Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 15.04.2013, Az.: S 2 U 78/10

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
15.04.2013
Aktenzeichen
S 2 U 78/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 64245
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen.

Die Klägerin und ihr im Jahr 1941 geborener Ehemann (hier: Herr G.) waren seit dem 27.03.1965 verheiratet. Von 1957 bis 1960 absolvierte er eine Lehre als Elektro- und Wasserinstallateur. Danach war er bis 1993 bei unterschiedlichen Unternehmen unter anderem als Stauer, Ewerführer, Schiffsmaschinist, Klempner im Heizungsbau und Bauschlosser beschäftigt. Von 1993 bis 1999 war er selbstständig tätig. Dieses Unternehmen hatte den Einbau von Bauelementen zum Gegenstand. Während seines Berufslebens bestand unstreitig eine Asbestexposition. Nach den Berichten der Präventionsabteilungen der für die verschiedenen Unternehmen zuständigen Berufsgenossenschaften ergab sich letztendlich eine Asbestexposition von insgesamt 32,7 Asbestfaserjahren (= AFJ; Bl. 462 der Akte der Beklagten <= BA>). Dies wurde allerdings erst im Rahmen des Widerspruchsverfahrens festgestellt, nachdem die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (= VBG) für die Fa. X. eine Asbestexposition von 27,6 AFJ ermittelt hatte (Bl. 453 BA). Die Bearbeitung des Falles blieb bei der Beklagten, da die Fa. G. - für die zunächst die VBG zuständig war - im Wesentlichen stillgelegt und die verbliebenen Betriebsteile mit Wirkung zum 01.01.2010 an die Beklagte überwiesen worden waren (Bl. 459 BA). Seit dem 01.04.2005 bezog Herr G. eine Altersrente.

Herr G. befand sich bereits vom 20.07.2001 - 08.08.2001 zu einem stationären Aufenthalt im Allgemeinen Krankenhaus (= AKH) H. (Anmerkung: später I.). Bereits seinerzeit wurde ein beidseitiges Lungenemphysem festgestellt. Außerdem bestand aufgrund eines unklaren Rundherdes im rechten Lungenoberlappen der Verdacht auf ein bronchopulmonales Karzinom. Dieser konnte jedoch durch eine histologische Untersuchung nicht bestätigt werden (Bl. 190, 205 BA).

Ein weiterer stationärer Aufenthalt im AKH H. war vom 16.07.2008 – 23.07.2008 aufgrund der Diagnose "Karzinom in situ im 6-er-Bronchusabgang rechts“ erforderlich. Im Bericht vom 30.07.2008 wurde ausgeführt, dass sich dort mehrere weißliche Schleimhautauflagerungen gezeigt hätten, die weder weggespült noch abgesaugt hätten werden können. Die endosonographische Punktion des suspekten Lymphknotens habe jedoch weder zytologisch noch histologisch einen Anhaltspunkt für Malignität ergeben. Die abdo-mensonographische Untersuchung und die Knochenszintigraphie hätten auch keine Hinweise für Metastasen erbracht. Aufgrund der funktionellen Inoperabilität wurde die Durchführung einer Cryotherapie mit einer anschließenden Afterloading-Therapie empfohlen. Auf die Begleiterkrankungen im Sinne eines großbullösen Lungenemphysems und einer chronisch-obstruktiven Atemwegserkrankung (= COPD) wurde hingewiesen (Bl. 20 BA).

Am 22.07.2008 erstattete das AKH H. die ärztliche Berufskrankheitenanzeige (Bl. 1 BA). Als Diagnose wurde der „Verdacht auf eine Bronchialkarzinose“ angegeben. Vom 01.09.2008 - 03.09.2008 wurde wegen des Karzinoms in situ eine Cryotherapie durchgeführt (Bl. 153 BA). Vom 03.09.2008 bis zum 12.09.2008 schloss sich eine stationäre Behandlung im J. an, die aufgrund einer akut auftretenden Atemnot erforderlich geworden war. Als Ursache hierfür wurde „eine Exazerbation der bekannten COPD“ angegeben. Es wurde ausgeführt, dass Herr G. in gutem klinischen Allgemeinzustand entlassen worden sei (Bl. 198 BA). Die pathomorphologische Begutachtung eines Bronchusbiopsiepartikels ergab ein „verhornendes, plattenepipethales Karzinom in situ“. Es wurde ausgeführt, dass es sich im Vorliegenden nicht um ein invasives Karzinom gehandelt habe und die Proben keine Hinweise für eine Malignität ergeben hätten (Bl. 51 BA).

