Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 13.11.2013, Az.: S 37 AS 844/10

Kürzung der Regelleistung i.R.d. SGB II wegen eines fehlenden Nachweises einer Bewerbung

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
13.11.2013
Aktenzeichen
S 37 AS 844/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 56175
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2013:1113.S37AS844.10.0A

Tenor:

  1. 1.)

    Der Bescheid des Beklagten vom 20.05.2010 und der Widerspruchsbescheid vom 31.05.2010 werden aufgehoben.

  2. 2.)

    Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

  3. 3.)

    Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Sanktion.

Der im Jahr 1982 geborene Kläger bezieht seit mehreren Jahren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (= SGB II).

Mit dem Eingliederungsverwaltungsakt vom 31.03.2010 wurde dem Kläger u. a. aufgegeben, sich zeitnah, d. h. spätestens am 3. Tag nach Erhalt des Stellenangebots, auf Vermittlungsvorschläge, die er von dem Träger der Grundsicherung erhalten hat, zu bewerben (Bl. 334 der Akte des Beklagten (= VA)). Als Nachweis über die von ihm unternommenen Bemühungen sollte er die dem Vermittlungsvorschlag beigefügte Antwortmöglichkeit ausfüllen und dem Grundsicherungsträger vorlegen. Es wurde insbesondere festgestellt, dass er sich auf die - konkret ausgehändigten - Vermittlungsvorschläge (hinsichtlich der Firmen) "F." und "G." bewerben und das Ergebnis bis zum 07.04.2010 mitteilen sollte. Die Rechtsfolgenbelehrung enthielt u. a. folgenden Hinweis:

Wenn Sie erstmals gegen die mit Ihnen vereinbarten Eingliederungsbemühungen verstoßen (siehe Nr. 2 Bemühungen), wird das Ihnen zustehende Arbeitslosengeld II um einen Betrag i. H. v. 30 % der für Sie maßgebenden Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 SGB II abgesenkt.

Gegen den Eingliederungsverwaltungsakt vom 31.03.2010 erhob der Kläger am 06.04.2010 Widerspruch (Bl. 343 VA), der mit dem Widerspruchsbescheid vom 06.05.2010 zurückgewiesen wurde (Bl. 348 VA).

Ebenfalls mit Datum vom 31.03.2010 wurden dem Kläger Vermittlungsvorschläge als Fleischwarenmacherhelfer der Fa. "H. " (im Folgenden: I.) sowie als Produktionshelfer bei der Fa. "J." unterbreitet (Bl. 4, 5 der Akte des Sozialgerichts (= SG)).

Mit dem Schreiben vom 05.04.2010 teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass er sich am 31.03.2010 bei den genannten Firmen beworben, jedoch noch keine Antwort erhalten habe (Bl. 363, 364 VA).

Mit dem Bescheid vom 09.04.2010 gewährte der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 01.05.2010 bis zum 31.10.2010 eine monatliche Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 359,00 EUR (Bl. 3 SG-Akte).

Mit dem Anhörungsschreiben vom 20.04.2010 wurde dem Kläger mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, das Arbeitslosengeld II nach § 31 SGB II abzusenken. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass er trotz Belehrung über die Rechtsfolgen die in der am 31.03.2010 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten nicht erfüllt habe. Nach Rücksprache mit Herrn K. von der I. habe sich der Kläger nicht wie mitgeteilt dort am 31.03.2010 beworben (Bl. 361 VA).

Mit dem Schreiben vom 27.04.2010 machte der Kläger geltend, dass er sich sofort am 31.03.2010 schriftlich und postalisch bei beiden Unternehmen beworben habe und er damit seinen Verpflichtungen nachgekommen sei. Die Bewerbungsschreiben fügte er bei (Bl. 352 ff. VA). Das Schreiben vom 27.04.2010 wurde vom Beklagten als förmlicher Widerspruch gegen das Anhörungsschreiben vom 20.04.2010 gewertet, der mit dem Widerspruchsbescheid vom 06.05.2010 als unzulässig zurückgewiesen wurde.

