 322/04
Rechtmäßigkeit eines generellen präventiven Versammlungsverbots innerhalb eines definierten Korridors im Zusammenhang mit dem Transport von Castorbehältern; Gefahr einer unmittelbaren Gefährdungen bzw. Störungen der öffentlichen Sicherheit; Anwendbarkeit der Grundsätze des polizeilichen Notstands; Gefahr von Sachbeschädigungen auf der Schienenstrecke und Straßenstrecke; Differenzierung zwischen angemeldeten und unangemeldeten Versammlungen als milderes Mittel; Zweck einer Allgemeinverfügung; Maßgeblicher Zeitpunkt für die Gefahrenprognose; Möglichkeit des Nachschiebens von Gründen
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 06.11.2004
- Aktenzeichen
- 11 ME 322/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 37226
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2004:1106.11ME322.04.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 15 Abs. 1 VersG
- Art. 8 GG
- § 4 AtomG
Fundstellen
- DVBl 2005, 132 (amtl. Leitsatz)
- EurUP 2005, 45
- NVwZ-RR 2005, 820-822 (Volltext mit amtl. LS)
- Nds.MBl 2005, 181
- NdsVBl 2005, 49-52
- NordÖR 2004, 490-493 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Beschränkung des Versammlungsrechts aus Anlass des Castor-Transports im November 2004
Amtlicher Leitsatz
Zur Zulässigkeit eines präventiven Versammlungsverbots in Form einer Allgemeinverfügung
Gründe
Die Deutsche Bahn (DB) Nuclear Cargo und Service GmbH Hanau ist aufgrund einer vollziehbaren Genehmigung des Bundesamtes für Strahlenschutz in Salzgitter vom 27. April 2004 gemäß § 4 des Atomgesetzes berechtigt, bis einschließlich 31. Dezember 2004 radioaktive Abfälle aus der Wiederaufbereitungsanlage in La Hague in das dafür vorgesehene Zwischenlager Gorleben zu transportieren. Am 23. Oktober 2004 machte die Bezirksregierung Lüneburg - Antragsgegnerin - unter Anordnung der sofortigen Vollziehung eine auf § 15 Abs. 1 VersG gestützte Allgemeinverfügung bekannt, wonach u.a. alle unangemeldeten öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge für den Zeitraum vom 6. November 2004, 00.00 Uhr bis zum 16. November 2004, 24.00Uhr, und alle öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge für den Zeitraum vom 8. November 2004, 00.00 Uhr, bis zum 16. November 2004, 24.00 Uhr, in einem in einzelnen dargestellten Korridor untersagt wurden. Die Bürgerinitiative A. - Antragstellerin - meldete am 9. Oktober 2004 einen "Testlauf" unter dem Motto "fit gegen Castor" von Langendorf nach Groß Gusborn und von Groß Gusborn nach Langendorf aus beiden Richtungen für den 8. November 2004 von 13.00 - 15.00 Uhr nach § 14 VersG an. Die Antragsgegnerin teilte der Antragstellerin dazu mit Schreiben vom 26. Oktober 2004 mit, dass die Veranstaltung in den zeitlichen und räumlichen Geltungsbereich der Allgemeinverfügung falle und deshalb untersagt sei, ohne dass es einer individuellen Gefahrenprognose bedürfe. Nach Einlegung eines Widerspruchs gegen die Allgemeinverfügung suchte die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach. Durch Beschluss vom 3. November 2004 gab das Verwaltungsgericht diesem Antrag teilweise statt. Es stellte die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Allgemeinverfügung wieder her, soweit darin untersagt werden:
- a)
Angemeldete öffentliche Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel außerhalb des Bereichs der Schienentransportstrecke von Lüneburg nach Dannenberg (Geltungsbereich der Eisenbahnbau- und Betriebsordnung),
- b)
Unangemeldete öffentliche Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel außerhalb des Bereichs der Schienentransportstrecke von Lüneburg nach Dannenberg (Geltungsbereich der Eisenbahnbau- und Betriebsordnung) für den Zeitraum vom 6. November 2004, 00.00 Uhr, bis zum 7. November 2004, 24.00 Uhr.