Bei stationären Aufenthalten in der K. in L. im Februar und März 2009 sowie vom 06. - 09.05.2009 im AKH H. wurden jeweils erneut „hochgradige Dysplasien im Sinne eines Karzinoms in situ“ festgestellt, obwohl zwischenzeitlich eine Brachy-Therapie (Bestrahlung mit Iridium) durchgeführt worden war (Bl. 216, 247 BA).

Am 14.05.2009 wurde Herr G. aufgrund der Diagnosen "respiratorische globale Insuffizienz bei infektexazerbierter COPD, Schweißerlunge, Nikotinabusus und Bronchialkarzinom rechts" in das J. eingewiesen (Bl. 253 BA). Am 18.05.2009 erfolgte eine Verlegung in die M., wo Herr G. am 31.05.2009 verstarb (Bl. 324 BA). Herr G. wurde feuerbestattet. Eine Obduktion wurde nicht durchgeführt.

Im Schreiben vom 28.05.2009 wies die Klägerin die Beklagte darauf hin, dass Dr. N. von der M. ihr erklärt habe, dass die schwere Lungenerkrankung vom Schweißen verursacht worden sei. Ihr Mann habe „eine Schweißer-Asbestlunge“ gehabt (Bl. 242 BA).

In den beratungsärztlichen Stellungnahmen vom 18.08.2009 und 24.09.2009 führte Dr. O. aus, dass von einer primären bösartigen Neubildung im Bereich des Thorax bzw. des Bronchialsystems auszugehen sei. Bei dem Karzinom in situ würde es sich jedoch um ein sehr begrenztes, bösartiges Geschehen handeln. In den Kontrollen seien allerdings auch nach der Bestrahlung weiterhin hochgradige Dysplasien mit dem Verdacht auf den Übergang zu tumorösen Veränderungen festgestellt worden. Es hätten sich jedoch keine asbestbedingten Brückenbefunde im Sinne einer Lungen- oder Pleura-asbestose feststellen lassen. Die Röntgen- und CT-Aufnahmen hätten keine Asbeststaubinhalationsfolgen erkennen lassen (Bl. 289 BA). Es würde auch keine sog. Schweißerlunge vorliegen. Hierbei würde es sich um einen interstitiellen Lungenprozess im Sinne einer Vernarbung der Lunge mit einer restriktiven Ventilationsstörung handeln. Eine solche Erkrankung habe bei Herrn G. jedoch nicht vorgelegen. Vielmehr sei das Krankheitsgeschehen durch ein Lungenemphysem und eine obstruktive Atemwegserkrankung geprägt gewesen (Bl. 370 BA).

Mit dem Bescheid vom 09.10.2009 wurde die Gewährung einer Witwenrente abgelehnt. Es wurde ausgeführt, dass bei Herrn G. keine Berufskrankheit (= BK) vorgelegen habe. Eine BK nach der Ziffer 4104 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (= BK 4104) könne nicht zur Anerkennung kommen, da weit unter 25 Asbestfaserjahren festgestellt worden seien. Ebenso wenig würde eine BK 4115 vorliegen, da auch eine Schweißerlunge nicht festgestellt worden sei. Im Widerspruchsverfahren wurden zunächst - wie oben bereits ausgeführt - weitere Ermittlungen zur Asbestexposition durchgeführt. Außerdem wurde recherchiert, wie es zu der Diagnose „Schweißerlunge“ gekommen war. Nach den Mitteilungen des P. und des Q. sei diese Diagnose jeweils von der I. in L. übernommen wurden. Die I. L. hat dem Schreiben vom 28.01.2010 wiederum mitgeteilt, dass die Diagnose "Schweißerlunge" lediglich aufgrund der anamnestischen Angaben von Herrn G. aufgenommen worden sei (Bl. 458 BA). Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 04.06.2010 zurückgewiesen. Darin wurde ausgeführt, dass in Bezug auf eine BK 4104 die arbeitstechnischen Voraussetzungen zwar erfüllt seien. Das Karzinom in situ könne jedoch nach der neuen Fassung des Falkensteiner Merkblatts nicht als Karzinom im Sinne einer BK 4104 angesehen werden. Außerdem sei die Diagnose „Schweißerlunge“ nur ungeprüft übernommen und niemals bestätigt worden, so dass auch eine BK 4115 nicht vorgelegen habe (Bl. 468 BA).