Mit dem Bescheid vom 20.05.2010 hob der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 09.04.2010 gemäß § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB X) auf und senkte das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 01.06.2010 bis zum 31.08.2010 monatlich um 30 % der maßgeblichen Regelleistung ab. Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, dass er am 28.04.2010 um 11.41 Uhr von einem Mitarbeiter der I. einen Anruf erhalten habe. Zum Beleg hierfür legte der Kläger ein Foto der Anrufliste des bei dem Gespräch von ihm verwendeten Handys bei (Bl. 378, 379 VA).

Im Telefonat vom 31.05.2010 teilte Herr L. von der I. dem Beklagten mit, dass kein Bewerbungsschreiben des Klägers dort eingegangen sei. Da jedoch Arbeitskräfte dringend gesucht worden seien, habe er sich bei der Job-Börse der Agentur für Arbeit informiert, welche Bewerber vorgeschlagen worden seien. Dort habe er auch die Telefonnummer des Klägers in Erfahrung gebracht. Sein Versuch, den Kläger telefonisch zu erreichen, sei jedoch erfolglos geblieben. Außerdem habe sich der Kläger weder telefonisch noch in anderer Form mit der I. in Verbindung gesetzt. Somit sei auch auf den Anruf keine Reaktion erfolgt. Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 31.05.2010 zurückgewiesen. Darin wurde ergänzend ausgeführt, dass der Kläger nicht habe nachweisen können, dass er sich bei der I. um eine Tätigkeit als Fleischwarenmacherhelfer beworben habe. Wenn sich der Kläger entsprechend seinen Ausführungen beworben hätte, sei es nicht verständlich, warum er sich beim Arbeitgeber nicht zeitnah nach dem Stand des Besetzungsverfahrens erkundigt habe. Noch weniger verständlich sei es, dass er den Arbeitgeber aufgrund des Anrufs am 28.04.2010 nicht zurückgerufen habe. Der Vortrag des Klägers sei daher als Schutzbehauptung zu werten, so dass davon auszugehen sei, dass er sich nicht beworben habe (Bl. 381 ff. VA).

Bereits am 26.05.2010 hatte der Kläger beim SG Lüneburg den Antrag gestellt, den Beklagten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, die Sanktion nicht zu vollziehen (S 46 AS 259/10 ER). Er trug vor, dass er am 28.04.2010 den Anruf persönlich entgegengenommen habe. Der Mitarbeiter habe ihn aufgefordert, sofort bei der I. zu erscheinen, worauf er geantwortet habe, dass er nicht so kurzfristig kommen könne. Im Schriftsatz vom 09.06.2010 teilte der Beklagte mit, dass Herr M. von der I. nicht ausschließen könne, am 28.04.2010 mit dem Kläger telefoniert zu haben. Er könne aber ausschließen, dass er den Kläger aufgefordert habe, sich innerhalb von 30 Minuten vorzustellen. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde mit dem Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 26.05.2010 abgelehnt. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass sich die Kammer nicht davon habe überzeugen können, dass der Kläger seine Bewerbung abgesandt habe. Die hiergegen zum Landessozialgericht (= LSG) Niedersachsen-Bremen erhobene Beschwerde wurde mit dem Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 01.09.2010 als unzulässig verworfen (L 15 AS 239/10 B ER). Die hiergegen erhobene Anhörungsrüge wurde mit dem Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 20.10.2010 als unzulässig verworfen. Die weitere Beschwerde zum Bundessozialgericht (= BSG) wurde mit dem Beschluss des BSG vom 03.11.2010 als unzulässig verworfen.

Gegen den Widerspruchsbescheid vom 31.05.2010 hat der Kläger am 08.06.2010 beim SG Lüneburg Klage erhoben (S 37 AS 844/10) und ergänzend darauf hingewiesen, dass er ohne die Kostenübernahme für postalische Zustellnachweise durch den Beklagten nicht belegen könne, dass ein Schreiben auf dem Postweg seinen Empfänger auch erreicht. Im Übrigen sei seine E-Mail-Bewerbung bei der anderen Firma (N.) angekommen.

