Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.01.2023, Az.: 1 ME 132/22

Gebot der Rücksichtnahme bei Erteilung der Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit 11 Wohneinheiten; Grenzen des Nachbarschutzes bei der Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Vorschrift

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
19.01.2023
Aktenzeichen
1 ME 132/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 10545
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0119.1ME132.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 01.11.2022
VG Stade - 02.11.2022 - AZ: 2 B 1067/22

Fundstellen

  • BauR 2023, 589-592
  • DÖV 2023, 402
  • NordÖR 2023, 120
  • ZfBR 2023, 269-272

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Ob in einem festgesetzten reinen Wohngebiet die Wohnnutzung überhaupt eine Dimension erreichen kann, dass Quantitiät in Qualität umschlägt und das Gebot der Rücksichtnahme verletzt ist, erscheint fraglich, ist jedoch bei einem Mehrfamilienhaus mit 11 Wohneinheiten fernliegend (vgl. für ein Mehrfamilienhaus mit 11 Wohneinheiten in einem faktischen Dorfgebiet Senatsbeschl. v. 12.9.2022 - 1 ME 48/22 -, BauR 2022, 1753 = juris Rn. 10; für ein Mehrfamilienhaus mit 5 Wohneinheiten in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet Senatsbeschl. v. 28.5.2014 - 1 ME 47/14 -, = BRS 2014, 1910 = juris Rn. 13 f.).

  2. 2.

    Milieuschutz dahingehend, den Charakter eines Gebietes als Ein- oder Zweifamillienhausgebiet zu bewahren, vermittelt § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO nicht; allein der Plangeber kann entsprechende Regelungen treffen (§ 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB).

  3. 3.

    Betrifft eine Befreiung eine nicht nachbarschützende Vorschrift, führt nicht jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung. Erforderlich ist, dass die zuständige Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.7.1998 - 4 B 64.98 -, BauR 1998, 1206 = juris Rn. 5).

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 2. Kammer - vom 1. November 2022 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird unter Abänderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf 12.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit 11 Wohneinheiten.

Er ist Eigentümer des Grundstücks A-Straße (Flurstücke F. und G., Flur H., Gemarkung A-Stadt), das im nördlichen Teil mit einem Wohnhaus bebaut ist. Der südliche Bereich ist unbebaut und wird als Garten genutzt. Die Beigeladene ist Eigentümerin des östlich benachbarten Eckgrundstücks I. straße J. (Flurstück K., Flur H., Gemarkung A-Stadt) mit einer Fläche von 1.442 m2, das sich im Bereich einer Salzstockhochlage und des ehemaligen Bohrlochs "Campe 8" befindet.

Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplan Nr. 210/1, in Kraft getreten am 25. Juli 1974 (1. Änderung vom 9.7.1981, 2. Änderung vom 24.6.1993), in dessen Plangebiet zuvor der Bebauungsplan Nr. 210 vom 3. Dezember 1962 galt. Nach beiden Plänen liegen die oben bezeichneten Grundstücke in einem reinen Wohngebiet mit offener Bauweise, der Begrenzung der Vollgeschosse auf eines sowie einer Grundflächen- und Geschossflächenzahl von 0,4. Während entlang der A-Straße und der Straße L. die Baufenster der Grundstücke jeweils zur Straße hin ausgerichtet sind, liegt auf dem Grundstück der Beigeladenen das Baufenster - von der I. straße aus betrachtet - im straßenabgewandten, d.h. westlichen Teil des Grundstücks. Die südliche Baugrenze verspringt im Verhältnis zu der auf dem Antragstellergrundstück weiter nach Süden und nimmt lediglich einen schmalen Randstreifen an der südlichen Grundstücksgrenze des Vorhabengrundstücks von der Bebauung aus.

Das mittlerweile abgerissene Bestandsgebäude der Feuerwehr (1 Vollgeschoss mit einer maximalen Höhe von ca. 11 m) nutzte die Baugrenze nach Süden hin nicht aus. Die südlich angrenzende Bebauung auf der Westseite der I. straße ist - den Festsetzungen des Bebauungsplans, der in dem hier festgesetzten reinen Wohngebiet maximal zwei Vollgeschosse zulässt, entsprechend - zweigeschossig.

