Sozialgericht Lüneburg
v. 11.07.2013, Az.: S 2 U 105/10
Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge; Feststellung weiterer Zeiten der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 11.07.2013
- Aktenzeichen
- S 2 U 105/10
- Entscheidungsform
- Gerichtsbescheid
- Referenz
- WKRS 2013, 50653
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGLUENE:2013:0711.S2U105.10.0A
Redaktioneller Leitsatz
1.
Im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ist bei voneinander nicht abgrenzbaren bzw. miteinander verwobenen Kausalketten der Gesamtschaden auch dann zu entschädigen, wenn die unfallbedingte Komponente nur eine wesentliche Teilursache darstellt.
2.
Es ist anerkannt, dass eine akute Belastungssituation in eine akute posttraumatische Belastungsstörung oder andere chronische Traumafolgen übergehen kann.
3.
Um im Hinblick auf die Anerkennung weiterer Folgen eines Arbeitsunfalls mit einer vorbestehenden krankhaften Anlage bzw. einer nachträglich hinzugekommenen Ursache argumentieren zu können, muss diese bewiesen sein. Dabei kommt einer sensiblen Persönlichkeit als solcher kein Krankheitswert zu.
Tenor:
- 1.)
Der Bescheid der Beklagten vom 11.02.2010 und der Widerspruchsbescheid vom 30.08.2010 werden teilweise aufgehoben.
- 2.)
Es wird festgestellt, dass "eine chronifizierte mittelgradig bis schwere depressive Episode mit posttraumatischen Anteilen" Folge des Arbeitsunfalls vom 26.11.2008 ist.
- 3.)
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu 4/5 zu erstatten.
- 4.)
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Feststellung weiterer Zeiten der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit.
Der im Jahr 1965 geborene Kläger war seit September 1981 als Zugbegleiter bei der Deutschen Bahn beschäftigt. Am 26.11.2008 begleitete er als Zugchef den IC 2013 von Mannheim nach Oberstdorf. Ca. drei Minuten nach der Abfahrt in Stuttgart erfolgte eine Notbremsung. Der Lokführer verständigte den Kläger, dass es eventuell zu einer Selbsttötung gekommen sein könnte. Daraufhin begab sich der Kläger an das Zugende, um vom Steuerwagen aus nachzusehen, ob er etwas erkennen könne. Er fand eine tote Person, bemerkte, dass der Kopf vom Rumpf getrennt war und sah dem Leichnam direkt ins Gesicht. Nach seinen Angaben gegenüber der Diplom-Psychologin E. habe er zunächst weiter funktioniert und die Schicht zu Ende gefahren. In der planmäßigen Auswärtsübernachtung habe er jedoch nicht schlafen können und würde seit dem Ereignis unter zittrigen Händen leiden (Bl. 5, 8 der Akte der Beklagten (= UA)). Am nächsten Tag fuhr er nach Hannover zurück und meldete sich aufgrund des erlittenen seelischen Schocks krank. Die Angaben des Klägers zur Auffundsituation der Leiche wurden in der polizeilichen Meldung vom 26.11.2008 bestätigt. Es wurde jedoch darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um eine Frau gehandelt hat (Bl. 69 UA).
Am 2., 12. und 19.12.2008 sowie am 08. und 30.01.2009 befand sich der Kläger in psychologischer Betreuung bei der Diplom-Psychologin E ... Im Bericht vom 19.12. 2008 führte sie aus, dass das Ereignis für ihn das erste dieser Art gewesen sei und den Tagen danach deutliche vegetative Unruhesymptome, wie z. B. das Zittern der Hände, vorhanden gewesen seien. Er sei das Bild des verzerrten Gesichts nicht losgeworden. Im Verlauf der Gespräche seien die typischen Traumasymptome zunächst leicht abgeklungen und verstärkt depressive Symptome geschildert worden. Beim letzten Termin sei wieder eine Zunahme der traumatischen Symptome festzustellen gewesen. Am medizinischen Zusammenhang der psychischen Situation des Klägers mit der erlebten Unfallsituation würde kein Zweifel bestehen. Auf der Basis einer schon im Vorfeld existierenden Belastung bis an die persönlichen Grenzen (große Patchworkfamilie mit mehreren Pflegekindern, ein zu versorgendes Anwesen mit vielen Haustieren) würde jedoch die Gefahr einer depressiven Entwicklung bestehen, die durch die unmittelbare Konfrontation mit dem gewaltsamen Tod eines anderen Menschen ausgelöst worden sei (Bl 8 ff., 41 ff. UA).
