Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 14.04.2021, Az.: 13 FEK 343/20

Bindung an Antrag; Entschädigung; immaterieller Schaden; unangemessene Verfahrensdauer; Überlange Verfahrensdauer

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
14.04.2021
Aktenzeichen
13 FEK 343/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 71145
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - AZ: 11 A 3149/18

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Überlänge eines durchschnittlichen ausländerrechtlichen Hauptsacheverfahrens mit überdurchschnittlicher Bedeutung für den Kläger.

Tenor:

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 600 EUR zu zahlen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger macht eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens geltend.

Gegenstand des Ausgangsverfahrens, dessen Überlänge der Kläger rügt, ist die Ausweisung des Klägers und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre.

Der Kläger, ein algerischer Staatsangehöriger, wurde mit Bescheid des Landkreises Aurich vom 16. Juli 2018 u.a. ausgewiesen (Ziffer 1), das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf fünf Jahre ab Ausreise befristet (Ziffer 4). Am 16. August 2018 erhob der Kläger gegen die genannten Ziffern des Bescheids Klage beim Verwaltungsgericht Oldenburg. Zur Begründung führte er aus, dass er mit einer deutschen Staatsangehörigen verlobt sei und mit dieser ein erstes gemeinsames Kind, dessen voraussichtlicher Geburtstermin für den 12. September 2018 errechnet sei, erwarte, wofür er zugleich entsprechende Unterlagen vorlegte. Jedenfalls könne nach der Geburt des Kindes nicht an der angeordneten Wiedereinreisesperre von fünf Jahren festgehalten werden. Entsprechende Ermessenserwägungen fehlten in dem Bescheid. Zudem entspreche es dem Kindeswohl, wenn beide Elternteile an der Erziehung und im Umgang teilhätten. Zugleich wurde eine vergleichsweise Einigung dahingehend angeregt, dass sich die Beteiligten auf die Rechtmäßigkeit der Ausweisung verständigen und eine einvernehmliche Befristungsabrede treffen. Es wurde Einverständnis mit einer Übertragung auf als auch mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt. Auf mündliche Verhandlung wurde vorläufig nicht verzichtet.

Der Landkreis Aurich beantragte mit Schriftsatz vom 10. September 2018, die Klage abzuweisen. Zur Begründung verwies er auf den Bescheid vom 16. Juli 2018 und erklärte sich mit einer Übertragung des Verfahrens auf den Einzelrichter einverstanden.

Mit Schriftsatz vom 18. September 2018 bekundete der Kläger ausdrücklich seinen Willen zur Fortführung des Verfahrens, auch wenn er zwischenzeitlich abgeschoben worden sei. Zugleich wurde die Geburtsurkunde seines Sohnes, in der der Kläger als Kindsvater eingetragen ist, übersandt. Hierzu nahm der Landkreis Aurich mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2018 Stellung und nahm aufgrund der Geburt des Kindes eine neue Interessenabwägung vor, wobei er zum gleichen Ergebnis gelangte wie im Bescheid vom 16. Juli 2018. Dieser Schriftsatz wurde mit Verfügung vom 9. Oktober 2018 an den Kläger übersandt und zugleich eine Wiedervorlagefrist von drei Monaten verfügt. Mit Verfügungen vom 9. Januar 2019 und 15. Juli 2019 wurden weitere Wiedervorlagen jeweils in sechs Monaten festgelegt.

Mit Schriftsatz vom 13. September 2019 teilte der jetzige Prozessbevollmächtigte des Klägers dem Gericht mit, dass er das Mandat nunmehr übernommen habe und das Mandat des vorherigen Prozessbevollmächtigten beendet sei. Zugleich wurde im Interesse einer Beschleunigung der Sache - der Kläger wolle mit Frau und Kind zusammenleben - auf mündliche Verhandlung verzichtet. Aufgrund Verfügung des Berichterstatters vom 18. September 2019 wurde beim bisherigen Prozessbevollmächtigten angefragt, ob das Mandat beendet worden sei; eine ausdrückliche Anordnung, dass das Schreiben des neuen Prozessbevollmächtigten an den Landkreis Aurich übersandt werden solle, enthält die Verfügung nicht. Der bisherige Prozessbevollmächtigte bestätigte mit Schreiben vom 30. September 2019, dass das Mandat beendet sei. Am 1. Oktober 2019 verfügte der Berichterstatter eine Wiedervorlagefrist von drei Monaten.

Mit Schreiben vom 14. Oktober 2019 teilte der Kläger mit, dass der Landkreis Aurich seiner Ehefrau mitgeteilt habe, er habe den Schriftsatz vom 13. September 2019 nicht erhalten, und fragte an, wann dieser weitergeleitet worden sei. Hierauf teilte ihm der Berichterstatter am 15. Oktober 2019 mit, dies sei am 18. September 2019 erfolgt.