Hiergegen hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten beim Sozialgericht (= SG) Lüneburg am 09.07.2010 Klage erhoben und die Auffassung vertreten, dass das Karzinom in situ als Krebs im Sinne einer BK 4104 anzusehen sei. Außerdem könne Dr. R. bestätigen, dass bei Herrn G. eine Schweißerlunge vorgelegen habe.

Im Bericht vom 05.09.2011 hat Dr. R. allerdings ausgeführt, dass ein Bronchialkarzinom im eigentlichen Sinne bei Herrn G. nicht nachgewiesen worden sei. Es hätte lediglich ein Karzinom in situ der bronchialen Schleimhaut vorgelegen. Ein solches würde variable Verläufe mit der Möglichkeit der Rückbildung und des Neuauftretens an unterschiedlichen Stellen beinhalten. Außerdem sei davon auszugehen, dass die Diagnose „Schweißerlunge“ vermutlich fälschlicherweise gestellt worden sei, da bei Herrn G. weder eine Verhärtung des Lungengewebes noch die typischen Fibrosebefunde festgestellt worden seien.

Die Beklagte hat im Schriftsatz vom 13.09.2011 die Auffassung vertreten, dass die Falkensteiner Empfehlungen den aktuellsten medizinischen Kenntnisstand widerspiegeln würden. Auch die WHO würde das Karzinom in situ nicht mehr als Karzinom einordnen. Da das Karzinom in situ per Definition kein Krebs mehr sei, könne auch keine Entschädigung erfolgen. Krebsvorstufen, worunter auch sog. Dysplasien zu zählen sein, würden nicht unter die BK 4104 fallen (Bl. 91 SG Akte).

In der Stellungnahme vom 26.09.2011 hat Dr. O. darauf hingewiesen, dass die Zellen eines Karzinoms in situ nicht anders zur Darstellung kommen würden wie bei einem Tumor, der schon in tiefere Gewebeschichten invasiv hineingewachsen sei. Allerdings sei bei einem Karzinom in situ der Krebs in seinem Wachstum derartig gering ausgeprägt, dass gewisse zelluläre Strukturen der Schleimhaut nicht durchbrochen seien. Allerdings könne es bei einem weiteren Tumorwachstum zu einem Durchbruch kommen und sich dann das Vollbild eines in das umgebende Gewebe wachsenden Tumors herausstellen. Ein Karzinom in situ sei daher mit sämtlichen Weiterentwicklungspotenzialen behaftet, so dass die Entfernung dieser Tumorteile in der bronchialen Schleimhaut notwendig sei. Bei einer nicht vollständigen Entfernung würde die Gefahr bestehen, dass die bösartige Neubildung fortschreitet. Im konkreten Fall könne nicht festgestellt werden, ob das Karzinom in situ nun doch an irgendeiner Stelle die Basalmembran durchbrochen habe und es anderen Orts zu tumorösen Neubildungen gekommen sei. Er würde jedoch vermuten, dass letztlich die COPD die zum Tode führende Erkrankung gewesen sei, was wiederum bedeuten würde, dass das Karzinom in situ bzw. dessen Behandlung keinen Anteil am Tod von Herrn G. gehabt habe.