Ab dem 12.02.2009 befand sich der Kläger in psychotherapeutischer Behandlung bei Herrn F ... Diesem gegenüber hatte der Kläger angegeben, dass er aufgrund der extremen Verstümmelung der Leiche zunächst wie schockhaft erstarrt gewesen sei. Der Kopf sei vom Rumpf getrennt im Gleisbett gelegen, wohingegen der Kopf abgetrennt auf dem Hals gestanden und einen schrecklichen Anblick geboten habe. Das verzerrte Gesicht, die glatten Haare, den Schnauzbart und die weit herunter gezogenen Mundwinkel könne er nicht vergessen. Das Bild sei wie ein Diapositiv in seinem Gehirn eingebrannt (Bl. 74, 79 UA). Das Eigenartige bei der Beschreibung der Situation sei, dass der Kläger vor dem Unfall ein ähnliches Erlebnis geträumt habe und daher dieses grausame Ereignis wie eine sich selbst erfüllende Erwartung empfinden würde. Im Bericht vom 15.07.2009 gab Herr G. als Diagnosen "eine ausgeprägte depressive Verstimmung und eine posttraumatische Belastungsstörung (= PTBS) mit der Besonderheit der Vorausahnung des traumatisierenden Erlebnisses" an. Er führte außerdem aus, dass der Kläger eine sensitive und sensible Persönlichkeit habe, welche die Schwelle für die Bildung der Symptomatik reduziert haben könnte (Bl. 73 ff. UA). Im Schreiben von 10.11.2009 teilte Herr Schmidt mit, dass die posttraumatischen Reaktionen therapeutisch bisher kaum beeinflussbar gewesen seien und der Kläger auf den beabsichtigten Reha-Plan der Beklagten mit einer depressiven Abwehr reagieren würde. Vor dem Hintergrund einer sich verschlechternden Symptomatik sei eine stationäre Traumabehandlung angezeigt (Bl. 103 ff. UA)
In der Stellungnahme nach Aktenlage vertrat der beratende Arzt der Beklagten, Dr. H., die Ansicht, dass das sog. A-Kriterium für die Annahme einer PTBS nicht erfüllt sei. Auch er würde aber eine stationäre Behandlungsmaßnahme empfehlen, wobei der Kläger mit der Tatsache konfrontiert werden solle, dass er keinen Mann gesehen, sondern es sich um eine Suizidantin gehandelt habe (Bl. 108 ff. UA).
Vom 08.12.2009 bis zum 05.01.2010 befand sich der Kläger zur stationären Behandlung in der I ... Im Entlassungsbericht führten die Dres. J. aus, dass beim Kläger in psychiatrischer Hinsicht "eine Persönlichkeitsstruktur mit asthenischen und paranoiden Zügen sowie der Verdacht auf eine Angststörung mit Panikattacken" vorliegen würde. Aufgrund dieser unfallunabhängigen Erkrankungen sei der Kläger weiterhin arbeitsunfähig. Wegen der Verschiebung der Wesensgrundlage zu mittlerweile im Vordergrund stehenden unfallunabhängigen Symptomen müsse das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren abgeschlossen und die Weiterbehandlung zu Lasten der Krankenkasse erfolgen (146 f. UA). Dieser Einschätzung lag auch ein psychologischer Bericht der Dipl.-Psych. K. zugrunde (Bl. 148 ff. UA). In der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 05.02.2010 vertrat Dr. H. die Ansicht, dass als Folge des angeschuldigten Ereignisses lediglich eine Anpassungsstörung vorgelegen habe, die nur zu einer Arbeitsunfähigkeit von maximal 6 Wochen und einer Behandlungsbedürftigkeit von 3 Monaten geführt habe (Bl. 166 ff. UA). Das gegenwärtige Bild sei demgegenüber in erster Linie durch eine Persönlichkeitsstörung mit asthenischen und paranoiden Zügen charakterisiert. Daneben würde vermutlich eine Angststörung mit Panikattacken vorliegen. Mit dem Bescheid vom 11.02.2010 erkannte die Beklagte als Folge des Ereignisses vom 26.11.2008 eine Anpassungsstörung sowie unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bis zum 06.01.2009 und unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit bis zum 25.02.2009 an. Über die genannten Zeitpunkte hinaus wurde die Gewährung von Leistungen abgelehnt (Bl. 169 UA). Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde auf eine Stellungnahme von Herrn G. vom 28.03.2010 gestützt. Darin hat er die Auffassung bekräftigt, dass das A-Kriterium für die Annahme einer PTBS erfüllt sei und die Beklagten die unfallbedingten und -fremden Anteile des psychischen Befundes unzutreffend abgegrenzt habe. In der weiteren beratungsärztlichen Stellungnahme vom 12.08.2010 hielt Dr. H. an seinem Votum fest (Bl. ff. 218 UA). Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 30.08.2010 zurückgewiesen (Bl. 227 UA).