Am 28. Oktober 2019 fragte der Kläger an, wann mit einer Entscheidung gerechnet werden könne, zumal er bereits auf mündliche Verhandlung verzichtet habe. Am darauffolgenden Tag teilte der Berichterstatter mit, dass ein Entscheidungstermin noch nicht benannt werden könne und noch kein Einverständnis des Landkreises Aurich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren vorliege. Eine entsprechende Anfrage sei mit Verfügung vom gleichen Tag gestellt worden. Hierauf erteilte der Landkreis Aurich am 5. November 2019 sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Mit Schreiben vom 6. November 2019 teilte der Kläger mit, er und seine Familie hofften auf eine rasche Bearbeitung der Sache durch das Gericht und fragte erneut, bis wann mit einer Entscheidung gerechnet werden könne. Der Berichterstatter teilte ihm am Tag darauf mit, dass eine Entscheidung voraussichtlich bis Ende des Jahres ergehen werde.

Mit Schriftsatz vom 7. Januar 2020 fragte der Kläger an, ob eine Entscheidung bereits abgesetzt sei und bat um Übermittlung des Tenors. Mit weiterem Schreiben vom 3. Februar 2020 bat er um dienstliche Äußerung, aus welchem Grund seiner vorherigen Bitte nicht entsprochen worden sei. Hierauf wurde ihm durch den Berichterstatter am 4. Februar 2020 mitgeteilt, dass eine Entscheidung noch nicht ergangen sei und dass das Gericht die Verfahren in der Regel nach ihrem Eingang bearbeiten würde. Es gäbe aber noch ältere, ebenso bedeutsame und im schriftlichen Verfahren zu entscheidende Klageverfahren. Eine Entscheidung werde aber voraussichtlich noch im Laufe des Monats Februar 2020 ergehen.

Am 2. März 2020 erhob der Kläger Verzögerungsrüge.

Mit Schriftsatz vom 2. Juni 2020 teilte der Kläger mit, dass er von seiner Ehefrau besucht worden und diese nun erneut schwanger sei. Die Niederkunft werde zum Ende des Jahres sein. In der Schwangerschaft sei die Ehefrau in besonderem Maß auf seinen Beistand angewiesen. Dieser Schriftsatz wurde nach Verfügung des Berichterstatters am 3. Juni 2020 an den Landkreis Aurich zu Stellungnahme binnen eines Monats übersandt. Mit Schriftsatz vom gleichen Tag erkundigte sich der Kläger erneut nach dem Sachstand, worauf ihm mitgeteilt wurde, dass dem Landkreis Aurich eine Stellungnahmefrist von einem Monat eingeräumt worden sei. Nach zweimaliger Fristverlängerung für die Stellungnahme und erneuter Nachfrage des Klägers am 3. Juli 2020 nahm der Landkreis Aurich am 14. Juli 2020 erneut Stellung. Im Ergebnis wurde an der Ausweisungsverfügung vom 16. Juli 2018 festgehalten. Aufgrund der Befristung des Wiedereinreiseverbots bis zum 17. Juli 2023 und dem voraussichtlichen Entbindungstermin im Dezember 2020 führe das Einreise- und Aufenthaltsverbot lediglich zu einem Trennungszeitraum zu dem ungeborenen Kind von zwei Jahren und sieben Monaten. Dieses Schreiben wurde dem Kläger mit Verfügung vom 14. Juli 2020 zur Stellungnahme bis zum 4. August 2020 übersandt. Zugleich wurde eine Wiedervorlage am 17. August 2020 verfügt, versehen mit dem Klammerzusatz „Urteil omV“.

Der Kläger nahm mit Schriftsatz vom 16. Juli 2020 erneut Stellung. Am 3. August 2020 übermittelte der Prozessbevollmächtigte des Klägers zudem eine persönliche Stellungnahme der Ehefrau des Klägers.

Am 15. September 2020 hat der Kläger die vorliegende Entschädigungsklage erhoben.

Zur Begründung trägt er vor, es sei eine Entscheidung bis Ende 2019 in Aussicht gestellt worden. Die Sache sei schon lange entscheidungsreif. Zwar sei später die Schwangerschaft der Ehefrau als neuer zu berücksichtigender Umstand hinzugekommen. Trotzdem wäre bei zügiger Verfahrensführung bis zum heutigen Tag eine Entscheidung möglich gewesen, zumal auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet worden sei. Eine Verfahrensverzögerung aufgrund fehlender Richterstellen könne nicht mit dem Gestaltungsspielraum der Gerichte gerechtfertigt werden. Insoweit könne auf die Kriterien zur Untätigkeit einer Behörde in § 75 VwGO zurückgegriffen werden. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit sei personell unzureichend aufgestellt. Verfahrensverzögerungen könnten nicht mit neuen Verfahren, auch des vorläufigen Rechtsschutzes, gerechtfertigt werden. Die säumige Bearbeitung zeige sich unter anderem daran, dass auf den am 13. September 2019 erklärten Verzicht auf mündliche Verhandlung erst mit Schreiben vom 29. Oktober 2019 beim Landkreis Aurich angefragt worden sei, ob auch von dort aus das Einverständnis zur Entscheidung im schriftlichen Verfahren erteil werde. Die Untätigkeit berühre ihn in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG. Denn wenn die Entscheidung über die Klage so spät falle, dass sie sich auf die Befristung des Aufenthalts- und Betretungsverbots nicht mehr auswirken könne, werde damit gerichtlicher Rechtsschutz durch Untätigkeit verweigert.