Im Schriftsatz vom 03.06.2010, welchen der Kläger in dem Verfahren S 46 AS 259/10 ER dem SG Lüneburg übersandt hatte, führte er aus, dass gegen den Widerspruchsbescheid vom 31.05.2010 parallel Klage eingereicht werde. Daraufhin wurde von der dortigen Vorsitzenden verfügt, dieses Schreiben als Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 31.05.2010 einzutragen. Das Verfahren erhielt das Aktenzeichen S 23 AS 982/10. Auf die Anfrage des Vorsitzenden der 23. Kammer vom 21.07.2010 teilte Herr K. von der I. mit, dass sich der Kläger dort weder beworben noch persönlich vorgestellt habe. Das Anschreiben des Klägers sei in dem Unternehmen nicht eingegangen. Mit dem Schriftsatz vom 28.07.2010, eingegangen beim SG Lüneburg am 02.08.2010, hat der Kläger im Wege der Klageerweiterung beantragt, auch den der Sanktion zu Grunde liegenden Eingliederungsverwaltungsakt aufzuheben.

Mit dem Beschluss des SG Lüneburg vom 13.12.2010 wurden die Rechtsstreite S 37 AS 844/10 und S 23 AS 982/10 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Führend blieb das Aktenzeichen S 37 AS 844/10.

Im Schriftsatz vom 08.08.2011 hat der Beklagte die Auffassung vertreten, dass eine schriftliche Bewerbung des Klägers nicht nachweisbar sei, wofür dieser die Beweislast zu tragen habe. Eine Weigerung des Klägers sei konkludent erfolgt, da aus der fehlenden schriftlichen Bewerbung der Schluss zu ziehen sei, dass er die konkret angebotene Arbeit nicht habe antreten wollen.

In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger einen Schriftsatz vom 12.11.2013 und weitere Unterlagen eingereicht. Auf deren Inhalt wird Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 20.05.2010 und den Widerspruchsbescheid vom 31.05.2010 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten S 37 AS 844/10, S 23 AS 982/10, die beigezogene Akte zum Verfahren S 46 AS 259/10 ER und die den Kläger betreffende Leistungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet, da sich die angefochtene Sanktionsentscheidung als rechtswidrig erweist. Der Bescheid vom 20.05.2010 und der Widerspruchsbescheid vom 31.05.2010 waren daher aufzuheben.

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist lediglich der Bescheid vom 20.05.2010 und der Widerspruchsbescheid vom 31.05.2010. Die vom Kläger im Verfahren S 23 AS 982/10 beantragte Klageerweiterung auf den dem Sanktionsbescheid zu Grunde liegenden Eingliederungsverwaltungsakt vom 31.03.2010 kann keine Wirksamkeit entfalten, weil weder der Beklagte zugestimmt hat, noch das Gericht diese Änderung für sachdienlich hält (§ 99 Abs. 1 SGG). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass sich der Eingliederungsverwaltungsakt vom 31.03.2010 wegen Zeitablauf längst erledigt hat und außer bezüglich der streitigen Sanktionsentscheidung keine weiteren Wirkungen mehr entfalten kann.

Nach § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b und c SGB II ist eine Absenkung der Regelleistung dann möglich, wenn sich der erwerbsfähige Hilfebedürftige trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten zu erfüllen bzw. eine zumutbare Arbeit aufzunehmen. Im vorliegenden Fall kann die Kammer eine solche Weigerung nicht feststellen. Eine ausdrücklich ausgesprochene Weigerung ist nicht zu erkennen, da es der Kläger nicht abgelehnt hat, sich bei der I. zu bewerben. Er hat vielmehr stets geltend gemacht, sich - wie von ihm verlangt - schriftlich bei dem Unternehmen beworben zu haben.

