Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.04.2021, Az.: 13 ME 187/21

Anordnung, einstweilige; Anordnungsanspruch; Anordnungsgrund; Außervollzugsetzung, vorläufige; Beschwerde; click and meet; Corona-Verordnung; Feststellung, vorläufige; Folgenabwägung; Hauptsache, Vorwegnahme; hohe Wahrscheinlichkeit; Möbeleinzelhandel; offen; Schließung; Vorrang

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.04.2021
Aktenzeichen
13 ME 187/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 70863
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 26.03.2021 - AZ: 4 B 35/21

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 4. Kammer - vom 26. März 2021 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 26. März 2021 bleibt ohne Erfolg.

Mit diesem Beschluss hat das Verwaltungsgericht u.a. den (nun mit der Beschwerde allein weiterverfolgten) Hauptantrag der Antragstellerin (vgl. Antragsschrift v. 22.2.2021, Bl. 2 der GA),

im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig festzustellen, dass die Antragsgegnerin nicht berechtigt ist, im Falle der Öffnung ihrer (der Antragstellerin) Möbeleinzelhandelsverkaufsstellen unter den Anschriften C., A-Straße, A-Stadt, und D., E., A-Stadt, gegen diese ordnungsbehördlich einzuschreiten,

abgelehnt. Die hiergegen dargelegten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat im Beschwerdeverfahren gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, gebieten im Ergebnis eine Änderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung im Sinne der Antragstellerin nicht.

1. Zwar folgt der Senat mit der Beschwerde ausdrücklich nicht der auf Seiten 3 bis 6 des angefochtenen Beschlusses zum Ausdruck gekommenen Ansicht des Verwaltungsgerichts, die gegenüber der Antragsgegnerin (inter partes) begehrte vorläufige Feststellung durch einstweilige Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sei bereits unzulässig.

Einen vom Verwaltungsgericht zur Begründung dieser Auffassung allein angeführten Vorrang eines auf vorläufige Außervollzugsetzung der ihr entgegenstehenden Norm (hier: § 10 Abs. 1b Satz 1 Halbsatz 1 in Verbindung mit Satz 3 der (8.) Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 - Niedersächsische Corona-Verordnung - v. 30.10.2020 (Nds. GVBl. S. 368; zuletzt geändert durch Verordnung v. 16.04.2021 (online eilverkündet unter www.niedersachsen.de/verkuendung)) erga omnes gerichteten Verfahrens nach § 47 Abs. 6 VwGO vor dem Oberverwaltungsgericht hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 4. September 2020 - 13 ME 333/20 -, S. 3 ff. des Beschlussabdrucks, Veröff. bei juris beabsichtigt), verneint. Er hat dort ausgeführt:

„Die Antragstellerin kann ihr auf vorläufige Feststellung gerichtetes Begehren in zulässiger Weise im Wege des Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO verfolgen. Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn in Bezug auf den Streitgegenstand die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung, § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO), oder wenn in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung, § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Dabei kann auch der Erlass einer einstweiligen Anordnung in Gestalt einer vorläufigen Feststellung zur vorläufigen Sicherung des in der Hauptsache im Wege der allgemeinen Feststellungsklage nach § 43 VwGO geltend gemachten sachlichen Begehrens erfolgen. Unter Anwendung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend festgestellt, dass der gestellte Antrag im Verfahren nach § 123 VwGO statthaft und auch sonst zulässig ist (Beschl. v. 3.9.2020, Umdruck S. 8 ff.). Der Senat macht sich diese Erwägungen zu Eigen und verweist auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Entgegen der Beschwerde ist auch ein Vorrang des Verfahrens nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht gegeben (a.A. Bayerischer VGH, Beschl. v. 18.6.2020 - 20 CE 20.1388 -, juris Rn. 2 ff.).