Die Sachlage im - weiterhin anhängigen - Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg hat sich zwischenzeitlich geändert, da aufgrund einer schweren Erkrankung des älteren Sohnes mit Bescheid vom 22. Februar 2021 eine Einreise- und Betretenserlaubnis durch den Landkreis Aurich für den Kläger erteilt worden ist.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

den Beklagten zu verurteilen, 600 EUR als Entschädigung an ihn zu zahlen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, bei dem beanstandeten Verfahren handele es sich nicht um ein überlanges Gerichtsverfahren. Eine unangemessene und irreparable Verzögerung liege nicht vor. Die Unangemessenheit der Dauer eines Verfahrens bemesse sich nach den Umständen des Einzelfalls. Es sei nicht möglich, einzelne Verfahrensabschnitte einer Instanz isoliert voneinander zu betrachten, vielmehr sei die Gesamtverfahrensdauer maßgeblich. Die Verfahrensdauer müsse eine Grenze überschreiten, die sich auch unter Berücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstelle. Dem Gericht müsse eine ausreichende Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen, die der Schwierigkeit und Komplexität angemessen Rechnung trage. Dem Richter sei ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen, weshalb die Verfahrensführung des Richters lediglich auf ihre Vertretbarkeit überprüft werde. Der Rechtssuchende habe keinen Anspruch auf optimale Verfahrensförderung. In Beachtung dieser Grundsätze sei die Dauer des Verfahrens nicht als unangemessen zu bewerten. In der zuständigen Kammer seien im Januar und Februar 2020 insgesamt 32 neue vorläufige Rechtsschutzverfahren eingegangen, die zunächst abzuarbeiten gewesen seien. Ab März 2020 habe die Corona-Pandemie zu erheblichen Veränderungen und Verzögerungen in den gerichtlichen Verfahrensabläufen beigetragen. Mündliche Verhandlungen hätten nicht mehr ohne weiteres durchgeführt werden können, weshalb diverse Kläger älterer und gleichbedeutsamer Verfahren ebenfalls auf mündliche Verhandlung verzichtet hätten. Teilweise hätten die Richter nur im Homeoffice arbeiten können. Die Verzögerungsrüge sei zu Beginn der Corona-Pandemie erhoben worden. Nach der Mitteilung des Klägers im Juni 2020, dass er Vater eines weiteren Kindes werde, habe das Gericht Anlass gehabt, vom Landkreis Aurich eine weitere Stellungnahme anzufordern, da dieser Umstand Bedeutung für die Ermessensentscheidung haben könne. Auf die Stellungnahme hätten der Kläger und seine Ehefrau erneut Stellungnahmen abgegeben, nach dem Urlaub des Berichterstatters im Juli/August 2020 seien wieder vorrangig aufgelaufene vorläufige Rechtsschutzverfahren zu bearbeiten gewesen, so dass die Sache bislang nicht entschieden worden sei. Die zuständige Kammer bearbeite unter anderem als Sachgebiet das Aufenthaltsrecht, so dass in großer Zahl Eilverfahren anfielen, die häufig sehr schnell entschieden werden müssten.

Die Verfahrensbeteiligten haben mit Schriftsätzen vom 5. März 2021 und vom 15. März 2021 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klagefrist von sechs Monaten nach Eintritt der Rechtskraft der das „Hauptsacheverfahren“ beendenden Entscheidung i.S.d. § 173 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG hat der Kläger gewahrt, da das Verfahren bislang noch nicht abgeschlossen wurde. Die Erhebung der Entschädigungsklage trotz des noch laufenden „Hauptsacheverfahrens“ ist möglich. Der früheste Zeitpunkt für die Erhebung der Klage ist in § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG geregelt, wonach die Klage frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden kann. Die Verzögerungsrüge wurde am 2. März 2020 erhoben, so dass die vorliegende, am 15. September 2020 bei Gericht eingegangene Klage diese Frist wahrt. Aus § 201 Abs. 3 Satz 1 GVG folgt zudem, dass die Entschädigungsklage bereits vor Beendigung des der Klage zugrundeliegenden Verfahrens erhoben werden kann, da nach dieser Vorschrift das Entschädigungsgericht das Verfahren aussetzen kann, wenn das Gerichtsverfahren, von dessen Dauer ein Anspruch nach § 198 GVG abhängt, noch andauert.

Der Senat macht von der Möglichkeit der Aussetzung des Entschädigungsverfahrens keinen Gebrauch, da aufgrund des konkreten und begrenzten Klageantrags bereits abschließend eine Entscheidung möglich ist, ohne den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abwarten zu müssen.

I. Der Kläger hat den geltend gemachten Entschädigungsanspruch aus § 173 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 1 GVG in Höhe von 600 EUR gegen den Beklagten.

Nach § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu die folgenden Grundsätze aufgestellt (BVerwG, Urt. v. 11.7.2013 - BVerwG 5 C 23.12 D -, juris Rn. 37 ff.), denen der Senat folgt (vgl. auch Gerichtsbescheid d. Senats v. 3.4.2020 - 13 F 315/19 -, V.n.b., Umdruck S. 5 ff.):

„bb) Die Verfahrensdauer ist unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eintreten, bei Berücksichtigung des dem Gericht zukommenden Gestaltungsspielraumes sachlich gerechtfertigt sind. Dieser Maßstab erschließt sich aus dem allgemeinen Wertungsrahmen, der für die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unangemessenheit vorgegeben ist (vgl. BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 a.a.O. Rn. 25 ff.), und wird durch diesen weiter konkretisiert.