Hiergegen haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers am 15.09.2010 beim Sozialgericht (= SG) Lüneburg Klage erhoben. Im Bericht vom 10.04.2011 hat Herr G. die Diagnose einer PTBS bekräftigt und hinzugefügt, dass eine vorbestehende Symptomatik nicht eruierbar sei (Bl. 32 SG Akte). Auch in dem für die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft/Bahn/See erstellten neurologisch-psychiatrischen Gutachten von Dr. L. vom 10.11.2010 wurde als Diagnose eine PTBS angegeben. Darin wurde auch ausgeführt, dass der Kläger nur noch unter 3 Stunden/Tag leistungsfähig sei. In der Stellungnahme vom 14.07.2011 hat Dr. M. an seiner bisherigen Auffassung festgehalten.
Unter dem 07.10.2011 hat Prof. Dr. N. ein neurologisch-psychiatrisches und testpsychologisches Zusammenhangsgutachten erstattet. Darin ist er zu dem Ergebnis gelangt, dass beim Kläger als Folge des angeschuldigten Ereignisses "eine chronifizierte mittelgradig bis schwere depressive Episode mit posttraumatischen Anteilen" vorliegt. Hinweise auf eine vorbestehende Schadensanlage würden nicht existieren. Die entsprechende Annahme der Ärzte der I. sei reine Spekulation, zumal diese es unterlassen hätten, die Persönlichkeit des Klägers zu erhellen. Es sei nicht einmal der Versuch unternommen worden, zu beschreiben, welche diagnostischen ICD 10-Kriterien der behaupteten Persönlichkeitsstörung erfüllt seien.
Demgegenüber hat Dr. H. in der Stellungnahme vom 26.10.2011 weiterhin die Auffassung vertreten, dass die gegenwärtige psychische Symptomatik des Klägers nicht auf das angeschuldigte Ereignis zurückgeführt werden könne. Der bloße Anblick einer Leiche könne zwar eine akute Belastungsreaktion bzw. einen Schock auslösen. Er sei jedoch nicht generell geeignet, eine derart langfristige psychische Symptomatik zu bewirken.
In der ergänzenden Stellungnahme vom 05.12.2011 hat Prof. Dr. N. an seinem Votum festgehalten, dass der Anblick der Leiche eine wesentliche Teilursache für die Ausbildung der psychischen Symptomatik beim Kläger gewesen ist. Es könne nicht darauf abgestellt werden, dass ein solches Ereignis von einem bestimmten Prozentsatz der Bevölkerung ohne relevante psychische Symptomatik überwunden werde. Vielmehr komme es darauf an, wie die Belastungssituation im Einzelfall von dem Verletzten verarbeitet werde.
Die Prozessbevollmächtigten des Klägers beantragen,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 11.02.2010 und den Widerspruchsbescheid vom 30.08.2010 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, über den 25.02.2009 hinaus Behandlungsbedürftigkeit sowie über den 06.01.2009 hinaus unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit beim Kläger anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gem. § 54 Abs. 1 i. V. m. § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG zulässig, soweit der Kläger die Feststellung begehrt, dass die geltend gemachten Gesundheitsstörungen Folgen des Unfalls 26.11.2008 sind (Bundessozialgericht (=BSG), Urt. v. 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R). Zwar haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers die Feststellung von weiterbestehenden Unfallfolgen nicht ausdrücklich beantragt. Der Beklagte hat jedoch in dem angefochtenen Bescheid entschieden, dass ab dem 26.02.2009 generell keine Leistungen mehr gewährt werden, weil keine Unfallfolgen mehr vorliegen würden. In sinnentsprechender Auslegung des Klagevortrags (§ 123 SGG) wendet sich der Kläger daher insbesondere gegen diese Feststellung, so dass der Antrag entsprechend umzudeuten war (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 10. Aufl., § 130 SGG, Rz. 2a, § 55 Rz. 13 b, m. w. N.). Die Klage ist jedoch unzulässig, soweit der Kläger die Anerkennung weiterer Zeiten der unfallbedingten Behandlungsbedürftigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit beantragt hat. Beide Begriffe stellen vielmehr jeweils nur ein Element für einen Anspruch auf die Gewährung von Heilbehandlung bzw. Verletztengeld dar. Eine solche Elementenfeststellungsklage ist wiederum nicht statthaft (Meyer-Ladewig, a. a. O., § 55 Rz. 9 f., m.w.N.). Der Antrag zu 2.) konnte auch nicht in einen Antrag auf Gewährung von Heilbehandlung und Verletztengeld umgedeutet werden, da die Beklagte in dem angefochtenen Verwaltungsakt nicht über die Gewährung oder Ablehnung von bestimmten konkreten Leistungen entschieden hat. Ein solcher Verwaltungsakt wäre jedoch Voraussetzung für eine auf eine Leistungsgewährung gerichtete kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage bzw. kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (BSG, Urt. v. 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R, Rz. ff.).