Ein solcher Vorrang ist in der Verwaltungsgerichtsordnung positiv nicht normiert. § 123 Abs. 5 VwGO schließt eine Anwendung des Verfahrens nach § 123 Abs. 1 bis 3 VwGO neben dem Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO, anders als für die Fälle der §§ 80 und 80a VwGO, nicht aus. Ein solcher Ausschluss ist auch weder systematisch noch teleologisch zu begründen. Beide Verfahren sind voneinander unabhängig ausgestaltet und auf verschiedene Rechtsschutzziele gerichtet. Im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO kann eine einstweilige Außervollzugsetzung der Rechtsnorm mit allgemeinverbindlicher Wirkung (erga omnes) erreicht werden. Im Verfahren nach § 123 VwGO ist nur die Frage der Anwendbarkeit einer Rechtsnorm in einem konkreten Einzelfall klärungsfähig. Im Gegensatz zu einer Außervollzugsetzung nach § 47 Abs. 6 VwGO durch das Oberverwaltungsgericht kommt der Feststellung der Nichtanwendbarkeit einer untergesetzlichen Norm durch das Verwaltungsgericht dabei nur eine Wirkung inter partes zu.

Das Verfahren nach § 47 VwGO entfaltet daher gegenüber der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung im Wege der Feststellungsklage keine Sperrwirkung (so ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 17.1.2006 - 1 BvR 541/02 -, BVerfGE 115, 81, 95 f. - juris Rn. 50; BVerwG, Urt. v. 28.6.2000 - BVerwG 11 C 13.99 -, BVerwGE 111, 276, 278 - juris Rn. 29). Dem System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes kann nicht entnommen werden, dass außerhalb des § 47 VwGO die Überprüfung von Rechtsetzungsakten ausgeschlossen sein soll (so ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 17.1.2006, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 9.12.1982 - BVerwG 5 C 103.81 -, Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 78 - juris Rn. 10). Vielmehr gehört es seit jeher zur richterlichen Prüfungskompetenz, auch die Gültigkeit einer Rechtsnorm, insbesondere ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu überprüfen, sofern es für den Ausgang des Rechtsstreits hierauf ankommt. Daran hat sich durch die Zulassung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle in den Fällen des § 47 VwGO, durch die die Möglichkeiten des subjektiven Rechtsschutzes nicht beschnitten werden sollten, nichts geändert. Außerhalb des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG (oder des Verwerfungsmonopols eines Landesverfassungsgerichts) besteht daher für untergesetzliche Rechtsvorschriften die Normprüfungs- und auch -verwerfungskompetenz aller Gerichte. Anlass, diese Kompetenz durch eine unter Rückgriff auf Art. 19 Abs. 4 GG konstruierte Sperrwirkung der Normenkontrolle einzuschränken, sieht der Senat nicht. Diese für den Rechtsstaat grundlegende Verfassungsnorm gewährleistet effektiven Rechtschutz. Es bleibt dem Gesetzgeber aber unbenommen, über die Mindestanforderungen effektiven Rechtsschutzes hinauszugehen. Angesichts dessen liegt auch die Annahme einer unzulässigen Umgehung des Verfahrens nach § 47 Abs. 6 VwGO durch einen Antrag nach § 123 VwGO fern. Die von der Antragsgegnerin befürchtete Rechtszersplitterung durch unterschiedliche erstinstanzliche Entscheidungen kann - auch während der Corona-Pandemie - im Zuge folgender Entscheidungen in der Rechtsmittelinstanz wieder beseitigt werden.“

An diesen Ausführungen hält der Senat auch unter Berücksichtigung der Begründung des hier angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Beschlusses fest.

2. Jedoch folgt hieraus im vorliegenden Beschwerdeverfahren kein anderes Ergebnis, weil sich der hier noch streitgegenständliche zulässige Antrag nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO auch in Ansehung der Darlegungen der Antragstellerin nicht als begründet erweist.