(1) Der unbestimmte Rechtsbegriff der ‚unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens‘ (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG) wie auch die zu seiner Ausfüllung heranzuziehenden Merkmale im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG sind unter Rückgriff auf die Grundsätze näher zu bestimmen, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG und zum Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG entwickelt worden sind. Diese Rechtsprechung diente dem Gesetzgeber bereits bei der Textfassung des § 198 Abs. 1 GVG als Vorbild (vgl. BTDrucks 17/3802 S. 18). Insgesamt stellt sich die Schaffung des Gesetzes als innerstaatlicher Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren als Reaktion auf eine entsprechende Forderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dar (vgl. insbesondere EGMR, Urteil vom 2. September 2010 - Nr. 46344/06, Rumpf/Deutschland - NJW 2010, 3355). Haftungsgrund für den gesetzlich normierten Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Verfahrensdauer in § 198 Abs. 1 GVG ist mithin die Verletzung des in Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerten Rechts eines Verfahrensbeteiligten auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit (vgl. BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 a.a.O. Rn. 25 m.w.N.).

(2) Die Anknüpfung des gesetzlichen Entschädigungsanspruchs aus § 198 Abs. 1 GVG an den aus Art. 19 Abs. 4 GG, dem verfassungsrechtlichen Justizgewährleistungsanspruch sowie dem Menschenrecht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK folgenden Anspruch auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit verdeutlicht, dass es darauf ankommt, ob der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht beeinträchtigt worden ist. Damit wird eine gewisse Schwere der Belastung vorausgesetzt; es reicht also nicht jede Abweichung von einer optimalen Verfahrensführung des Gerichts aus (vgl. BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 a.a.O. Rn. 26). Vielmehr muss die Verfahrensdauer eine Grenze überschreiten, die sich auch unter Berücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstellt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 2012 - 1 BvR 170/06 - Vz 1/12 - NVwZ 2013, 789 [BVerfG 28.01.2013 - 2 BvR 1912/12] <791 f.>). Dabei haben die Gerichte auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen, weshalb sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen, verdichtet (stRspr des BVerfG, vgl. etwa Beschlüsse vom 14. Dezember 2010 - 1 BvR 404/10 - juris Rn. 11 und vom 1. Oktober 2012 a.a.O. <790> jeweils m.w.N.).

(3) Die Angemessenheit der Dauer eines Gerichtsverfahrens bemisst sich auch danach, wie das Gericht das Verfahren geführt hat und ob und in welchem Umfang ihm Verfahrensverzögerungen zuzurechnen sind.

Ist infolge unzureichender Verfahrensführung eine nicht gerechtfertigte Verzögerung eingetreten, spricht dies für die Annahme einer unangemessenen Verfahrensdauer im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG. Dabei ist die Verfahrensführung zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien in Bezug zu setzen. Zu prüfen ist also, ob das Gericht gerade in Relation zu jenen Gesichtspunkten den Anforderungen an eine angemessene Verfahrensdauer gerecht geworden ist. Maßgeblich ist insoweit - genauso wie hinsichtlich der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG aufgeführten Umstände -, wie das Gericht die Lage aus seiner Ex-ante-Sicht einschätzen durfte (vgl. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott a.a.O. § 198 GVG Rn. 81 und 127).

Im Zusammenhang mit der Verfahrensführung durch das Gericht ist zu berücksichtigen, dass die Verfahrensdauer in einem gewissen Spannungsverhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) und zum rechtsstaatlichen Gebot steht, eine inhaltlich richtige, an Recht und Gesetz orientierte Entscheidung zu treffen (vgl. BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 a.a.O. Rn. 27). Ebenso fordert Art. 6 Abs. 1 EMRK zwar, dass Gerichtsverfahren zügig betrieben werden, betont aber auch den allgemeinen Grundsatz einer geordneten Rechtspflege (EGMR, Urteil vom 25. Februar 2000 - Nr. 29357/95, Gast und Popp/Deutschland - NJW 2001, 211 Rn. 75). Die zügige Erledigung eines Rechtsstreits ist kein Selbstzweck; vielmehr verlangt das Rechtsstaatsprinzip die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands durch das dazu berufene Gericht (stRspr des BVerfG, vgl. etwa Beschlüsse vom 12. Februar 1992 - 1 BvL 1/89 - BVerfGE 85, 337 <345> und vom 26. April 1999 - 1 BvR 467/99 - NJW 1999, 2582 <2583>; ebenso BGH, Urteil vom 4. November 2010 - III ZR 32/10 - BGHZ 187, 286 Rn. 14 m.w.N.). Um den verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigt das Gericht eine Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit und Komplexität der Rechtssache angemessen ist. Dabei ist die Verfahrensgestaltung in erster Linie in die Hände des mit der Sache befassten Gerichts gelegt (BVerfG, Beschlüsse vom 30. Juli 2009 - 1 BvR 2662/06 - NJW-RR 2010, 207 <208> und vom 2. Dezember 2011 - 1 BvR 314/11 - WM 2012, 76 <77>). Dieses hat, sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festzulegen (BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2009 a.a.O.). Es hat dabei die Verfahren untereinander zu gewichten, den Interessen der Beteiligten - insbesondere im Hinblick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens - Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu geboten sind. Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht - auch im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit - ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 29. März 2005 - 2 BvR 1610/03 - NJW 2005, 3488 <3489> und vom 1. Oktober 2012 a.a.O. <791> jeweils m.w.N.; vgl. auch BGH, Urteil vom 4. November 2010 a.a.O.). Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie - auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums - sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 2012 a.a.O. m.w.N.).