Die Klage ist allerdings, soweit sie zulässig ist, begründet. Zu Unrecht hat die Beklagte die Anerkennung der beim Kläger vorliegenden psychischen Gesundheitsstörungen als Folgen des Unfalls vom 26.11.2008 abgelehnt. Die angefochtenen Bescheide waren daher aufzuheben.
Nach den Anerkennungsgrundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung (= gUV) sind die Ausübung einer versicherten Tätigkeit zum Unfallzeitpunkt, das Unfallereignis und die Gesundheitsstörung (einschließlich der Brückensymptome) im Wege des Vollbeweises nachzuweisen. Darüber hinaus ist für die Feststellung des Zusammenhangs zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden (haftungsausfüllende Kausalität) ein hinreichender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich. Dieser ist nach der Rechtsprechung aber nur dann erreicht, wenn bei einem vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf eine berufliche Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich überwiegen (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich erst dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Kommentar § 8 SGB VII, Rz. 10, m. w. N.). Die reine Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs ist daher für eine Anerkennung nicht ausreichend (BSG, Urt. v. 27.06.2000 - B 2 U 29/99 R, S. 8 f.; Urt. v. 02.05.2001 - B 2 U 16/00 R, S. 7 m. w. N.; BSG, Urt. v. 02.04.2009 - B 2 U 29/07 R; Landessozialgericht (= LSG) Niedersachsen, Urt. v. 25.07.2002 - L 3/9/6 U 12/00, S. 6.).
Außerdem ist zu beachten, dass nach der in der gUV geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung ein Unfall nur dann als Ursache eines Gesundheitsschadens anzusehen ist, wenn er für die Ausbildung der Gesundheitsstörung wesentlich war. Dabei erfordert die Feststellung einer wesentlichen Ursache allerdings nicht, dass der Unfall die alleinige oder überwiegende Bedingung für eine bestimmte Rechtsfolge ist. Haben mehrere Ursachen gemeinsam zum Gesundheitsschaden beigetragen, sind sie nebeneinander stehende Teilursachen. Kein Faktor hebt die Mitursächlichkeit des anderen auf. Dabei kann sogar eine verhältnismäßig niedriger zu wertende Bedingung für "den Erfolg" rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben) (BSG, Urt. v. 09.05.2006 - B 2 U 1/05, Rz. 15, m. w. N., st. Rspr.).
Bei Anwendung dieser Grundsätze war das angeschuldigte Ereignis mit Wahrscheinlichkeit zumindest wesentliche Teilursache für das von Prof. Dr. N. festgestellte "depressive Syndrom mit posttraumatischen Anteilen". Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
In der gUV ist - entsprechend den o. g. Anerkennungsgrundsätzen - auch die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen möglich. Denn auch psychische Reaktionen können rechtlich wesentlich durch ein Unfallereignis verursacht werden (BSG, Urt. v. 09.05.2006 - B 2 U 26/04 R, Rz. 25 m. w. N.). Vor diesem Hintergrund kann daher zunächst kein Zweifel daran bestehen, dass der Anblick der verstümmelten Leiche beim Kläger eine erhebliche Reaktion im psychischen Bereich verursacht hat und somit ein erheblicher Gesundheitserstschaden vorliegt. Dies ergibt sich nicht nur aus den Berichten der Diplom-Psychologin E. und des behandelnden Arztes, Herrn G ... Vielmehr sind auch die Ärzte der I. und der beratende Arzt der Beklagten, Dr. H., davon ausgegangen, dass der Unfall die wesentliche Ursache für die - anfängliche - Entwicklung der psychischen Problematik gewesen ist. Insbesondere die Diplom-Psychologin E. hat überzeugend dargelegt, dass die psychische Gesamtsamtsituation mit wechselnden Anteilen einer depressiven Komponente und einer typischen Traumasymptomatik wesentlich auf das angeschuldigte Ereignis zurückzuführen ist. Dies entspricht auch dem in der gUV geltenden Grundsatz der unteilbaren Kausalität (bzw. dem Alles oder Nichts-Prinzip), nach dem bei voneinander nicht abgrenzbaren bzw. miteinander verwobenen Kausalitätsketten der Gesamtschaden zu entschädigen ist, auch wenn die unfallbedingte Komponente nur eine wesentliche Teilursache darstellt.
