Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.11.2002, Az.: 12 PA 717/02

freie Wohlfahrtspflege; gebrauchte Kleidung; Kleiderkammer; Leben im Freien; Obdachlosigkeit; Prozesskostenhilfe

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
06.11.2002
Aktenzeichen
12 PA 717/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 43604
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 16.10.2002 - AZ: 4 B 1770/02

Gründe

1

Der bei der Rechtsantragsstelle des Oberverwaltungsgerichts am 21. Oktober 2002 sinngemäß angebrachte Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein beabsichtigtes Beschwerdeverfahren hat nur in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

2

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das beabsichtigte Rechtsmittel scheitert nicht bereits daran, dass der Antragsteller den Prozesskostenhilfeantrag nicht ordnungsgemäß innerhalb der für die Einlegung der Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts in § 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO bestimmten Zweiwochenfrist, die am 30. Oktober 2002 abgelaufen ist, gestellt hat. Zur Ordnungsmäßigkeit der Antragstellung gehört u.a., dass innerhalb der Rechtsmittelfrist der nach §§ 166 VwGO, 117 Abs. 2 bis 4 ZPO, 1 Abs. 1 PKHVV erforderliche Vordruck mit der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt wird (vgl.: Beschl. d. Sen. v. 25.9.2002 - 12 PA 618/02 -; Olbertz, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner <Hrsg.>, VwGO, Loseblattsammlung, Stand: Januar 2002, § 166, Rn. 12 m.w.N.). Der Antragsteller hat diesen Vordruck erst am 4. November 2002 eingereicht. Ihm ist insoweit jedoch gemäß § 60 Abs. 1 und 2 VwGO von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er ohne Verschulden verhindert war, die genannte gesetzliche Frist einzuhalten. Es ist davon auszugehen, dass dem Antragsteller die Verpflichtung zur Abgabe der Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unter Zuhilfenahme des hierfür eingeführten Vordrucks nicht bekannt war. Er ist auf dieses Erfordernis auch bei der Anbringung seines Antrags bei der Rechtsantragsstelle des Gerichts nicht hingewiesen worden. Der erforderliche Vordruck wurde ihm durch den Berichterstatter des Senats unter dem 1. November 2002 übersandt.

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Die hinreichende Erfolgsaussicht, die neben der gegebenen Bedürftigkeit des Antragstellers gemäß §§ 166 VwGO, 114 ZPO für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung eines Rechtsanwalts erforderlich ist, hat die beabsichtigte Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts lediglich im Hinblick auf die begehrte einmalige Beihilfe für die in dem Tenor des Beschlusses genannten Bekleidungsstücke.

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Der Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO steht nicht entgegen, dass der Antragsteller bisher soweit ersichtlich noch nicht formell Widerspruch gegen die Behandlung seines Antrags vom 9. Oktober 2002 durch die für den Antragsgegner handelnde Stadt Stade (im Folgenden: Antragsgegner) eingelegt hat (vgl. dazu allgemein: Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl. 2000, § 123, Rn. 18). Da nach Aktenlage bisher kein schriftlicher Bescheid mit einer Rechtsbehelfsbelehrung nach § 58 Abs. 1 VwGO ergangen ist, kann der Rechtsbehelf noch innerhalb der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO eingelegt werden.

5

In der Sache ist es entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts fraglich, ob der Antragsgegner den Antragsteller wegen der Deckung des - zwischen den Beteiligten unstreitigen - Bedarfs an (warmer) Oberbekleidung darauf verweisen durfte, gebrauchte Bekleidung aus der Kleiderkammer des Deutschen Roten Kreuzes in Anspruch zu nehmen.

6

Der zuständige Träger der Sozialhilfe darf sich seiner Pflicht zur Hilfeleistung grundsätzlich nicht dadurch entziehen, dass er einen Hilfesuchenden unter Berufung auf die Selbsthilfeverpflichtung aus § 2 Abs. 1 BSHG und unter Außerachtlassung des Regelungsgehalts des § 78 BSHG anhält, sich um eine Deckung seines Bedarfs in der freien Wohlfahrtspflege zu bemühen. Etwas anderes könnte hier gelten, falls es zwischen dem Antragsgegner und dem Deutschen Roten Kreuz eine Absprache gäbe, die die Hilfeleistung durch die Kleiderkammer quasi dem Antragsgegner zuordnete (dazu allgemein: OVG Saarlouis, Beschl. v. 27.7.1990 -1 W 121/90 -, FEVS 41, 71, 73; W. Schellhorn/H. Schellhorn, BSHG, 16. Aufl. 2002, § 12, Rn. 27; § 78, Rn. 2; Fichtner <Hrsg.>, BSHG, 1999, § 12, Rn. 34). Hierzu wird der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren weiter vortragen können.