Zwar kann ein Zugang seiner Bewerbung nach den vorliegenden Aussagen der Mitarbeiter der I. nicht festgestellt werden. Der nicht nachgewiesene Zugang erfüllt im vorliegenden Fall jedoch nicht den Tatbestand der "Weigerung". Die Kammer kann insbesondere keine konkludente Weigerung aus den Umständen ableiten, da ein misslungener Zugang auf unterschiedlichen Ursachen beruhen kann, die auch außerhalb des Einflussbereichs des Absenders liegen können. Der Zugangsnachweis eines postalisch versandten Schriftstücks kann i. d. R. nur geführt werden, wenn die Zustellung - relativ kostenintensiv - mit Einschreiben/Rückschein erfolgt. Dies wurde jedoch von den Beteiligten bei Bewerbungen üblicherweise so nicht praktiziert. Nach dem Eingliederungsverwaltungsakt vom 31.03.2010 sollte der Kläger vielmehr als Nachweis lediglich "die dem Vermittlungsvorschlag beigefügte Antwortmöglichkeit ausfüllen und dem Träger der Grundsicherung vorlegen." In der Vergangenheit wurde dies zwischen den Beteiligten so gehandhabt, dass der Kläger eine Kopie der Bewerbungsschreiben beim Beklagten eingereicht. Dem ist der Kläger auch in diesem Fall nachgekommen. Allein aus diesem Grund stellt sich daher die Frage, ob vom Kläger im Rahmen der Sanktionsverhängung eine darüber hinausgehende Nachweispflicht entgegengehalten werden kann.

Aber auch aus den konkreten Umständen des vorliegenden Falls ergibt sich nicht, dass der Kläger die Bewerbung bewusst nicht abgesandt hat. In diesem Zusammenhang hat er nämlich schlüssig dargelegt, dass er von der Beklagten gleichzeitig ein weiteres Stellenangebot erhalten hat, auf welches er sich offenbar nachweislich beworben hat. Dadurch hat er aber wiederum auch seine grundsätzliche Bereitschaft dokumentiert, sich auf Stellenangebote zu bewerben. Für eine solche Bereitschaft spricht schließlich auch die Vielzahl der Bewerbungen, die der Kläger während seiner Zeit als Kunde des Beklagten unstreitig vorgenommen hat.

Weitere Sachaufklärung war nicht vorzunehmen. Zum einen ist als wahr zu unterstellen, dass ein Schreiben des Klägers die I. nicht erreicht hat. Zum anderen haben deren Mitarbeiter bereits schriftlich mitgeteilt, dass sie sich an ein Gespräch mit dem Kläger zwar nicht erinnern, ein solches aber auch nicht ausschließen können. Vor diesem Hintergrund kann die Kammer nicht erkennen, dass eine Befragung weitere Aufschlüsse ergeben kann.

Nach dem in allen Bereichen des Sozialrechts geltenden Grundsatz der objektiven Beweis- und Feststellungslast sind die Folgen der Nicht-Aufklärbarkeit einer Tatsache von demjenigen zu tragen, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will (BSGE 13, 52, 54; 58, 76, 79; Breithaupt 1992, 285). Für das Tatbestandsmerkmal der "Weigerung" i. S. d. § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b und c SGB II trifft die Beweislast daher den Beklagten. Eine Verlagerung der Beweislast auf den Leistungsbezieher ist gesetzlich ausdrücklich nur für den Fall normiert, in denen eine Weigerung bereits positiv festgestellt ist, der Leistungsbezieher jedoch einen wichtigen Grund für sein Verhalten nicht darlegen und nachweisen kann (§ 31 Abs. 1 S. 2 SGB II). Da es sich bei der Verhängung einer Sanktion um einen Eingriff in eine geschützte Rechtsposition im Rahmen der existenziellen Grundsicherung handelt, kann die Kammer keine rechtliche Grundlage erkennen, um eine entsprechende Umkehr der Beweislast auch auf das Tatbestandsmerkmal der Weigerung zu erstrecken, zumal der Kläger - ohne dass die Kosten für ein Einschreiben mit Rückschein vom Beklagten übernommen würden - in einen Beweisnotstand hinsichtlich des Zugangs der Bewerbung geraten würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Berufung zuzulassen, sind nicht ersichtlich.