Im Hinblick auf die Rechtfertigung von Verzögerungen ist der auch in den Gesetzesmaterialien (BTDrucks 17/3802 S. 18) deutlich zum Ausdruck gekommene Grundsatz zu berücksichtigen, dass sich der Staat zur Rechtfertigung einer überlangen Verfahrensdauer nicht auf Umstände innerhalb seines Verantwortungsbereichs berufen kann (stRspr des BVerfG, vgl. Beschlüsse vom 7. Juni 2011 - 1 BvR 194/11 - NVwZ-RR 2011, 625 <626>, vom 24. September 2009 - 1 BvR 1304/09 - EuGRZ 2009, 699 Rn.14 und vom 1. Oktober 2012 a.a.O. <790>; vgl. auch BFH, Urteil vom 17. April 2013 - X K 3/12 - BeckRS 2013, 95036 = juris Rn. 43). Eine Zurechnung der Verfahrensverzögerung zum Staat kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte insbesondere für Zeiträume in Betracht, in denen das Gericht ohne rechtfertigenden Grund untätig geblieben, also das Verfahren nicht gefördert oder betrieben hat (vgl. EGMR, Urteile vom 26. Oktober 2000 - Nr. 30210/96, Kudla/Polen - NJW 2001, 2694 Rn. 130 und vom 31. Mai 2001 - Nr. 37591/97, Metzger/Deutschland - NJW 2002, 2856 Rn. 41). Soweit dies auf eine Überlastung der Gerichte zurückzuführen ist, gehört dies zu den strukturellen Mängeln, die der Staat zu beheben hat (EGMR, Urteil vom 25. Februar 2000 a.a.O. Rn. 78). Strukturelle Probleme, die zu einem ständigen Rückstand infolge chronischer Überlastung führen, muss sich der Staat zurechnen lassen; eine überlange Verfahrensdauer lässt sich damit nicht rechtfertigen (BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 2012 a.a.O. <790>).

Sind in einem Stadium des Verfahrens oder bei einzelnen Verfahrensabschnitten Verzögerungen eingetreten, bewirkt dies nicht zwingend die Unangemessenheit der Gesamtverfahrensdauer. Es ist vielmehr - wie aufgezeigt - im Rahmen einer Gesamtabwägung zu untersuchen, ob die Verzögerung innerhalb einer späteren Phase des Verfahrens ausgeglichen wurde.“

Für die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer kommt es nicht darauf an, ob sich der zuständige Spruchkörper pflichtwidrig verhalten hat, so dass die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer dementsprechend für sich allein keinen Schuldvorwurf für die mit der Sache befassten Richter impliziert (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs vom 17.11.2010, BT-Drs. 17/3802, S. 19). Da es für die Frage der Unangemessenheit der Verfahrensdauer auf die Umstände des Einzelfalls ankommt und eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, nicht möglich ist, benennt § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nur beispielhaft und ohne abschließenden Charakter Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs vom 17.11.2010, BT-Drs. 17/3802, S. 18). Der Senat ist aufgrund der dargelegten Grundsätze der Auffassung, dass nicht jede gerichtliche Handlung und jeder Zeitraum, in dem keine nach außen dokumentierten Aktionen des Gerichts stattgefunden haben, im Einzelnen daraufhin überprüft werden müssen, ob hierin eine unangemessene Verzögerung lag oder ob hierin ein gerechtfertigter Zeitraum zur Entscheidungsfindung gesehen werden kann. Dies würde gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters verstoßen, da die Gewichtung der vielfältigen Verfahren in einem Dezernat und die Frage, wie und zu welchem Zeitpunkt ein konkretes Verfahren gefördert werden soll, grundsätzlich einem Entscheidungsspielraum des Richters unterliegt. Es ist vielmehr unter Berücksichtigung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls dahingehend vorzunehmen, ob es unangemessene Verzögerungen des Verfahrens gegeben hat, die in den Verantwortungsbereich des jeweiligen Spruchkörpers fallen, wobei einzelne Abschnitte des Verfahrens in den Blick genommen werden können.