Die Antragsgegnerin wurde ferner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, über die Anmeldung der Versammlung "Testlauf" der Antragstellerin bis zum 5. November 2004, 16.00 Uhr, auf Grund einer individuellen Gefahrenprognose erneut zu entscheiden.Im Übrigen lehnte es den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ab. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin, während die Antragstellerin kein Rechtsmittel eingelegt hat. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist damit nicht das vom Verwaltungsgericht als rechtmäßig bestätigte Versammlungsverbot für die Schienenstrecke und die Untersagung unangemeldeter öffentlicher Versammlungen ab 8. November 2004.
Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag der Antragstellerin in dem streitbefangenen Umfang zu Unrecht stattgegeben.
Die im Rahmen einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO jedenfalls im vorliegenden Fall auf Grund der Zeitknappheit allein mögliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage führt zu dem Ergebnis, dass das öffentliche Interesse an einer uneingeschränkten Durchsetzung der angefochten Allgemeinverfügung das Aufschubinteresse der Antragstellerin überwiegt. Die Allgemeinverfügung ist auch im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht beanstandete ausnahmslose Untersagung von angemeldeten öffentlichen Versammlungen außerhalb des Bereichs der Schienentransportstrecke von Lüneburg nach Dannenberg sowie von unangemeldeten öffentlichen Versammlungen außerhalb des genannten Bereichs für den Zeitraum vom 6. bis zum 7. November 2004 offensichtlich rechtmäßig. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts würde dazu führen, dass der von der Antragsgegnerin angeordnete Korridor von 50 m beiderseits sowohl der Bahnstrecke als auch der Straßenstrecke (einschließlich der aus der Allgemeinverfügung ersichtlichen Verbindungsstrecken der beiden alternativen Straßenrouten b und c) sowie näher bezeichnete Flächen um den Bahnhof in Lüneburg, die Umladestation in Dannenberg und den Eingang des Zwischenlagers vom generellen präventiven Versammlungsverbot in der sogenannten heißen Phase des Castor-Transports ausgenommen wären. Dies würde jedoch nach Auffassung des Senats zu unmittelbaren Gefährdungen bzw. Störungen der öffentlichen Sicherheit führen. Insbesondere liegen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass die Transportstrecke über einen möglichst langen Zeitraum von Castorgegnern blockiert werden soll und dabei auch Sachbeschädigungen in Kauf genommen werden. Es ist jedoch Aufgabe der Versammlungsbehörde und der Polizei, nicht nur im öffentlichen Interesse (u.a. ist die Bundesrepublik Deutschland aufgrund internationaler Verträge völkerrechtlich zur Rücknahme des wiederaufgearbeiteten atomaren Abfalls verpflichtet), sondern auch im Interesse der DB Nuclear Cargo und Service GmbH Hanau, der DB Cargo AG und der DB AG eine möglichst ungehinderte und zügige Durchführung des Castor-Transports zu gewährleisten. Dahinter muss das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) auf der Straßenroute und in dem 50 m breiten Bereich jeweils beidseits der Schienen- und Straßenstrecke während der Transportphase zurücktreten, zumal die Demonstranten ihren Protest auch außerhalb des Korridors in Sichtnähe zum Ausdruck bringen können (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.3.2001, NJW 2001, 1411, zum Castor-Transport im März 2001).
Der Senat teilt nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass für den bevorstehenden Castor-Transport die Grundsätze des polizeilichen Notstands nicht mehr anwendbar seien, weil die Gefahrenprognose der Antragsgegnerin hinsichtlich angemeldeter öffentlicher Versammlungen und Aufzüge nicht tragfähig sei. Es stützt diese Einschätzung darauf, dass sich die Zahl und die Aussagekraft der Gefahrenindizien erheblich gegenüber früher verändert habe. Zwar ist es richtig, dass - wie auch die Antragsgegnerin in der Allgemeinverfügung eingeräumt hat - die Gewaltbereitschaft und Aggressivität der Castorgegner insgesamt abgenommen hat. Gleichwohl besteht weiterhin in der gesamten von der Allgemeinverfügung erfassten Fläche eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Es ist nach wie vor das erklärte Ziel eines nicht unwesentlichen Teils der Castorgegner, den Castor-Transport durch Blockaden aufzuhalten oder ihn zumindest zu erschweren. Insbesondere die Initiative "X-tausendmal quer" und die Gruppe "Widersetzen" rufen ihre Anhänger zu Blockadeaktionen auf der Transportstrecke auf. So kündigte ein Sprecher der Initiative "X-tausendmal quer" in einer Internetmitteilung vom 14. Oktober 2004 eine "große gewaltfreie Sitzblockade auf der Straße" an (vgl. Anlage 17 zur Allgemeinverfügung). Die Gruppe "Widersetzen" plant ebenfalls Blockaden, eine in Langendorf auf der nördlichen Straßenstrecke und die andere in Groß Gusborn auf der Südstrecke. In dem entsprechenden Aufruf heißt es: "Falls der Castor-Zug Dannenberg erreichen sollte, wird es höchste Zeit zum WiderSetzen. Wir brauchen Euch in Groß Gusborn und Langendorf. Auf der Straße ist Platz für viele tausend Menschen" (Anlage 18 zur Allgemeinverfügung). Wie aus dem von der Antragsgegnerin erstellten Protokoll zum Kooperationsgespräch vom 18. Oktober 2004 hervorgeht, erklärten die an ihm beteiligten Initiativen, dass sie an den Schienen- und Straßenblockaden festhalten wollten. Zwar bestreitet die Antragstellerin, dass ihre Vertreter bei diesem Gespräch irgendwelche Blockadeabsichten erklärt hätten. Sie hätten lediglich betont, dass der Widerstand vielfältig sei und unterschiedliche Aktionen und Veranstaltungen geplant seien. Allerdings sei es richtig, dass der Vertreter von "Widersetzen" und "X-tausendmal quer" die Absicht zur friedlichen Blockaden bekräftigt habe. Die Antragstellerin muss sich insofern aber entgegenhalten lassen, dass sie selbst in der Anzeige in der Elbe-Jeetzel-Zeitung vom 3. November 2004 zumindest den Eindruck erweckt hat, sich in gewisser Weise an Blockadeaktionen zu beteiligen. Dort heißt es: "Bewegung Bewegung !" Mitgehen-RumStehen-AusSitzen. ... Wer wird denn glauben, wir würden uns nicht wehren!...Bleiben Sie, wo es Ihnen passt, ob an Schiene oder Straße oder im Kulturzelt! Und daran denken: Wenn die Beine müde sind: hinsetzen! Und sich nicht entmutigen lassen!". Wie einem Bericht der taz vom 3. November 2004 zu entnehmen ist, trafen sich am 2. November 2004 die Vertreter von 15 norddeutschen Anti-Atom-Gruppen in der Hamburger Roten Flora und präsentierten ihre Konzepte gegen den Castor-Transport. In dem Artikel heißt es: "Dabei stehen erneut zahlreiche Schienen- und Straßenblockaden auf der Castor-Route im Vordergrund. Sie sollen den Transport immer wieder verlangsamen oder zeitweise ganz zum Erliegen bringen: Aktionen sind auf der gesamten Transportstrecke vorgesehen, auf der ab Sonntagabend die strahlende Fracht erwartet wird...Für die 'heiße Phase' Anfang kommender Woche rechnen die Initiativen mit 3000 bis 5000 AtomkraftgegnerInnen. Dabei werde es wieder zu 'spektakulären Aktionen' kommen, kündigte eine Sprecherin von Robin Wood an". Die Antragstellerin, die mit einer Vertreterin an der Pressekonferenz vom 2. November 2004 in Hamburg teilgenommen hatte, bestreitet die Aussagen des Berichts in der "taz" nicht. Sie weist lediglich darauf hin, dass jede einzelne Widerstandsgruppe eigenständig und eigenverantwortlich über ihre Pläne anlässlich des bevorstehenden Castor-Transports berichtet habe und es keine gemeinsame Erklärung gegeben habe. Die Initiative "X-tausendmal quer" hat in ihrer Internetseite vom 3. November 2004 nochmals darauf hingewiesen, dass sie in diesem Jahr sich "auf eine große gewaltfreie Sitzblockade auf der Straßen- Transportstrecke zwischen Dannenberg und Gorleben" vorbereite und die große Blockadeaktion "Widersetzen" an der Nord- und Süd-Transportstrecke zwischen Dannenberg und Gorleben stattfinden werde. Beide Aktionen werden auch auf einem von der Antragstellerin herausgegebenen Flugblatt mit der Überschrift "Grüne Wochen im Wendland" angekündigt. Aus diesen Verlautbarungen geht eindeutig hervor, dass jedenfalls die Gruppen "X-tausendmal quer" und "Widersetzen" - wie in den vergangenen Jahren - Blockaden der Transportstrecke beabsichtigen. Diese Aktionen gehen über möglicherweise zulässige kurzfristige symbolische bzw. demonstrative Blockaden (vgl. dazu Tröndle/Fischer, StGB und Nebengesetze, Kommentar, 52. Aufl.2004, § 240 StGB RdNr. 24) hinaus. Es ist erklärtes Ziel eines Teils der Castorgegner, den Castor-Transport durch große Blockadeaktionen möglichst lange aufzuhalten und zu erschweren. Derartige Verhinderungsblockaden, die nicht nur Protest ausdrücken, sondern das realisieren wollen, was missbilligt wird, sind aber nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckt und von vornherein rechtswidrig (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001, BVerfGE 104, 92; Hoffmann-Riem, NVwZ 2002, 257, 259 f.; Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 13. Aufl., § 15 VersG RN 137). Die beabsichtigte Verhinderung bzw. Erschwerung der genehmigten Castor-Transporte verstößt deshalb gegen die öffentliche Sicherheit.