Unter dem 27.08.2012 hat Dr. S. ein pathologisches Gutachten erstattet. Darin ist sie zu dem Ergebnis gelangt, dass den Falkensteiner Empfehlungen, wonach ein Karzinom in situ nicht unter die BK 4104 fallen würde, zuzustimmen sei. Eine Krebserkrankung sei dadurch gekennzeichnet, dass eine exzessive unkontrollierte Zellproliferation vorliegen würde, die zum einen zu einem lokal zerstörerischen Wachstum und zum anderen zur Absiedelung in anderen Organen führen würde. Dies sei jedoch bei einem Karzinom in situ noch nicht der Fall. Ein Karzinom in situ habe darüber hinaus für sich alleine auch keine schädlichen Auswirkungen auf den Körper (131 SG-Akte). In der ergänzenden Stellungnahme vom 06.12.2012 hat Dr. S. an ihrem Votum festgehalten. Sie hat weiterhin die Auffassung vertreten, dass das Karzinom in situ nur eine Krebsvorstufe sei, die nicht zwangsläufig in einen Krebs übergehen würde. Die Behandlung von präkanzerogenen Veränderungen hätte im Übrigen das Ziel zu verhindern, dass eine Krebserkrankung entsteht. Dr. S. wies außerdem darauf hin, dass der Gegenstand einer BK 4115 nur eine Siderofibrose, nicht jedoch eine Schweißerlunge (= Siderose) sei. Eine Fibrose habe jedoch nach den Ausführungen von Dr. O. nicht vorgelegen (Bl. 144 ff. SG-Akte).

Am 15.04.2013 wurde eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Darin hat die Klägerin erklärt, dass sie mit ihrem Mann zum Zeitpunkt seines Todes zusammen in einem Haushalt gelebt und nicht wieder geheiratet hat.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,

1. den Bescheid der Beklagten vom 09.10.2009 und den Widerspruchsbescheid vom 04.06.2010 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet, weil die Klägerin keinen Anspruch auf die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen, insbesondere einer Witwenrente, hat. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten erweisen sich daher im Ergebnis als rechtmäßig.

Nach § 63 Abs. 1 SGB VII ist Voraussetzung eines jeden Hinterbliebenenrechts, dass in der Person des Versicherten ein Versicherungsfall eingetreten war, infolgedessen er verstorben ist.Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (=BSG) ist die Frage, ob ein Versicherungsfall vorgelegen hat und welcher es genau war, kein selbstständiger Gegenstand des Verwaltungsverfahrens (welches die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen zum Ziel hat), sondern nur eine Tatbestandsvoraussetzung des streitgegenständlichen Anspruchs. Der Hinterbliebene kann sich daher darauf beschränken vorzutragen, dass beim Versicherten irgendein Versicherungsfall vorgelegen und dieser den Tod herbeigeführt hat. Der Unfallversicherungsträger muss dann - unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt - darüber entscheiden, ob das vom Hinterbliebenen verfolgte Recht auf Hinterbliebenenleistungen besteht oder nicht (BSG, Urt. v. 29.11.2011 - B 2 U 1620/10 R, Rz. 18). Die Beklagte war daher im Rahmen der Anspruchsprüfung - nicht nur aus verwaltungsökonomischen Gründen (vgl. Bl. 4 des Widerspruchbescheids) - gehalten, auch die Voraussetzungen einer BK 4115 zu prüfen, wie dies letztlich auch erfolgt ist.

Im vorliegenden Fall kann allerdings nicht festgestellt werden, dass der Ehemann der Klägerin an den Folgen eines Versicherungsfalls verstorben ist. Für die Anerkennung einer Berufskrankheit gelten in der gesetzlichen Unfallversicherung folgende Grundsätze: Während die gesundheitsschädlichen beruflichen Einflüsse und die Erkrankung als solche i. S. des Vollbeweises nachzuweisen sind, ist für die Feststellung des Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und den beruflichen Einwirkungen (haftungsbegründende Kausalität) und des Zusammenhangs zwischen den beruflichen Einwirkungen und dem Gesundheitsschaden (haftungsausfüllende Kausalität) ein hinreichender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich. Dieser ist nach der Rechtsprechung allerdings erst dann erreicht, wenn bei einem vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf eine berufliche Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich überwiegen (vgl. Bundessozialgericht <= BSG> SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich insbesondere erst dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Handkommentar, § 8 SGB VII, Rz. 10).

Diese Grundsätze sind im Fall der BK 4104 für die Alternativen a) und b) zur Gänze anzuwenden. Für die Alternative c) ist zwar die Feststellung eines wahrscheinlichen Ursachenzusammenhangs nicht notwendig, weil beim Vorliegen einer Asbeststaubdosis von 25 AFJ ein Ursachenzusammenhang unterstellt wird (vgl. Mehrtens/Perlebach, Kom-mentar zur BKV, M 4104, S. 8). Allerdings muss - der Verordnungstext sieht dies ausdrücklich vor - eine Exposition in dieser Höhe auch nachgewiesen sein.