Mit § 198 Abs. 1 GVG ist weder die Zugrundelegung fester Zeitvorgaben vereinbar, noch lässt es die Vorschrift grundsätzlich zu, für die Beurteilung der Angemessenheit von bestimmten Orientierungs- oder Richtwerten für die Laufzeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren auszugehen, und zwar unabhängig davon, ob diese auf eigener Annahme oder auf statistisch ermittelten durchschnittlichen Verfahrenslaufzeiten beruhen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.7.2013 - BVerwG 5 C 23.12 D -, juris Rn. 28 ff.). Jedenfalls ist bei einer Betrachtung und Bewertung der dem jeweiligen Gericht obliegenden Verfahrenshandlungen eine Überlänge des gerichtlichen Verfahrens nicht jeweils bereits ab Entscheidungsreife zu bejahen. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass das Gericht vor einer verfahrensfördernden Handlung oder Entscheidung zur Sache Zeit zur rechtlichen Durchdringung benötigt, um dem rechtsstaatlichen Anliegen zu genügen, eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes vorzunehmen. Der ab Eintritt der Entscheidungsreife zugestandene Zeitraum ist im Einzelfall in Relation zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien zu bestimmen. Maßgeblich ist insoweit - genauso wie hinsichtlich der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG aufgeführten Umstände -, wie die Gerichte im Ausgangsverfahren die Lage aus ihrer ex-ante-Sicht einschätzen durften. Bereits aus dem Wortlaut „unangemessen“ lang folgt, dass nicht die optimale oder „richtige“ Länge des Gerichtsverfahrens zu bestimmen ist, sondern eine solche, die den Rahmen des noch Angemessenen überschreitet (Niedersächsisches OVG, Gerichtsbescheid. v. 24.6.2016 - 21 F 1/16 -, juris Rn. 41).

Bei Berücksichtigung dieser Vorgaben erweist sich die Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens von bislang rund 32 Monaten im vorliegenden konkreten Einzelfall als unangemessen. Die Verzögerung ist jedenfalls hinsichtlich eines Zeitraums von sechs Monaten sachlich nicht mehr zu rechtfertigen.

1. Das Verfahren weist einen durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad auf. Es handelt sich um eine regelmäßig am Verwaltungsgericht anzutreffende Klage gegen die Ausweisung und insbesondere die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG. Der Sachverhalt ist geklärt, so dass es lediglich auf Rechtsfragen ankommt. Da der Kläger bereits abgeschoben wurde, kommt es - auch nach dem Vortrag des Klägers - maßgeblich auf die Befristung und somit auf die Frage an, ob der Landkreis Aurich bei der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots angesichts des deutschen Kindes des Klägers sein Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat. Rechtliche Fragen der Ermessensausübung sind häufig von den Verwaltungsgerichten zu klären und stellen keine besonderen Schwierigkeiten dar.

2. Die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger ist als deutlich überdurchschnittlich einzuschätzen. Entscheidend ist dabei eine objektive, nicht aber die subjektive Beurteilung des jeweiligen Klägers, es kommt also auf den verständigen Betroffenen an (Niedersächsisches OVG, Gerichtsbescheid v. 24.6.2016 - 21 F 1/16 -, juris Rn. 46 m.w.N.). Der Kläger wurde bereits vor Beginn des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nach Algerien abgeschoben, am 21. August 2018 wurde er Vater eines deutschen Kindes. Es geht somit für den Kläger darum, ob er mit seiner Ehefrau und seinem Kind künftig gemeinsam in Deutschland leben bzw. wann er hierher zurückkehren oder ob er fünf Jahre ab der Abschiebung nicht wieder nach Deutschland einreisen darf. Dies zeigt, dass dem Verfahren, nicht nur für den Kläger, sondern für jeden verständigen Betroffenen, eine hohe Bedeutung zukommt.

3. Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten trug nicht zu einer relevanten Verzögerung des Rechtsstreits bei. Der Kläger nahm jeweils kurzfristig und innerhalb der vom Gericht gesetzten Fristen Stellung. Der im Herbst 2019 erfolgte Wechsel des Prozessbevollmächtigten durch den Kläger führte ebenfalls zu keiner relevanten und zu berücksichtigenden Verzögerung des Rechtsstreits. Es wurde zudem im Laufe des Verfahrens von beiden Seiten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet, so dass die Beteiligten alles taten, um das Verfahren zu beschleunigen. Eine relevante Verzögerung ist auch nicht darin zu sehen, dass der Kläger später mitteilte, seine Ehefrau sei wieder schwanger und erwarte Ende 2020 ein zweites Kind. Auch wenn hierzu durch den Landkreis Aurich noch Stellung genommen wurde, beruht diese Verzögerung nicht auf einem zurechenbaren Verhalten des Klägers, da es diesem möglich sein muss, auf einen geänderten Sachverhalt hinzuweisen. Eine durch ihn zu verantwortende Verzögerung ist hierin nicht zu sehen.

4. Unter Berücksichtigung der zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Gesichtspunkten angestellten Bewertungen und der gerichtlichen Gestaltungsfreiheit wurde das Verfahren für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten, der im August 2019 beginnt, ohne sachlichen Rechtfertigungsgrund nicht gefördert.