Es gibt außerdem Indizien dafür, dass über die reinen Blockadeaktionen hinausgehend auch Sachbeschädigungen auf der Schienen- und Straßenstrecke geplant sind. In einem Aufruf der Gruppe "mar-militante atomkraftgegnerInnen reloaded" vom 15. Oktober 2004, der bei "de.indymedia.org" veröffentlicht wurde, heißt es unter der Überschrift "Gorleben im November 2004: No Risk No Fun!" : "Dies ist ein Aufruf an alle Linksradikalen und Autonomen sich an dem Protesten rund ums Wendland wieder entschlossen und massiv zu beteiligten... Wir gehen von dem Grundgedanken aus, den ökonomischen wie politischen Preis, den die Atomlobby und der Staat für die Durchführung der Transporte zu zahlen haben, immens zu erhöhen. Damit ist auch eine wesentliche Erhöhung materieller Schäden gemeint". Der Artikel endet mit dem Aufruf: "Deutschland zerlegen, den Atomstat demontieren! Schraube für Schraube, Schiene für Schiene! no risk, no fun!". Das Verwaltungsgericht hat diesen Internetaufruf als Ausnahmefall bezeichnet, der nicht den Erlass einer Allgemeinverfügung rechtfertige. Die Antragsgegnerin hat in dem Beschwerdeverfahren jedoch darauf hingewiesen, dass es weitere Belege für gewalttätige Aktionen auf und an der Straßen- und Schienentransportstrecke gebe. So wird auf den Internetseiten "www.contratom.de" und "www.grüne-buchholz.de" zur Aktion "BrückeBesetzt" amTag X aufgerufen. In der Ankündigung heißt es weiter "Macht Euch bemerkbar in einem Tunnel unter der Castor-Trasse." Ferner ist ein "Widerstandsnest" an der Schienenstrecke am Transporttag in Metzingen geplant, wie der Interseite der Antragstellerin vom 3. November 2004 zu entnehmen ist. In dem dazugehörigen Link wird auf "Gemeinsame Aktionen" hingewiesen, zu denen unter dem Motto "Wir machen Arbeit" u.a. "Geländespiele in frischer Waldluft" gehören. Dagegen ist die weiter von der Antragsgegnerin angeführte Internetseite "www.projektwerkstatt.de/spiel/inex.html" für den diesjährigen Castor-Transport nicht verwertbar. Sie stammt - worauf die Antragstellerin zu Recht hingewiesen und was der Senat überprüft hat - aus dem Jahr 2002.
Neben diesen Aktionen scheint ein Teil der Protestszene auch eine Strategie der Unberechenbarkeit zu verfolgen. Dies lässt sich an einer Ankündigung der "Bäuerlichen Notgemeinschaft" vom 4. November 2004 auf der Internetseite der Antragstellerin ablesen. Dort heißt es: "Unerwartete Aktionen werden dort stattfinden, wo niemand damit rechnet, wo sich die Polizei auf Riesen-Action einstellt, wird sie möglicherweise nur mit sich selbst zu tun haben. Nichts ist planbar - und das ist 'unsere Stärke'. Angemeldete Veranstaltungen werden die Hüter der Ordnung in Bewegung, die Einsatzleiter zur Verzweiflung bringen. Genauso unberechenbar werden sich Menschen aber auch andernorts treffen, dort, wo Protest auch noch Wirkung haben kann." Es besteht deshalb die ernsthafte Gefahr, dass polizeiliche Kräfte an bestimmte Orte "gelotst" und dadurch gebunden werden, während gleichzeitig anderenorts Blockade- und Sabotageaktionen vorgenommen werden. Eine ständige lückenlose Präsenz der Polizeikräfte an der Transportstrecke ist angesichts der Weite des Raumes und der Topografie kaum möglich, zumal diese einen umfassenden Schutzauftrag zu erfüllen haben, der auch die Begleitung und Bewachung des Castor-Transportes einschließt. Es bestehen deshalb erhebliche Bedenken, ob ohne das angeordnete generelle präventive Versammlungsverbot auf der dafür vorgesehenen Fläche die zur Verfügung stehenden Polizeikräfte ihren Auftrag wirksam erfüllen können. Die lange Transportstrecke ist zum Teil schwer zu kontrollieren. Eisenbahn und Straßen führen durch Wälder, über Brücken und stellenweise auch durch grabenförmige Täler.