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Ferner ist die Frage, ob sich der nach §§ 11, 12 BSHG sicherzustellende Lebensbedarf, was Oberbekleidung anbetrifft (von Ausnahmefällen wie gut erhaltenen Kleidungsstücken für Kinder oder für besondere Anlässe abgesehen), unter Berücksichtigung der in §§ 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 4 Abs. 2 und 8 Abs. 1 BSHG enthaltenen Rechtsgrundsätze auf ladenneue Kleidung erstreckt oder auch durch gut erhaltene Gebrauchtkleidung befriedigt werden kann, in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Der erkennende Senat hat hierüber in grundsätzlicher Form noch nicht entschieden. Allerdings bejaht der 4. Senat des Gerichts in ständiger Rechtsprechung einen regelmäßigen Anspruch auf ladenneue Kleidung (z.B.: Beschl. v. 15.4.1986 - 4 B 75/86 -, FEVS 36, 327 f.; Beschl. v. 4.6.1987 - 4 B 83/87 -; für die Zumutbarkeit von Gebrauchtkleidung dagegen: OVG Saarlouis, Beschl. v. 27.7.1990, a.a.O., 74; OVG Koblenz, Beschl. v. 20.9.2000 - 12 A 11092/00 -, FEVS 52, 109; W. Schellhorn/H. Schellhorn, a.a.O., § 12, Rn. 27; vgl. auch: BVerwG, Urt. v. 14.3.1991 - 5 L 70.86 -, FEVS 41, 397 ff., betreffend die Zumutbarkeit einer gebrauchten Matratze). Vor diesem Hintergrund ist dem Antragsteller im Hinblick auf die beantragte Oberbekleidung, soweit sie im Tenor dieses Beschlusses aufgeführt ist, PKH zu bewilligen.

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Gleiches gilt im Ergebnis für die begehrten warmen wasserdichten Schuhe sowie die beantragte Winterunterwäsche - der Senat nimmt an, dass sich der Antrag insoweit auf zwei Garnituren richtet - und die verlangten zwei Paar Wollstrümpfe. Die Fragen, ob der Antragsgegner für die Schuhe anstelle einer Geldzahlung einen Gutschein gewähren durfte, ob der auf diese Weise bewilligte Betrag von 30 € ausreichte und ob die Winterunterwäsche und die Wollstrümpfe mit den in der Form von Tagessätzen gewährten Regelsatzleistungen als abgegolten angesehen werden können, lassen sich jedenfalls nicht mit der von dem Verwaltungsgericht angenommenen Eindeutigkeit bejahen.

9

Dagegen ist die nach §§ 166 VwGO, 114 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht des von dem Antragsteller beabsichtigten Beschwerdeverfahrens für die übrigen Hausratgegenstände und Bekleidungsstücke, für die der Antragsteller am 9. Oktober 2002 bei dem Antragsgegner die Gewährung einer einmaligen Beihilfe beantragt hat, nicht ersichtlich.

10

Den Kulturbeutel und die Erste-Hilfe-Tasche bewertet der Senat als Hausratsgegenstände von geringem Anschaffungswert, die den Regelsatzleistungen, in deren Genuss auch der Antragsteller gekommen ist, unterfallen.

11

Dass dem Antragsteller eine Beihilfe für die Beschaffung eines wintertauglichen Schlafsacks, einer Isomatte , einer Thermoskanne, eines Spirituskochers und eines Rucksacks nicht gewährt werden kann, weil der Antragsteller als Obdachloser diese Gegenstände zum Leben im Freien während der kalten Jahreszeit verwenden will, hat das Verwaltungsgericht in nicht zu beanstandender Weise ausgeführt. Der Senat ergänzt diese Gruppe von Gegenständen noch um den beantragten Regenponcho, der neben der in der Gruppe der Oberbekleidung erfassten Regenjacke ansonsten überflüssig wäre. Zwar hat der Staat nicht die Aufgabe, seine erwachsenen Bürger zu „bessern“ (vgl. zur Unzulässigkeit einer zwangsweisen Unterbringung mit diesem Ziel: BVerfG, Urt. v. 18.7.1967 – 2 BvF 3/62 u.a. -, BVerfGE 22, 180, 218 ff). Hierum geht es im vorliegenden Fall jedoch nicht. Vielmehr geht es um die Frage, ob der Antragsgegner als Sozialhilfeträger verpflichtet ist, das von dem Antragsteller beabsichtigte gesundheitsschädliche Leben im Freien während der kalten Jahreszeit durch die Finanzierung eines wintertauglichen Schlafsacks und weiterer für das Leben „auf der Straße“ erforderlicher Utensilien zu unterstützen. Dies ist zu verneinen, da Obdachlosigkeit in menschenwürdiger Weise durch die Finanzierung einer Wohnung oder die Zurverfügungstellung einer Unterkunft behoben werden muss (vgl. zum Ganzen: OVG Koblenz, Beschl. v. 11.12.1990 - 12 B 12500/90 -, FEVS 41, 252 ff.; H. Schellhorn/W. Schellhorn, a.a.O., § 72, Rn. 37). In diesem Zusammenhang weist der Senat im Hinblick auf die von dem Antragsteller geltend gemachte Katzenhaarallergie darauf hin, dass nach einer telefonisch eingeholten Erklärung des Antragsgegners in der städtischen Obdachlosenunterkunft der Stadt Stade Katzen nicht erlaubt sind.