Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 20.11.2002, Az.: 11 ME 406/02

Duldung; Gesundheitssystem; Grüne Karte; Oberschenkelfraktur; Türkei; Türkei: Gesundheitssystem

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
20.11.2002
Aktenzeichen
11 ME 406/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 41889
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 24.10.2002 - AZ: 11 B 3489/02

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zu den dringenden humanitären oder persönlichen Gründen iSd § 55 Abs. 3 AuslG kann auch die Fortführung oder der Abschluss einer im Heimatland nicht gewährleisteten medizinischen Behandlung gehören (hier verneint für die Nachbehandlung einer vor ca 1 1/4 Jahren erlittenen und osteosynthetisch versorgten Oberschenkelfraktur in der Türkei).

Gründe

1

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den angefochtenen Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht seinen Antrag abgelehnt hat, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von seiner Abschiebung abzusehen, bevor die ärztliche Nachbehandlung der erlittenen „proximalen Femurfraktur“ beendet ist, bleibt ohne Erfolg. Das Beschwerdevorbringen führt zu keinem anderen Ergebnis.

2

Der Antragsteller, der unanfechtbar ausreisepflichtig ist, erlitt am 11. August 2001 eine Schenkelhalsfraktur, die operativ versorgt wurde („Nagelung“). Wegen der erforderlichen Nachbehandlung erteilte ihm die Antragsgegnerin jeweils Duldungen, zuletzt bis Anfang August 2002. Ein Anspruch auf weitere Duldung steht dem Antragsteller jedoch voraussichtlich nicht zu.

3

Nach der hier maßgeblichen Vorschrift des § 55 Abs. 3 AuslG kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Dazu kann auch die Fortführung oder der Abschluss einer im Heimatstaat nicht gewährleisteten medizinischen Behandlung gehören (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: Dezember 2000, § 55 AuslG Rdnr. 56; Renner, AuslR, 7. Aufl., § 55 AuslG Rdnr. 13; GK-AuslR, Stand: April 2001, § 55 AuslG Rdnr. 51). Es reicht jedoch nicht jede im Herkunftsland zu erwartende gesundheitliche Beeinträchtigung aus. Vielmehr muss die konkrete Gefahr bestehen, dass sich der Gesundheitszustand in einem nicht unwesentlichem Maße verschlechtern bzw. der Genesungsprozess bei einer bereits begonnenen Behandlung unzumutbar verzögern könnte. Ein ausreisepflichtiger Ausländer kann auch unter Berücksichtigung von Art. 3 EMRK grundsätzlich nicht verlangen, im Bundesgebiet zu bleiben, um eine optimale medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen (vgl. EGMR, Entscheidung v. 15.2.2000, InfAuslR 2000, 421). Hiervon ausgehend bestehen keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass die in Deutschland begonnene medizinische Behandlung des Antragstellers in der Türkei nicht erfolgreich abgeschlossen werden kann.

4

Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes im jüngsten Lagebericht vom 9. Oktober 2002 (S. 49 f.) gibt es in der Türkei neben dem staatlichen Gesundheitssystem, das eine medizinische Grundversorgung garantiert, mehr und mehr leistungsfähige private Gesundheitseinrichtungen, die in jeglicher Hinsicht EU-Standards entsprechen. In den großen Städten und für Personen mit den erforderlichen Mitteln sei eine medizinische Versorgung im Allgemeinen auf demselben Niveau möglich wie in Deutschland. Dagegen liege im Osten des Landes, außerhalb der Städte und/oder für mittellose Personen das Versorgungsniveau unter dem deutschen. Der Antragsteller, der aus der Provinz Bingöl im Südosten der Türkei stammt, ist jedoch nicht verpflichtet, die noch ausstehende Entfernung des bei der Operation eingefügten Osteosynthesematerials in einer Gesundheitseinrichtung im Südosten der Türkei vornehmen zu lassen. Vielmehr ist er auf die Behandlungsmöglichkeiten in Städten wie Istanbul, Ankara oder Izmir zu verweisen. Nach dem von ihm selbst eingereichten Attest des Facharztes für Orthopädie Herken (Hannover) sollte das Osteosynthesematerial sogar schon ein Jahr – in einer anderen von ihm vorgelegten Bescheinigung der Unfallchirurgie des Friederikenstiftes B. ist die Rede von 1 ? bis 2 Jahren – nach der Operation entfernt werden. Der Antragsteller hat auch nicht geltend gemacht, dass ihm die dafür erforderlichen finanziellen Mittel fehlen. Gegebenenfalls könnte er sich die sog. „Grüne Karte“ ausstellen lassen, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 9.10.2002, S. 49). Da nach alledem eine ausreichende Nachbehandlung des Antragstellers in westtürkischen Städten gesichert erscheint, kommt es nicht darauf an, ob ihm eine längere Busreise vom Zielflughafen bis zu seinem Heimatort im Osten der Türkei gesundheitlich zuzumuten ist. Seine grundsätzliche Reisefähigkeit, die bereits am 13. März 2002 amtsärztlich bejaht wurde, hat der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren nicht in Zweifel gezogen.