Auch die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Differenzierung zwischen angemeldeten und unangemeldeten Versammlungen erscheint nicht geeignet, Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung effektiv zu unterbinden. Ein eingegrenztes punktuelles Vorgehen gegen Störer, insbesondere auch ihre Trennung von friedfertigen Demonstranten, ist häufig nur schwer möglich. Die Begleitung des Castor-Transports stellt angesichts der langen Transportstrecke und der großen Zahl auch in diesem Jahr wieder angemeldeter (nach Angaben der Antragsgegnerin waren bis zum 5.11.2004 allein 64 Veranstaltungen angemeldet, davon 7 im räumlichen und zeitlichen Bereich der Allgemeinverfügung) und unangemeldeter Versammlungen und sonstiger "Aktionsformen" mit zum Teil vielen, aber teilweise auch wenigen Teilnehmern, die gerade bei unangemeldeten Versammlungen schwer zu "orten" sind, zumal dann, wenn diese sich nach Aufforderung nicht entfernen oder aber nur zum Schein fortbewegen und an anderer Stelle erneut die Transportstrecke blockieren wollen, eine außergewöhnlich komplexe und schwierige polizeiliche Aufgabe dar. Diese Aufgabe ist nur durch Hinzuziehung des Bundesgrenzschutzes und einer großen Zahl von Polizeikräften anderer Länder (nach Zeitungsangaben - HAZ v. 4.11.2004 - sollen beim Castor-Transport 2003 rund 12500 Beamte eingesetzt gewesen sein, während sich in diesem Jahr "etwas weniger" Polizisten bereithalten sollen) zu bewältigen, die jedoch nicht in unbegrenzter Zahl zur Verfügung stehen (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerfG, Beschl. v. 26.3.2001, a.a.O.).
Nach alledem gelangt der Senat entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 26.3.2001, a.a.O.) in vollem Umfang erfüllt sind. Soweit das Verwaltungsgericht rückblickend im angefochtenen Beschluss für den Castor-Transport im November 2003 die Annahme eines polizeilichen Notstands verneint hat, stellt sich der Senat die Frage, wie sich die Dinge ohne die Allgemeinverfügung damals tatsächlich entwickelt hätten. Die vom Verwaltungsgericht stattdessen vertretene Lösung des Verzichts auf den 50 m Korridor beidseits der Transportstrecke, was eine individuelle Prüfung der jeweils angemeldeten Veranstaltungen während des fraglichen Zeitraums erforderlich macht, ist nicht gleichermaßen geeignet, den aufgezeigten Gefahren für die öffentliche Sicherheit wirksam zu begegnen. Das Gleiche gilt auch für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, unangemeldete öffentliche Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel außerhalb des Bereichs der Schienentransportstrecke für den Zeitraum vom 6. bis zum 7. November 2004 vom generellen Untersagungsverbot auszunehmen. Da der Castor-Transport nach Medieninformationen voraussichtlich im Laufe des Samstag, den 6. November 2004, im französischen La Hague starten soll, wird damit gerechnet, dass er in der Nacht von Sonntag auf Montag im Bahnhof in Lüneburg eintreffen und anschließend nach Dannenberg weiterfahren wird. Angesichts dieser zeitlichen Nähe erscheint das Verbot unangemeldeter öffentlicher Versammlungen bereits für den 6. und 7. November 2004 sachgerecht. Darüber hinaus hat der Senat Zweifel, ob es sich wirklich um Spontanversammlungen handeln würde, für die eine Anmeldung nach § 14 VersG entbehrlich wäre. Darunter versteht man nämlich Aktionen, die ungeplant und unaufschiebbar auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren (vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 26.3.2001, a.a.O.). Im vorliegenden Fall ist aber seit längerem bekannt, dass ein Castor-Transport bevorsteht. Die Lahmlegung von Verkehrswegen, auf denen ein genehmigter Castor-Transport stattfinden soll, ist auch dann rechtswidrig, wenn es sich lediglich um Probeblockaden handelt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.2.2000, NVwZ 2000, 1201).