Zwar lag nach Auffassung der Kammer unter Beachtung dieser Kriterien bei Herrn G. eine BK 4104 vor. Danach sind grundsätzlich anerkennungsfähig:

Lungenkrebs ...

a) in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose),
b) in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachten Erkrankungen der Pleura oder
c) bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeits-platz von mindestens 25 Faserjahren T..

Diese Voraussetzungen waren hier erfüllt, da eine Asbestfaserstaub-Dosis von deutlich über 25 AFJ nachgewiesen ist und auch eine Lungenkrebserkrankung vorgelegen hat. Zwar ist in der Neufassung der Falkensteiner Empfehlungen (2010) unter der Ziffer 4.1 ausgeführt, dass das Karzinom in situ der Lunge definitionsgemäß nicht die Einschlusskriterien der BK 4104 erfüllen würde. Diese Argumentation ist jedoch unschlüssig, da weiter oben im Rahmen der Ziffer 4.1 ausgeführt wurde, dass der Terminus „Lungenkrebs“ in der BKV gerade nicht definiert sei. Nach der Definition im klinischen Wörterbuch Pschyrembel (258. Aufl.) ist Krebs u. a. die allgemeine Bezeichnung für bösartige Neubildungen (Tumor), wobei unter einem Tumor eine Geschwulst, eine örtlich umschriebene Zunahme des Gewebevolumens und im weiteren Sinne jede lokalisierte Anschwellung zu verstehen ist (S. 869, 1612). Mit der Befundbeschreibung und von Dr. O. („bösartige Neubildungen und hochgradige Dysplasien“) und seiner Einordnung kann das Karzinom in situ daher zwanglos unter den Begriff Krebs subsumiert werden. Entscheidend ist jedoch nach Auffassung der Kammer, dass gemäß § 9 Abs. 5 SGB VII bei der Bestimmung des Versicherungsfalls einer Berufskrankheit entsprechend dem Günstigkeitsprinzip auf die Zeitpunkte des Beginns der rentenberechtigenden MdE, der Arbeitsunfähigkeit, aber auch der Behandlungsbedürftigkeit abzustellen ist. Das Günstigkeitsprinzip findet wiederum in der Vorschrift des § 2 Abs. 2 SGB I seine Grundlage, nach der bei der Auslegung der Vorschriften des SGB sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Da nach den Ausführungen von Dr. O. die Zellen des Karzinoms in situ sich nicht von anderen Krebszellen unterscheiden, das Karzinom in situ mit sämtlichen Weiterentwicklungspotenzialen einer bösartigen Krebserkrankung behaftet ist und im konkreten Fall in Ansehung des Karzinoms in situ bereits Bestrahlungen bzw. Behandlungen erforderlich waren und auch mehrfach durchgeführt wurden (z. B. Bl. 462 BK-A), kann nicht erkannt werden, aus welchem Grund bei Herrn G. eine Krebserkrankung i. S. des Berufskrankheitenrechts zu verneinen ist. Im Übrigen steht § 2 Abs. 2 SGB I einer Handhabung entgegen, welche ohne sachlichen Grund sich der für einen Versicherten ungünstigeren Definition bedient. Die Kammer hält die von Dr. S. getroffene Abgrenzung, dass eine Krebserkrankung erst dann vorliegt, wenn die Basalmembran durchbrochen ist, daher nicht für gesetzeskonform, zumal dieser Zeitpunkt häufig schwer festzustellen sein dürfte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich bei der Entwicklung von Krebszellen um einen einheitlichen Prozess handelt, wobei eben eine Krebserkrankung i. S. des BK-Rechts von Gesetzes wegen mit deren Behandlungsbedürftigkeit beginnt.

Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei den Falkensteiner Empfehlungen 2010 insoweit tatsächlich um die Abbildung der aktuellen herrschenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft handelt. Nach Auffassung der Kammer können bei der Einordnung und Definition eines Krankheitsbildes die genannten gesetzlichen Rahmenbedingungen jedenfalls nicht ignoriert werden. Da das – behandlungsbedürftige – Karzinom in situ während des stationären Aufenthalts im AKH H. vom 16.07.2008 – 23.07.2008 erstmals entdeckt wurde, ist von einem Versicherungsfall der BK 4104 am 16.07.2008 auszugehen.