Nach den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. N. war der Anblick der verstümmelten Leiche darüber hinaus geeignet, auch das weiterbestehende und mittlerweile chronifizierte "depressive Syndrom mit posttraumatischen Anteilen" beim Kläger zu verursachen. Zu Recht hat Prof. Dr. N. darauf hingewiesen, dass es bei einer Kausalitätsbeurteilung in der gUV nicht darauf ankommt, ob ein bestimmter Prozentsatz der Allgemeinbevölkerung oder einer Berufsgruppe (z. B. Zugbegleiter) ein solches Ereignis ohne das Auftreten von psychischen Gesundheitsstörungen verkraftet hätte. Vielmehr ist stets auf den Einzelfall abzustellen, weil ein Versicherter grundsätzlich in dem Zustand geschützt ist, in dem er den Versicherungsfall erlitten hat (LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 27.06.2010 - L 8 U 1427/10; BSG, Urt. v. 09.05.2006 - B 2 U 1/05 Rz. 19). Prof. Dr. N. hat nun unter Hinweis auf einschlägige Literatur schlüssig dargestellt, dass es in der medizinischen Wissenschaft anerkannt ist, dass eine erste depressive Episode bei etwa 20 % der Betroffenen einen chronischen Verlauf nimmt, der auch nach zwei Jahren noch keine relevante Besserung erkennen lässt (Bl. 90 SG-Akte = S. 40 des Gutachtens). Auch in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine akute Belastungssituation in eine akute PTBS oder andere chronische Traumafolgen übergehen kann (LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 31.03.2011 - L 3 U 319/08, m. w. N.). Dies ist nach den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. N. auch beim Kläger der Fall gewesen, zumal aufgrund der sensitiven bzw. sensiblen Persönlichkeit des Klägers eine besondere Verletzlichkeit besteht. Letzteres wird wiederum auch durch den behandelnden Arzt Herrn G. bestätigt.
Sofern die Beklagte ausführt, dass die wesentliche Ursache der weiterbestehenden Gesundheitsstörungen im psychischen Bereich in einer vorbestehenden Persönlichkeitsstörung zu erblicken sei bzw. unfallunabhängige Ursachen die Wesensgrundlage der Erkrankung verschoben hätten, ist dem entgegenzuhalten, dass solche Phänomene durch nichts belegt sind. Um mit einer solchen vorbestehenden krankhaften Anlage bzw. einer nachträglich hinzugekommenen Ursache argumentieren zu können, muss diese aber bewiesen sein (BSGE 61, 127, 130 [BSG 20.01.1987 - 2 RU 27/86]; Bayerisches LSG, Urt. v. 27.07.2005 - L 3 U 211/03, m. w. N.), was hier jedoch nicht der Fall ist. Auch dies hat Prof. Dr. N. schlüssig herausgearbeitet. Hinweise auf eine vorbestehende Schadensanlage waren nicht zu eruieren, zumal der Kläger über viele Jahre seiner beruflichen Tätigkeit ohne längere gesundheitlich bedingte Fehlzeiten nachgegangen ist und die psychiatrische Anamnese vor dem angeschuldigten Ereignis vollkommen leer war. Auch die Kammer hält daher das Votum der Ärzte der I. für nicht überzeugend, und teilt die Auffassung von Prof. Dr. N., dass diese eine sachgerechte Erhellung der Persönlichkeit des Kläger unterlassen und insbesondere auch nicht beschrieben haben, welche diagnostischen ICD 10-Kriterien der vermeintlichen Persönlichkeitsstörung erfüllt sein sollen. Den Ausführungen auf S. 33 des Gutachtens (= Bl. 82 f. SG-Akte) schließt sich die Kammer vollinhaltlich an.