Die Antragsgegnerin erteilte der Beigeladenen unter dem 19. Mai 2022 antragsgemäß die Baugenehmigung für ein Mehrfamilienhaus mit 11 Wohneinheiten. Das Vorhaben ist mit zwei Vollgeschossen und einem Staffelgeschoss ca. 9,80 m hoch und auf der zum Antragstellergrundstück gewandten Seite knapp 25 m lang. An dieser Seite sind (Dach-)Terrassen und Balkone von insgesamt 9 Wohneinheiten angeordnet. Hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenze nach Nordosten und Osten, der Geschossflächenzahl und der Zahl der maximal zulässigen Vollgeschosse erteilte die Antragsgegnerin die entsprechend beantragten Befreiungen. Bestandteil der grün gestempelten Bauvorlagen ist die "Sonnenstandsstudie/Schattenverläufe" vom 10. Januar 2022, die zu dem Ergebnis kommt, dass eine "merkliche Verschlechterung" der Besonnung des Antragstellergrundstücks wegen der lediglich "marginalen" Änderung der Verschattung im Verhältnis zur ehemaligen Bebauung nicht festzustellen ist. Die von der Beigeladenen in Auftrag gegebene "Gründungsempfehlung für den Neubau eines Mehrfamilienhauses in der I. straße 2 in A-Stadt" vom 17. Juni 2019 bestätigt die Machbarkeit des geplanten Vorhabens, ist jedoch nicht Bestandteil der Baugenehmigung.

Gegen diese Baugenehmigung legte der Antragsteller am 23. Juni 2022 Widerspruch ein und beantragte nach erfolglosem Aussetzungsantrag bei der Antragsgegnerin erfolglos einstweiligen Rechtsschutz bei dem Verwaltungsgericht. In seinem Beschluss vom 1. November 2022 hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die erteilten Befreiungen verletzten den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Die betroffenen Festsetzungen des maßgeblichen Bebauungsplans Nr. 210/1 zum Maß der baulichen Nutzung seien nicht nachbarschützend. Drittschutz könne der Antragsteller auch nicht aus dem Bebauungsplan Nr. 460/1 [gemeint 406/1] ableiten; dieser betreffe nicht das maßgebliche Plangebiet. Das Vorhaben sei auch nicht rücksichtslos. Mit 11 Wohneinheiten sei es nicht gebietsunverträglich. Die im Verhältnis zu der vorherigen Bebauung "verbesserten" Einsichtnahmemöglichkeiten seien in innerstädtischen Lagen der Regelfall und insbesondere dann, wenn - wie hier - der erforderliche Grenzabstand zu dem Antragstellergrundstück deutlich überschritten sei, hinzunehmen. Gleiches gelte für die Verschattung, hinsichtlich derer bereits der Vortrag des Antragstellers (zur Sommerzeit Störung beim Frühstück) keine Unzumutbarkeit begründe. Selbstständig tragend werde darauf abgestellt, dass der Antragsteller das Schattenwurfgutachten mit seinem Vortrag nicht in Frage gestellt habe. Bezüglich des ehemaligen Bohrlochs fehle es bereits an der Verletzung drittschützender Normen. Zudem habe der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass eine Absackung des Geländes durch den Neubau drohe. Formelle Fehler lägen nicht vor bzw. seien jedenfalls geheilt. Auf die zutreffenden Ausführungen der Antragsgegnerin in ihrer Entscheidung vom 22. Juli 2022 über den Aussetzungsantrag werde in Gänze verwiesen; diese mache sich die Kammer zu eigen.

II.

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade vom 1. November 2022 hat keinen Erfolg.