Allerdings kann nicht festgestellt werden, dass die bei Herrn G. vorliegende BK 4104 wesentlich zu seinem Tod beigetragen bzw. seine vermutliche Lebensdauer um mindestens ein Jahr verkürzt hat (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, Kommentar zur gesetzlichen Unfallversicherung, § 63 SGB VII, Rz. 4.4). Nach den insoweit überzeugenden Ausführungen von Dr. S. hat das Karzinom in situ für sich alleine genommen keine schädlichen Auswirkungen auf den Körper. Dafür, dass das Karzinom in situ bereits die Zellmembran durchbrochen und an anderer Stelle zu Metastasen und funktionellen Einschränkungen geführt hat, existiert entsprechend den Ausführungen von Dr. O. kein Beleg. Zwar ist im Bericht der M. vom 28.08.2009 als Diagnose auch ein „Bronchialkarzinom rechts" angegeben. In Klammern wird jedoch erläuternd ausgeführt, dass es sich hierbei (nur) um ein Karzinom in situ gehandelt hat (Bl. 325 BA). Medizinischen Befunde, die belegen, dass es hier zu einer Weiterentwicklung des Karzinoms in situ gekommen ist, existieren nicht. Nach der Stellungnahme von Dr. O. lag darüber hinaus bei Herrn G. eine fortgeschrittene COPD vor, die hier als konkurrierende Ursache für seinen Tod in Betracht kommt, so dass sich die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass er durch die Folgen der BK 4104 verstorben ist, nicht gewinnen lässt.

Es lässt sich auch nicht feststellen, dass infolge der BK 4104 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) i. H. v. mindestens 50 % bestanden hat und somit die Vermutungsregel des § 63 Abs. 2 SGB VII eröffnet gewesen wäre. Wie bereits ausgeführt, hat das Karzinom in situ für sich alleine genommen keine schädlichen Auswirkungen auf den Körper. Darüber hinaus hat Herr G. auch die Cryotherapie und die Bestrahlungen gut vertragen, so dass für eine MdE i. H. v. 50 % insoweit keine Hinweise vorliegen.

Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass bei Herrn G. eine BK 4115 vorgelegen hat. Danach sind entschädigungsfähig:

Lungenfibrose durch extreme und langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen - (Siderofibrose).

Als Fibrose werden herdförmige oder diffuse Bindegewebsvermehrungen im Lungengerüst bezeichnet. Die Verdichtung des Bindegewebes führt dann in fortgeschrittenen Stadien zur Schrumpfungserscheinungen, Aufhebung der Lungenstruktur und zu einer res-triktive Ventilationsstörung (Abnahme der Lungendehnbarkeit; Schönberger/Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. S. 995 ff.). Ein solches Krankheitsbild wurde bei Herrn G. nie festgestellt. Die Dres. O. und R. haben übereinstimmend dargelegt, dass bei Herrn G. keine restriktive Ventilationsstörung und auch keine fibrotischen Veränderungen vorgelegen haben. In diesem Zusammenhang hat Dr. S. zutreffend darauf hingewiesen, dass eine sog. Schweißerlunge für die Anerkennung einer Berufskrankheit nicht ausreichend ist. Vielmehr erfordert der Tatbestand der BK 4115, dass es bereits zu einer Siderofibrose gekommen sein muss. Aus diesem Grunde kann es hier auch dahinstehen, wie letztlich die Diagnose einer Schweißerlunge Eingang in die entsprechenden Berichte gefunden hat. Nach den ausführlichen Recherchen der Beklagten hat das AKH Harburg diese Diagnose nicht aufgrund von eigenen Untersuchungen, sondern aufgrund der anamnestischen Angaben von Herrn G. gestellt. Die Ärzte des U. und des Q. haben wiederum mitgeteilt, dass sie diese Diagnose vom AKH H. übernommen haben. Medizinische Befunde, dass tatsächlich eine Schweißerlunge vorgelegen hat, existieren nicht.

Schließlich bestehen auch keine Hinweise, dass bei Herrn G. eine andere Berufskrankheit, wie zum Beispiel eine BK 4301/4302, vorgelegen hat.

Da eine Berufskrankheit nicht festgestellt werden konnte, können auch keine darauf beruhenden Hinterbliebenenleistungen gewährt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.