Dem Umstand, dass der Kläger eine sensible Persönlichkeit besitzt oder in einem belastenden privaten Umfeld lebt, kommt als solcher kein Krankheitswert zu. Er kann insbesondere nicht als Persönlichkeitsstörung interpretiert werden. Gleiches gilt für seine Angabe, dass er von einer entsprechenden Situation bereits vor dem Unfall geträumt habe oder er von einer männlichen Leiche ausging. Denn weder der Zugang zu den eigenen Träumen noch die unzutreffende Wahrnehmung des Geschlechts eines - im Übrigen extrem verstümmelten - Leichnams können als Beleg für eine psychische Erkrankung dienen. Prof. Dr. N. hat vielmehr eindeutig und schlüssig dargestellt, dass keine belastbaren Hinweise existieren, dass bizarre Überzeugungen die Persönlichkeit des Klägers prägen oder an der Aufrechterhaltung der Störung in relevanter Weise beteiligt sind. Es sei darauf hingewiesen, dass selbst die Feststellung einer vorbestehenden krankhaften Anlage bzw. einer nachträglich hinzugekommenen wesentlichen Ursache nicht automatisch dazu führen würde, dem angeschuldigte Ereignis die Bedeutung als wesentliche Ursache absprechen zu können. Der Unfall ist vielmehr solange als eine wesentliche Teilursache für die fortbestehende Gesundheitsstörung anzusehen, bis nachgewiesen ist, dass die anderen Ursachen die allein wesentliche - überragende - Bedeutung für Ausbildung des Krankheitsbildes besaßen bzw. erlangt haben. Nur für den Fall, dass eine vorbestehende Krankheitsanlage so stark ausgeprägt ist, dass die Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedarf, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit oder in naher Zukunft die Erscheinung ausgelöst hätte, würde dem angeschuldigten Ereignis die Bedeutung einer rechtlich unwesentlichen, sog. Gelegenheitsursache zukommen (vgl. BSGE 62, 220, 222 [BSG 27.10.1987 - 2 RU 35/87], 223). Für eine solche vorbestehende Krankheitsanlage ergeben sich jedoch keine Hinweise.
Auch der Ansicht, dass die Unfallfolgen abgeklungen seien und eine sog. Verschiebung der Wesensgrundlage für die psychischen Beschwerden eingetreten ist, konnte die Kammer nicht folgen. Die unfallbedingten Gesundheitsschäden sind vielmehr nach wie vor wirksam, was sich allein schon aus den von Prof. Dr. N. festgestellten vegetativen Begleitsymptomen ergibt, die auftreten, wenn der Kläger das angeschuldigte Ereignis schildert. Andere Erkrankungen sind demgegenüber nicht bewiesen. Der reine Zeitablauf ersetzt im Übrigen nicht den Beleg, dass andere, unfallunabhängige Erkrankungen nunmehr dermaßen das - äußerlich unveränderte - Erkrankungsbild dominieren, dass sie die unfallbedingten Komponenten der Erkrankung völlig in den Hintergrund gedrängt haben (siehe hierzu bereits BSGE 13, 89 ff.). Beim Kläger liegt daher als Folge des Unfalls vom 26.11.2008 die von Prof. Dr. Meins festgestellte "chronifizierte mittelgradig bis schwere depressive Episode mit posttraumatischen Anteilen" vor.
Es kann daher dahinstehen, ob beim Kläger eine "klassische" PTBS vorliegt. Ergänzend sei jedoch in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass laut ICD-10 F43.1 eine PTBS zwar definiert wird als "eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde". Allerdings wird in den diagnostischen Kriterien des DSM-IV TR Nr. 309.81 für die PTBS (vgl. hierzu LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 31.03.2011 - L 3 U 319/08) nicht darauf abgestellt, dass das Ereignis "bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde". Vielmehr ist es für das sog. A-Kriterium ausreichend, dass die Person erlebte, beobachtete oder mit einem oder mehreren Erlebnissen konfrontiert war, die tatsächlich oder drohend den Tod, die ernsthafte Verletzung oder die Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten. Die Reaktion der Person muss dabei intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen umfassen. Nach der zuletzt genannten Definition des A-Kriteriums kann es keinem Zweifel unterliegen, dass dessen Voraussetzungen auch im vorliegenden Fall erfüllt waren.
Der Rechtsstreit konnte durch Gerichtsbescheid (§ 105 SGG) entschieden werden, nachdem der Sachverhalt - soweit er für die Entscheidung von Bedeutung war - geklärt ist, die Beteiligten hierzu gehört wurden und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden war. Sie haben sich mit dieser Entscheidungsform auch einverstanden erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.