Soweit der Antragsteller gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts einwendet, dass das Vorhaben wegen seines Umfangs gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoße, und dies damit begründet, dass hier ausnahmsweise Quantität in Qualität umschlage, dringt er nicht durch. Der von ihm sinngemäß geltend gemachte Gebietserhaltungsanspruch gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ist nicht verletzt. Das Vorhaben ist hier nach § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 3 Abs. 1 BauNVO zulässig. Sowohl der Bebauungsplan Nr. 210 als auch der Bebauungsplan Nr. 210/1 setzen für das Vorhabengrundstück ein reines Wohngebiet fest. Dieses dient in erster Linie dem Wohnen, das als Art der baulichen Nutzung dem Baugebiet seine typische Prägung verleiht. Eine Beschränkung auf bestimmte Wohnformen enthält § 3 BauNVO nicht, sodass grundsätzlich alle Formen des Wohnens, beispielsweise auch große Wohnanlagen oder Hochhäuser, erfasst werden. Vor diesem Hintergrund ist bereits zweifelhaft, ob die von dem Antragsteller in Bezug genommene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 16.3.1995 - 4 C 3.94 -, NVwZ 1995, 899 = BRS 57 Nr. 175 = juris), die sich mit der Zulässigkeit eines Vorhabens in einem festgesetzten Kerngebiet befasst und in diesem Zusammenhang zu § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO ausführt, dass im Einzelfall Quantität in Qualität umschlagen kann, dass also die Größe einer baulichen Anlage die Art der baulichen Nutzung erfassen kann (BVerwG, Urt. v. 16.3.1995 - 4 C 3.94 -, NVwZ 1995, 899 = BRS 57 Nr. 175 = juris Rn. 17 - zweifelnd bzgl. der Höhe des Gebäudes), auch auf reine Wohngebiete übertragbar ist. Denn diese erhalten ihre Prägung (nur) durch die Wohnnutzung, während der Gebietscharakter des Kerngebiets gemäß § 7 Abs. 1 BauNVO durch eine Mischung verschiedener Nutzungen entsteht. In einem reinen Wohngebiet könnte daher einiges dafürsprechen, dass Wohnnutzungen unabhängig von ihrer Anzahl und Gestalt den Gebietscharakter nicht verändern können. Milieuschutz dahingehend, den Charakter eines Gebietes als Ein- oder Zweifamilienhausgebiet zu bewahren, vermittelt § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO jedenfalls nicht; allein der Plangeber kann entsprechende Regelungen treffen (§ 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB). Die Frage der Reichweite des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO braucht hier indes nicht abschließend entschieden zu werden, da bei einem Mehrfamilienhaus mit 11 Wohneinheiten die Annahme, hier schlage Quantität in Qualität um, fernliegend ist (vgl. für ein Mehrfamilienhaus mit 11 Wohneinheiten in einem faktischen Dorfgebiet Senatsbeschl. v. 12.9.2022 - 1 ME 48/22 -, ZfBR 2022, 803 = BauR 2022, 1753 = juris Rn. 10; für ein Mehrfamilienhaus mit 5 Wohneinheiten in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet Senatsbeschl. v. 28.5.2014 - 1 ME 47/14 -, NVwZ-RR 2014, 756 = BRS 2014, 1910 = juris Rn. 13 f.).

Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass das Vorhaben die nachbarlichen Interessen des Antragstellers hinreichend berücksichtigt. Die Annahme, die Antragsgegnerin habe lediglich von nicht nachbarschützenden Festsetzungen befreit, ist zutreffend. Die dagegen gerichtete Argumentation des Antragstellers überzeugt nicht.

Maßgeblich ist der Bebauungsplan Nr. 210/1 in der Fassung seiner 1. Änderung. Der von dem Antragsteller gegen die Wirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 210/1 in seiner Ursprungsfassung vom 25. Juli 1974 vorgebrachte Widerspruch in der Planurkunde (Beschwerdebegründung S. 6) besteht nicht. Die von ihm zitierten Passage der auf der Planurkunde abgedruckten Begründung ("Der o.a. Bebauungsplan soll den rechtsverbindlichen Bebauungsplan Nr. 210 im bisherigen Plangebiet ersetzen.") ist nicht isoliert, sondern mit dem oberhalb befindlichen Vermerk, der die Grenzen der Außerkraftsetzung des Plans Nr. 210 eindeutig festlegt ("mit Ausnahme der Festsetzungen auf den Flurstücken M., N. u. O., Flur H."), und der Planzeichnung, die im Bereich der genannten Flurstücke den Hinweis "siehe Beb. Pl. Nr. 210" enthält, zu betrachten. Spiegelbildlich werden auch auf der Planurkunde des Bebauungsplans Nr. 210 die Bereiche, in denen der Bebauungsplan Nr. 210/1 gelten soll, eindeutig bezeichnet (Streichungen mit dem Zusatz "Ersetzt durch Bebauungsplan Nr. 210/1").