Der Zeitraum bis zur Erhebung der Verzögerungsrüge am 2. März 2020 ist dabei nicht außer Betracht zu lassen. Denn einen Zeitpunkt, zu dem die Rüge spätestens erhoben sein muss, legt das Gesetz nicht fest. Auf die Entschädigung bleibt ein Zuwarten deshalb grundsätzlich ohne Einfluss. Aus § 198 Abs. 3 GVG ergibt sich, dass der vor einer wirksam bei dem mit dem Verfahren befassten Gericht erhobenen Verzögerungsrüge verstrichene Zeitraum des Verfahrens vor diesem Gericht in die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer grundsätzlich zeitlich unbefristet einzustellen ist (BVerwG, Urt. v. 29.2.2016 - BVerwG 5 C 31.15 D -, juris Rn. 33 mit Verweis auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes; BGH, Urt. v. 26.11.2020 - III ZR 61/20 -, juris Rn. 23 ff.; Kissel/Meyer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 198 Rn. 20; a.A. für den Bereich der Finanzgerichtsbarkeit: BFH, Urt. v. 6.4.2016 - X K 1/15 -, juris Rn. 40 ff.). Die Geduld eines Verfahrensbeteiligten darf nicht bestraft werden, nur weil eine Verzögerungsrüge nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt erhoben wurde (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs vom 17.11.2010, BT-Drs. 17/3802, S. 21). Ausnahmsweise kann eine verspätet erhobene Verzögerungsrüge aber bei der Angemessenheit der Verfahrensdauer oder bei der Frage, ob Wiedergutmachung auf andere Weise durch Feststellung der Überlänge gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreicht, berücksichtigt werden, wenn sich das Verhalten des Betroffenen bei Würdigung der Gesamtumstände als ein rechtsmissbräuchliches „Dulde und Liquidiere“ darstellt (vgl. BGH, Urt. v. 26.11.2020 - III ZR 61/20 -, juris Rn. 23; Begründung des Gesetzentwurfs vom 17.11.2010, BT-Drs. 17/3802, S. 21; Kissel/Meyer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 198 Rn. 20). Hinweise dafür, dass der Kläger die Verzögerungsrüge bewusst verspätet erhob, um einen hohen Entschädigungsanspruch zu erlangen, liegen jedoch nicht vor. Vielmehr wurde ihm auf eine Anfrage vom 28. Oktober 2019, wann er mit einer Terminierung rechnen könne, mitgeteilt, dass eine solche bis Ende des Jahres zu erwarten sei. Auf erneute Anfragen im Januar und Februar 2020 wurde ihm vom Berichterstatter mitgeteilt, dass eine Entscheidung voraussichtlich bis Ende Februar 2020 ergehen werde. Die Verzögerungsrüge vom 3. März 2020 wurde unmittelbar nach Ablauf dieser Frist erhoben, als also deutlich war, dass das Verfahren nicht mehr Februar 2020 entschieden werden würde. Ein Rechtsmissbrauch ist hierin nicht zu sehen.

Das Verfahren war bereits nach der Stellungnahme durch den Landkreis Aurich vom 4. Oktober 2018, die dem Kläger ohne eine Bitte um Stellungnahme übersandt wurde, ausgeschrieben und zeitnah nach der am 9. Oktober 2018 verfügten Übersendung zur Kenntnisnahme entscheidungsreif. Dem Verwaltungsgericht Oldenburg war im vorliegenden Einzelfall ein Gestaltungsspielraum von zehn Monaten ab Entscheidungsreife für seine Entscheidungsfindung zuzugestehen. Der Gestaltungszeitraum trägt dem Umstand Rechnung, dass die Gestaltung des Verfahrens in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht obliegt und diesem für die rechtliche Durchdringung des Streitstoffes, derer es für eine Förderung des Verfahrens bis hin zu einer Sachentscheidung bedarf, eine angemessene Zeit einzuräumen ist. Der Umfang des Gestaltungszeitraums ist im Einzelfall in Relation zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien zu bestimmen. Maßgeblich ist insoweit die Ex-ante-Sicht des mit dem Ausgangsverfahren befassten Gerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.8.2017 - BVerwG 5 A 2.17 D -, juris Rn. 34). Angesichts der hohen Bedeutung für den Kläger und dem damit verbundenen Interesse des Klägers, Rechtsschutz in einer angemessenen Zeit zu erlangen, sowie der durchschnittlichen Schwierigkeit des Verfahrens geht der Senat davon aus, dass der Kammer ein richterlicher Überdenkens- und Entscheidungsspielraum von zehn Monaten zuzugestehen ist, innerhalb derer die Kammer entscheiden konnte, wie das Verfahren zu fördern und letztlich zu entscheiden ist. Nach Ablauf dieser Frist im August 2019 bestand keine sachliche Rechtfertigung mehr, das Verfahren nicht weiter zu fördern, zumal der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als einem Jahr nicht mehr in Deutschland war und somit 1/5 der mit Bescheid vom 16. Juli 2018 festgesetzten Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot bereits verstrichen war. Mit zunehmender Verfahrensdauer trifft die Kammer aber - gerade bei einer hohen Bedeutung der Sache für den Kläger - eine zunehmende Pflicht zur Förderung des Verfahrens. Dieser Pflicht ist die Kammer nicht nachgekommen, da in diesem Zeitraum und auch in der Folge keine verfahrensfördernden Schritte unternommen wurden. Entsprechend überschreitet es den Gestaltungsspielraum des Gerichts, nicht innerhalb von zehn Monaten, nachdem das Verfahrens ausgeschrieben und somit entscheidungsreif war, eine Entscheidung getroffen zu haben. Ab August 2019 sind keine Gründe ersichtlich, die es rechtfertigten, dass das Verfahren nicht weiter gefördert wurde. Zwar erfolgte im Juni 2020 der Hinweis, dass die Ehefrau des Klägers wieder schwanger sei und Ende 2020 ein weiteres Kind des Klägers geboren würde. Auch wenn der Landkreis Aurich hierzu noch Stellung nahm, unterbricht diese Mitteilung über die neue Sachlage nicht den Zeitraum, in dem das Verfahren ohne sachlichen Grund nicht betrieben wurde. Denn es muss, ohne dass hierin ein entschädigungsrechtlich zu beachtender Grund zu sehen ist, möglich sein, auf einen veränderten Sachverhalt hinzuweisen, zumal der zusätzliche Vortrag im konkreten Einzelfall nicht ursächlich für eine zusätzliche Verzögerung war.