Denn die für die hier begehrte vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache im Hinblick auf einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund aus § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO resultierenden strengeren Voraussetzungen sind auch unter Berücksichtigung der Bedeutung des betroffenen Grundrechts der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1, 19 Abs. 3 GG und des Gleichheitsgrundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG sowie der Erfordernisse eines effektiven (Eil-)Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht erfüllt. Danach wird für eine stattgebende Eilentscheidung in einer derartigen Situation verlangt, dass eine hohe, mithin weit überwiegende Erfolgswahrscheinlichkeit in einem Hauptsacheverfahren besteht und durch das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Hauptsacheentscheidung nicht mehr in der Lage wäre (vgl. etwa Senatsbeschl. v. 2.3.2021 - 13 ME 72/21 -, juris Rn. 5 f., und v. 2.2.2021 - 13 ME 41/21 -, juris Rn. 6 ff. sowie Rn. 9, jeweils m.w.N.).

Hier besteht bereits keine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Antragstellerin mit Blick auf deren materielle Darlegungen, die sich auf die Rüge einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) von Möbeleinzelhandelsverkaufsstellen mit in die „Positivliste“ des § 10 Abs. 1b Satz 1 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung aufgenommenen „privilegierten“ Geschäften (wie etwa Buchhandlungen, Nr. 16a) beschränken (vgl. S. 4 ff. der Beschwerdebegründung v. 19.4.2021, Bl. 91 ff. der GA), ein auf die begehrte Feststellung gerichteter Anordnungsanspruch zukommt.

In seinem Beschluss vom 4. März 2021 - 13 MN 89/21 - (juris Rn. 16 ff., insbes. Rn. 48 ff.) hat der Senat die Frage, ob § 10 Abs. 1b Satz 1 Halbsatz 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung, soweit dadurch Möbeleinzelhandelsgeschäfte für den Publikumsverkehr und Besuche im Wesentlichen geschlossen sind, auch im Hinblick auf die auch hier gerügte Ungleichbehandlung rechtmäßig und daher wirksam ist, nach eingehender Prüfung als offen angesehen (= Erfolgs-/Misserfolgswahrscheinlichkeit von jeweils nur 50%). Vor diesem Hintergrund hat er aufgrund einer Folgenabwägung das dortige Begehren auf vorläufige Außervollzugsetzung der Verordnungsbestimmung mit der tragenden Begründung abgelehnt, die Gründe für die vorläufige Außervollzugsetzung und auch die Interessen Dritter oder der Allgemeinheit überwögen die für den weiteren Vollzug dieser Verordnungsbestimmung sprechenden Gründe derzeit noch nicht (vgl. Senatsbeschl. v. 4.3.2021, a.a.O., Rn. 59 ff.).

An diesen Ausführungen hält der Senat auch in Ansehung des Vorbringens der Antragstellerin des vorliegenden Verfahrens und der durch die Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung und der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung vom 6. März 2021 (Nds. GVBl. S. 93) mit Wirkung vom 8. März 2021 in die „Positivliste“ des § 10 Abs. 1b Satz 1 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung unter Nr. 16a aufgenommenen Buchhandlungen fest. Die zugleich geschaffene (die Schließungswirkung von § 10 Abs. 1b Satz 1 Halbsatz 1 der Verordnung reduzierende) Möglichkeit einer beschränkten Öffnung auch von Möbeleinzelhandelsgeschäften außerhalb von Hochinzidenzgebieten im Sinne des § 18a Abs. 1 Satz 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung für Besuche nach vorheriger Terminvereinbarung („click and meet“), bei denen sich im Geschäft unter Wahrung des Abstandsgebots nach § 2 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung nur eine Kundin oder ein Kunde mit jeweils einer Begleitperson je 40 m² Verkaufsfläche aufhalten darf (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 11.3.2021 - 13 MN 70/21 -, juris Rn. 63) ändert ebenfalls nichts an der vorgenannten Bewertung.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und Abs. 2 GKG und Nrn. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).