Sozialgericht Oldenburg
Urt. v. 23.10.2002, Az.: S 6 KR 142/02

Bibliographie

Gericht
SG Oldenburg
Datum
23.10.2002
Aktenzeichen
S 6 KR 142/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 35816
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOLDBG:2002:1023.S6KR142.02.0A

In dem Rechtsstreit

Kläger,

gegen

Beklagter

hat das Sozialgericht Oldenburg - 6. Kammer ohne mündliche Verhandlung

am 23. Oktober 2002

durch den Richter am Sozialgericht Lipsius - Vorsitzender -

sowie die ehrenamtlichen Richter Martina Baarts und Bernd Lehmann

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Der Bescheid der Beklagten vom 11.12.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2002 wird aufgehoben.

    Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten des Klägers für das Arzneimittel Viagra nach jeweiliger fachurologischer Verordnung abzüglich der gesetzlichen Rezeptzuzahlung zu übernehmen.

    Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger streitet um die Kostenübernahme für das Präparat Viagra.

2

Der 1935 geborene Kläger leidet offenbar altersbedingt unter einer erektilen Dysfunktion. Der Urologe \/ in B verordnete dem Kläger unstreitig das insofern indizierte Präparat Viagra. Der Kläger beantragte bei der Beklagten, die entsprechenden Kosten zu übernehmen. Die Beklagte lehnte eine Leistung gestützt auf den Beschluß des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (BAK) vom 03.08.1998 ab (Bescheid vom 11.12.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2002)

3

Dagegen richtet sich die binnen Monatsfrist erhobene Klage, mit der der Kläger beantragt,

Den Bescheid der Beklagten vom 11.12.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, seine Kosten für das Arzneimittel Viagra nach jeweiliger fachurologischer Verordnung zu übernehmen bzw. zu erstatten.

4

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

5

Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig.

6

Die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten waren Gegenstand der Entscheidung. Auf ihren Inhalt wird verwiesen.

7

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

8

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 124 Abs. 2 SGG.

9

Die frist- und formgemaß erhobene Klage ist zulässig. Sie ist begründet.

Entscheidungsgründe

10

Nach § 27 SGB V haben Versicherte Anspruch auf eine Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu heilen oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die beim Kläger offenbar bestehende erektile Dysfunktion ist eine Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung, wie das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 30.09.1999 - B 8 KN 9/98 KN R - wohl hinreichend und abschließend ausgeurteilt hat. Daß diese behandlungsbedürftige Krankheit ein Versicherungsfall der gesetzlichen Krankenversicherung ist, ergibt sich ohne weiteres, im übrigen kann insofern gleichfalls auf das benannte Urteil des BSG verwiesen werden.

11

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts folgt das Leistungsrecht dem Leistungserbringerrecht, insofern maßgebend sind die Richtlinien des BÄK über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, Heilmittel etc., bei denen es sich nach der Regelungen der §§ 135 ff. SGB V um untergesetzliche Rechtsnormen handelt. Es ist dabei Sache des BÄK, über die Wirksamkeit und damit die'Wirtschaftlichkeit von Behandlungsmethoden, Arzneimitteln etc. im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V zu befinden, so daß eine für Verwaltung und Gerichte bundeseinheitliche Gutachtenlage besteht. Weiter geht die Ermächtigungsgrundlage der §§ 135 ff. SGB V nicht. Beschlüsse des BÄK, die aus gesundheitspolitischen Erwägungen heraus getroffen werden, sind weder für die Verwaltung noch für die Gerichte verbindlich. Insofern geht der Bundesausschuß über seine rechtlich- gutachterliche Kompetenz hinaus, wie von der Rechtsprechung -mittlerweile bis zum Bundessozialgericht hin - im Hinblick auf die ICSI - Therapie entschieden worden ist. Das fragliche Arzneimittel entspricht wie weitere Potenzmittel unstreitig und unzweifelhaft den Voraussetzungen des § 12 Abs. 1 SGB V. Der Beschluß des BÄK vom 03.08.1998 ist als gutachterlich verbindliche Entscheidung nicht verwertbar, er setzt sich mit den Voraussetzungen des § 12 Abs. 1 SGB V überhaupt nicht auseinander. Gietragen ist der Beschluß von der (Rechts-) Auffassung, Mittel, die der Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz dienten, seien sozusagen Life-Style-Drogen, was beinhaltet, die Beeinträchtigung der sexuellen Potenz sei entgegen der zitierten Auffassung des 8. Senats des Bundessozialgerichts keine Krankheit. Insbesondere wenn man sieht, daß Potenzstörungen in der gesetzlichen Unfallversicherung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (!) von 20 % und mehr bewertet werden, zeigt sich deutlich, daß der BÄK eine ihm nicht zustehende und im übrigen offensichtlich fehlerhafte rechtliche Beurteilung abgegeben hat, die konsequenterweise dazu führen müßte, daß die Krankenkassen Behandlungen und Heilmittel zur Linderung altersbedingter Gebrechen gar nicht mehr leisten müssen.

12

Problematisch erscheint für das erkennende Gericht nur der Leistungsumfang. Möglicherweise hat der BÄK seinen Beschluß auch unter dem Gesichtspunkt gefaßt, es sei zu befürchten, daß sich ein Versicherter beispielsweise Viagra auf Kosten der Krankenkasse besorgt, um damit Handel zu treiben, da Potenzmittel auch von Männern benutzt werden, die es (eigentlich) nicht nötig hätten. Zudem besteht von Mann zu Mann offenbar auch eine sehr unterschiedliche Auffassung darüber, was (schon) als Potenzschwäche empfunden wird. Entsprechend ist die Beklagte auch nur verurteilt worden, nach jeweiliger fach-urologischer Verordnung Kosten zu übernehmen. Es kann und muß allein der ärztlichen Verantwortung überlassen bleiben, ob und in welchem Umfang Potenzmittel verschrieben werden, und zwar fachärztlicher Verantwortung, in der Hoffnung, daß das Arzneimittelbudget die behandelnden Ärzte im Zweifel davon abhalten wird, über Gebühr derartige Mittel zu verschreiben Es ist auch nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung zu bewerten, ob nach der Lebenssituation (verheiratet, Erwartungshaltung der Frau etc.) im Einzelfall ein Bedarf besteht, der zu billigen oder zu mißbilligen wäre.

13

Handelt es sich unzweifelhaft um ein verordnungsfähiges Arzneimittel, hat die Beklagte Kasse (nur) die üblichen Möglichkeiten, die Richtigkeit der Verordnung vom MDK überprüfen zu lassen und ggf. den verordnendem Arzt in Regress zu nehmen, wenn sich herausstellen sollte, daß keine behandlungsbedürftige Krankheit im oben genannten Sinne beim Kläger vorliegt.

14

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.