Soweit der Beklagte zur Begründung, warum eine frühere Entscheidung nicht erfolgte, darauf verweist, dass noch zahlreiche ältere, ebenso bedeutsame und im schriftlichen Verfahren zu entscheidende Klageverfahren gegeben habe und die Kammer mit zahlreichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes belastet gewesen sei, führt dies nicht zu einer Rechtfertigung der Verfahrensverzögerung. Denn einerseits wäre es entweder Aufgabe des Präsidiums gewesen, die zuständige Kammer zu entlasten, oder - bei einer Überlastung des gesamten Gerichts - Aufgabe des Beklagten, zusätzliche Richter einzustellen. Derartige strukturelle Mängel muss sich, wie oben dargestellt, der Staat zurechnen lassen.

5. Durch die Verzögerung von mindestens sechs Monaten hat der Kläger einen immateriellen Nachteil erlitten, der durch Entschädigung in Höhe von 600 EUR wiedergutzumachen ist.

Nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein immaterieller Nachteil vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren - wie hier - unangemessen lange gedauert hat. Dabei handelt es sich um eine widerlegbare Vermutung, die dem Betroffenen die Geltendmachung eines immateriellen Nachteils erleichtern soll, weil in diesem Bereich ein Beweis oft nur schwierig oder gar nicht zu führen ist. Im Entschädigungsprozess ist die Vermutung widerlegt, wenn der Beklagte das Fehlen eines immateriellen Nachteils darlegt und beweist, wobei ihm, da es sich um einen Negativbeweis handelt, die Grundsätze der sekundären Behauptungslast zugutekommen können. Die Vermutung eines auf der Verfahrensdauer beruhenden immateriellen Nachteils ist dann widerlegt, wenn das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der vom Kläger gegebenenfalls geltend gemachten Beeinträchtigungen nach einer Gesamtbewertung der Folgen, die die Verfahrensdauer mit sich gebracht hat, die Überzeugung gewinnt, dass die (unangemessene) Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil geführt hat (zum Vorstehende insgesamt: BGH, Urt. v. 13.4.2017 - III ZR 277/16 -, juris Rn. 21). Der Beklagte hat die Vermutung vorliegend nicht widerlegt. Eine Entschädigung ist auch nicht nach § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ausgeschlossen. Danach entfällt eine Entschädigung, soweit nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist. Eine Wiedergutmachung auf andere Weise ist gemäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Ob eine solche Feststellung ausreichend im Sinne des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles (BVerwG, Urt. v. 29.2.2016 - BVerwG 5 C 31.15 D -, juris Rn. 45; Niedersächsisches OVG, Gerichtsbescheid v. 24.6.2016 - 21 F 1/16 -, juris Rn. 63). Eine solche bloße Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist hier jedoch mit Blick auf den erheblichen Umfang der Verzögerung des vom Schwierigkeitsgrad durchschnittlich gelagerten Falles und wegen der hohen Bedeutung des Verfahrens für den Kläger nicht ausreichend.

Der Kläger ist in Höhe der beantragten 600 EUR zu entschädigen. Die Bemessung des immateriellen Nachteils richtet sich nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG. Danach ist der immaterielle Nachteil in der Regel in Höhe von 1.200 EUR für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen. Für Zeiträume unter einem Jahr lässt diese Regelung eine zeitanteilige, monatliche Berechnung zu (vgl. Niedersächsisches OVG, Gerichtsbescheid v. 24.6.2016 - 21 F 1/16 -, juris Rn. 65). Nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen, wenn der Betrag von 1.200 EUR nach den Umständen des Einzelfalles unbillig ist. Solche Umstände sind hier weder ersichtlich noch vorgetragen. Dem Kläger sind aufgrund der Verzögerung die geltend gemachten 600 EUR zuzusprechen (vgl. § 201 Abs. 2 GVG, §§ 173 Satz 3, 88 VwGO). Die Tatsache, dass ein Kläger nicht verpflichtet ist, den beanspruchten Entschädigungsbetrag exakt zu beziffern (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.2.2015 - BVerwG 5 C 5.14 D -, juris Rn. 15 f.), lässt die Bindung an die ausdrücklich geltend gemachte Klageforderung nicht entfallen (Niedersächsisches OVG, Gerichtsbescheid v. 24.6.2016 - 21 F 1/16 -, juris, Rn. 65).

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

III. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 709 Satz 1 und 2 ZPO.

IV. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.