Demgegenüber kann sich die Antragstellerin nicht mit Erfolg darauf berufen, dass sie selbst friedlich demonstrieren wolle und keine Blockade der Schienen- und Straßenstrecke beabsichtige. Darauf kommt es bei der hier vorliegenden Allgemeinverfügung nicht entscheidungserheblich an. Denn eine Allgemeinverfügung dient der Regelung bestimmter zukünftiger Sachverhalte gegenüber allen potentiell hiervon Betroffenen (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 35 RN 203 und 211). Sie betrifft deshalb nicht nur die Antragstellerin, sondern alle in Betracht kommenden Demonstrationsteilnehmer. Ist aber - wie hier - von einem nicht unwesentlichen Teil der Castorgegner eine rechtswidrige Blockade der für den Castor-Transport vorgesehenen Verkehrswege geplant, kommt es grundsätzlich nicht auf die Absichten und das Verhalten der Antragstellerin an, zumal die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, dass gewaltbereite Demonstranten sich Veranstaltungen der Antragstellerin anschließen und für ihre Zwecke nutzen. Aus diesem Grund ist auch den Ausführungen der Antragstellerin zu der Behauptung der Antragsgegnerin, dass sämtliche maßgeblichen Gruppen für den bevorstehenden Castor-Transport ein gemeinsames geschlossenes Widerstandskonzept realisieren wollten, nicht weiter nachzugehen. Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass zumindest Anhaltspunkte bestehen, dass auch die Antragstellerin zumindest vorübergehende Blockierungen der Transportstrecke nicht völlig ausschließen scheint (vgl. dazu die bereits erwähnte Zeitungsanzeige in der Elbe-Jeetzel-Zeitung vom 3.11.2004). Außerdem fehlt jegliche Distanzierung von den Blockadeaktionen, welche die Gruppen "X-tausendmal quer" und "Widersetzen" beabsichtigen. Das zitierte Flugblatt der Antragstellerin "Grüne Wochen im Wendland" enthält darüber hinaus Hinweise auf die von den genannten Gruppen geplanten Aktionen.
Des Weiteren führt auch der Einwand der Antragstellerin, dass das Nachschieben von Gründen durch die Antragsgegnerin im vorliegenden Verfahren unzulässig sei, nicht zum Erfolg. Zwar ist es richtig, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Gefahrenprognose nach § 15 Abs. 1 VersG die Verhältnisse bei Erlass der Entscheidung der Versammlungsbehörde sind. Allerdings ist es nach § 114 Satz 2 VwGO zulässig, Ermessenserwägungen nachzuschieben, die bei Erlass des Bescheides bereits vorgelegen haben. Außerdem bestehen keine durchgreifende verfahrensrechtlichen Bedenken dagegen, Umstände, die erst nach diesem Zeitpunkt eingetreten bzw. bekannt geworden sind, ergänzend heranzuziehen, soweit diese die bisher getroffene Gefahrenprognose lediglich bestätigen bzw. untermauern. Etwas anderes würde allerdings dann gelten, wenn es sich um völlig neue Tatsachen handeln würde, die zu einer Wesensänderung des Bescheides führen würden. In einem solchen Fall wäre auch im Hinblick auf das Problem der Bekanntmachung eine neue Allgemeinverfügung notwendig. So verhält es sich hier aber nicht. Der Senat hat bei seiner Entscheidung auch keine Erkenntnisse oder Sachverhalte berücksichtigt, die erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens von der Antragsgegnerin vorgetragen sind, aber zwischen den Beteiligten in tatsächlicher Hinsicht streitig sind.
Da der von der Antragstellerin für den 8. November 2004 geplante "Testlauf" in den zeitlichen und räumlichen Geltungsbereich der vom Senat als offensichtlich rechtmäßig angesehenen Allgemeinverfügung fällt (er soll auf der Verbindungsstrecke Groß Gusborn nach Langendorf stattfinden) und dementsprechend verboten ist, bedurfte es insoweit keiner individuellen Prüfung durch den Senat.