Gegen die Wirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 210/1 spricht auch nicht, dass dieser ausweislich seiner Begründung lediglich für das im Nordosten des Plangebiets festgesetzten Gewerbegebiet die Anzahl der zulässigen Vollgeschosse von zwei auf drei erhöht hat und im Übrigen die Festsetzungen des Bebauungsplans übernommen hat. Zutreffend stellt der Antragsteller fest, dass der Planungswille der Antragsgegnerin - ggf. abgesehen von einer geringfügigen Änderung der Baugrenzen im Nordwesten des Plangebietes - nicht auf eine Änderung der aus dem Bebauungsplan Nr. 210 übernommenen Planung des WR-Gebiets aus dem Jahr 1962 gerichtet, sondern im Wesentlichen auf die oben beschriebene Änderung beschränkt gewesen sei. Nicht tragfähig erweist sich dagegen die Argumentation des Antragstellers, mit der er entweder über eine implizite Hinübernahme der Abwägung der nachbarlichen Belange aus dem Plan Nr. 210 in den Plan Nr. 210/1 oder - sollte man dies anders sehen - über die Unwirksamkeit des Plans Nr. 210/1, die er aus einem Verstoß gegen das Abwägungsgebot des § 1 Abs. 4 Satz 2 BBauG in der Fassung vom 23. Juni 1960 herleitet, und das damit verbundenen Wiederaufleben des Plans Nr. 210 zum Drittschutz der Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung auf dem Vorhabengrundstück gelangt. Zwar ist ihm zuzugeben, dass die Begründung des Bebauungsplans Nr. 210/1, die nur die Änderung der geänderten Zahl der zulässigen Vollgeschosse im Gewerbegebiet behandelt, dafür sprechen könnte, dass hinsichtlich der im Wesentlichen unverändert übernommenen Festsetzungen die nachbarlichen Belange schon in die Abwägung bei der Erstellung des Plans Nr. 210 eingeflossen sind. Gleichwohl haben die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung in dem maßgeblichen reinen Wohngebiet keinen drittschrittschützenden Charakter. Soweit der Antragsteller ausführt, dass es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bei Bebauungsplänen aus den 60-er Jahren ohne Begründung für die Annahme des Drittschutzes genüge, dass die Nachbarn in eine Schicksalsgemeinschaft eingebunden seien, in der jeder Grundstückseigentümer sich an eine Maßfestsetzung halten müsse und in dem Vertrauen darauf halte, dass sein Nachbar dies ebenfalls tue (Beschwerdebegründung S. 3), ist dies nicht zutreffend. Richtig ist vielmehr, dass das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 9. August 2018 (- 4 C 7.17 -, BVerwGE, 162, 363 = BauR 2019, 70 = juris) in diesen Fällen die Möglichkeit sieht, die (Maß-)Festsetzungen nachträglich subjektiv-rechtlich aufzuladen. Dies setzt aber ein entsprechendes Konzept des Plangebers voraus, welches zwar nicht explizit formuliert sein muss, für das es aber hinreichende Anhaltspunkte gibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.8.2018 - 4 C 7.17 -, BVerwGE, 162, 363 = BauR 2019, 70 = juris Rn. 15 f.). Nichts anderes ergibt sich in dieser Hinsicht aus dem von dem Antragsteller in Bezug genommenen Senatsbeschluss vom 28. Juni 2021 (- 1 ME 50/21 -, BauR 2021, 1580 = ZfBR 2021, 773 = juris Rn. 10).

An einem solchen Konzept des Plangebers fehlt es hier. Allein der Umstand, dass sich die Antragsgegnerin in der Begründung zu der 2. - vereinfachten - Änderung des Bebauungsplans Nr. 210/1, mit der das Sondergebiet "Altenheim" auf Kosten der Schulbedarfsfläche nach Osten verschoben wurde, wobei statt der im bisherigen Sondergebiet zulässigen 6 Vollgeschosse für die "Erweiterungsfläche" lediglich 2 Vollgeschosse festgesetzt wurden, auch auf die (nördlich) benachbarten Grundstücke bezieht (Begr. S. 2 Nr. 1.3.2 "... Eine Beeinträchtigung der benachbarten Grundstückseigentümer ist damit ausgeschlossen."), reicht hierfür nicht. Anhaltspunkte für ein drittschützendes Konzept des Plangebers im Bereich eines Plans aus einem anderen, wenn auch angrenzenden Bebauungsplan (Nr. 406/1) entnehmen zu wollen, überzeugt erst recht nicht. Ob die in Bezug genommenen Ausführungen der Antragsgegnerin in der Begründung dieses Plans ausreichen, um den dortigen Maßfestsetzungen Drittschutz beizulegen, ist zweifelhaft, bedarf hier aber keiner Entscheidung. Dass sich die Antragsgegnerin dort mit nachbarlichen Interessen befasst hat, ist - wie der Antragsteller zutreffend ausführt - durch die gesetzlich angeordnete Abwägung öffentlicher und privater Interessen geboten, nicht aber ein Anhaltspunkt für ein den Maßfestsetzungen Drittschutz zusprechendes Konzept in dem benachbarten Plan. Abgesehen davon ist die im Gebiet des Bebauungsplans Nr. 406/1 vorhandene Homogenität der Bebauung hinsichtlich der rückwärtigen Bereiche, auf die die Begründung Bezug nimmt, zwischen Antragsteller- und Vorhabengrundstück gerade nicht angelegt; bereits nach dem Plan Nr. 210 waren die nicht überbaubaren Flächen des Vorhabengrundstücks im Wesentlichen nicht rückwärtig zum Antragstellergrundstück hin, sondern auf der von diesem abgewandten Ostseite angeordnet.

Auch die Ausführungen zu einer etwaigen Unwirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 210/1, dessen 1. Änderung vom 9. Juli 1981 entgegen der Auffassung des Antragstellers auch das Vorhabengrundstück betrifft, da für alle Festsetzungen die Geltung der Baunutzungsverordnung in der Fassung vom 15. September 1977 angeordnet wird (Planurkunde, linke Seite unten), was sich aber im reinen Wohngebiet inhaltlich nicht auswirkte, überzeugen nicht. Der vom Antragsteller behauptete Verstoß gegen das Abwägungsgebot, den er aus der auf die wesentliche Änderung zum Plan Nr. 210 beschränkte Begründung entnehmen will, ist spekulativ. Es spricht einiges dafür, dass bezüglich der aus dem Vorgängerplan lediglich übernommenen Festsetzungen keine neue Abwägung stattgefunden hat, sondern die bisherige in den neuen Plan Nr. 210/1 überführt wurde. Selbst wenn eine neue Abwägung stattgefunden hätte, wäre die insoweit unvollständige Begründung entweder gemäß § 233 Abs. 2 Satz 2 BauGB oder gemäß § 233 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 BauGB unbeachtlich.

Betreffen die Befreiungen damit nicht nachbarschützende Vorschriften, führt nicht jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung, sondern ein Abwehranspruch des Nachbarn besteht nur dann, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die vom Bauherrn beantragte Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.7.1998 - 4 B 64.98 -, BauR 1998, 1206 = BRS 60 Nr. 183 = juris Rn. 5). Unter welchen Voraussetzungen eine Befreiung die Rechte des Nachbarn verletzt, ist - wie der Antragsteller selbst zutreffend ausführt - nach den Maßstäben zu beantworten, die das Bundesverwaltungsgericht zum drittschützenden "Gebot der Rücksichtnahme" entwickelt hat (BVerwG, Beschl. v. 8.7.1998 - 4 B 64.98 -, BauR 1998, 1206 = BRS 60 Nr. 183 = juris Rn. 6). Soweit der Antragsteller unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. August 1983 (- 4 C 96.79 -, BVerwGE 67, 334 = BauR 1983, 543 = juris) meint, erforderlich sei lediglich eine "minder schwere Beeinträchtigung", verkennt er, dass das Bundesverwaltungsgericht diese Formulierung in Abgrenzung zu dem für eine Verletzung des Eigentumsrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG erforderlichen schweren und unerträglichen Eingriff gewählt, gleichzeitig aber auf die für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots entwickelten Maßstäbe Bezug genommen hat.

Dies vorausgeschickt hat das Verwaltungsgericht im Rahmen der Prüfung der Befreiungen zwar verkannt, dass § 31 Abs. 2 BauGB auch in der vorliegenden Konstellation einen gewissen Drittschutz entfaltet. Allerdings hat es die nachbarlichen Interessen des Antragstellers unter dem Gesichtspunkt, ob die Baugenehmigung gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt, zutreffend gewürdigt. Die gegen das ablehnende Ergebnis des Verwaltungsgerichts gerichteten Einwände des Antragstellers greifen nicht durch.

Soweit der Antragsteller sich gegen die hinsichtlich der Geschossflächenzahl 0,4 erteilte Befreiung mit der Begründung wendet, die Antragsgegnerin habe fälschlicherweise nicht die nach den alten Vorschriften berechnete Geschossflächenzahl 0,84, sondern die nach den aktuellen berechnete Geschossflächenzahl 0,63 zugrunde gelegt, legt er bereits nicht dar, warum dies zu einer Verletzung seiner nachbarlichen Interessen führt. Gleiches gilt für die Befreiung hinsichtlich des zweiten Vollgeschosses. Auch der Einwand, für das Staffelgeschoss habe eine weitere Befreiung erteilt werden müssen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn selbst wenn man unterstellt, dass die Rechtsansicht des Antragstellers zuträfe, hat er damit die Verletzung nachbarlicher Rechte nicht dargelegt. Diese folgt nicht bereits aus dem Umstand, dass eine an sich erforderliche Befreiung nicht erteilt wurde, sondern erfordert darüber hinaus, dass seine nachbarlichen Interessen bei Erteilung der Baugenehmigung nicht zutreffend gewürdigt wurden (vgl. BVerwG, Urt. v. 6.10.1989 - 4 C 14.87 -, BVerwGE 82, 343 = BauR 1989, 710 = juris Rn. 16). Die Beanstandung des Antragstellers, das Verwaltungsgericht habe seinen Vortrag zum - angeblichen - Interessenkonflikt der Antragsgegnerin nicht bzw. nicht hinreichend gewürdigt, lässt offen, wie sich dies auf das Ergebnis des Verwaltungsgerichts ausgewirkt hätte.

Soweit der Antragsteller sich gegen die vom Verwaltungsgericht unterstellte Richtigkeit des Schattenwurfgutachtens wendet, sind auch die im Beschwerdeverfahren vorgelegten weiteren Lichtbilder, die der Antragsteller zu verschiedenen Tageszeiten angefertigt hat, - abgesehen davon, dass sie eine Verschattung ohnehin nicht demonstrieren - nicht geeignet, das Gutachten zu erschüttern. Die behauptete "Abriegelung" seines Grundstücks durch das Vorhaben ist bei den räumlichen Verhältnissen und insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Vorhaben mit einem Abstand zu dem Antragstellergrundstück von 7 m den erforderlichen Grenzabstand von 3,15 m erheblich überschreitet, abwegig. Soweit er sich gegen die durch das Vorhaben ermöglichte Einsichtnahme auf sein Grundstück wendet, setzt er sich nicht mit der Begründung des Verwaltungsgerichts auseinander, die auf die regelmäßige Zumutbarkeit in der hier vorliegenden innerstädtischen Lage abstellt und mit der ständigen Rechtsprechung des Senats (zuletzt Senatsbeschl. v. 19.10.2022 - 1 ME 69/22 -, juris Rn. 8 m.w.N.) in Einklang steht.

Hinsichtlich der von ihm behaupteten Gefahr von Bodensenken bzw. Absackungen stellt der Antragsteller die Annahme des Verwaltungsgerichts, eine drittschützende Norm sei nicht verletzt, nicht in Frage. Die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung beschränkt sich auf das zu errichtende Bauwerk als solches und würde nur dann Drittschutz entfalten, wenn die Standsicherheit des Wohnhauses des Antragstellers Gegenstand der Prüfung gewesen wäre (vgl. zu einem solchen Fall Senatsbeschl. v. 16.11.2022 - 1 ME 70/22 -, juris Rn. 16). Dies ist hier nicht der Fall. Die von der Beigeladenen eigenständig in Auftrag gegebene Gründungsempfehlung ist nicht Gegenstand der Baugenehmigung geworden und spricht im Übrigen für die Machbarkeit des Vorhabens; weitergehender Ermittlungs- und Prüfungsbedarf bestand nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Der Senat orientiert sich im Ausgangspunkt ebenso wie das Verwaltungsgericht an Nr. 17 b), 7a) an den Streitwertannahmen der mit Bau- und Immissionsschutzsachen befassten Senate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts für ab dem 1. Juni 2021 eingegangene Verfahren (NdsVBl. 2021, 247). Allerdings sieht der Senat keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Schwere der geltend gemachten Beeinträchtigungen gegenüber dem Durchschnitt signifikant geringer ausfällt. Mithin ist ein Hauptsachestreitwert von 25.000 EUR anzusetzen (Nr. 7 am Ende i.V.m. Nr. 1 a) der Streitwertannahmen), der im Eilverfahren zu halbieren ist. Die Änderung der verwaltungsgerichtlichen Festsetzung folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).