Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.02.2014, Az.: 12 ME 221/13

Abweichung von den Grenzabstandsvorschriften bei Windkraftanlagen in Niedersachsen; Einstweiliger Rechtschutz gegen die Genehmigung einer Windenergieanlage

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
13.02.2014
Aktenzeichen
12 ME 221/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 11230
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0213.12ME221.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 02.10.2013 - AZ: 4 B 5918/13

Fundstellen

  • BauR 2014, 976-978
  • DÖV 2014, 497
  • FStNds 2014, 473-478
  • NordÖR 2014, 247
  • ZNER 2014, 309

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Auch nach der Reduzierung des Grenzabstands von 1 H auf 0,5 H durch die Neufassung der NBauO 2012 kommt eine Abweichung nach § 66 NBauO von den Grenzabstandsvorschriften bei Windkraftanlagen in Betracht.

  2. 2.

    Die mit der Grenzabstandsregelung des § 5 Abs. 2 NBauO verfolgten bauordnungsrechtlichen Ziele sind von den Zielen anderer Abstandsregelungen, die sich etwa aus immissionsschutzrechtlichen, bauplaungsrechtlichen, naturschutzrechtlichen oder anlagetechnischen Gründen ergeben, zu unterscheiden.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer - vom 2. Oktober 2013 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.500,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen eine der Beigeladenen durch Bescheid vom 14. August 2013 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Windenergieanlage des Typs Enercon E-53 mit einer Nabenhöhe von 73,25 m und einer Gesamthöhe von 99,70 m auf dem Flurstück L./M. und L./N. der Flur O. der Gemarkung P.. Das Baugrundstück liegt im Geltungsbereich des rechtskräftigen Bebauungsplanes Nr. N 38 der Gemeinde Q., der es als sonstiges Sondergebiet mit der Zweckbestimmung "Windpark" ausweist. Nach dem Plan ist an dem betreffenden Standort eine bis zu 99,9 m hohe Windenergieanlage mit maximal 70 m Rotordurchmesser zulässig. An das Anlagengrundstück schließen die Flurstücke R. (im Bebauungsplan als Gewässerfläche ausgewiesen) sowie S. (als Fläche für Landwirtschaft ausgewiesen) an. Die Mitglieder der Antragstellerin sind nach eigenen Angaben Erben des verstorbenen Eigentümers dieser beiden Flurstücke und wenden sich insbesondere gegen die mit der Genehmigung erteilte Abweichung von der Grenzabstandsregelung des § 5 Abs. 2 NBauO.

In dem streitgegenständlichen Genehmigungsbescheid vom 14. August 2013 ist zur Frage des gemäß § 5 Abs. 2 NBauO einzuhaltenden Grenzabstands der genehmigten Anlage unter VII. ausgeführt, der maßgebliche Abstand betrage von Anlagenmittelpunkt 66,3 m (Radius). Er nehme das benachbarte Grabengrundstück (Flurstück R.) vollständig ein und rage auf einer Länge von ca. 73 m bis zu 10,7 m in das landwirtschaftlich genutzte Flurstück S. ein. Statt des grundsätzlich einzuhaltenden Grenzabstands von 0,5 H ergäbe sich ein Grenzabstand von ca. 0,29 H bezogen auf das Flurstück Nr. S. bzw. 0,37 H zu dem Flurstück R.. Es lägen jedoch die Tatbestandsmerkmale für eine gemäß § 66 NBauO mögliche Abweichung von den Anforderungen des § 5 Abs. 2 NBauO vor. Im Rahmen der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens werde eine Ausnahme von der Regelung des § 5 Abs. 2 NBauO zugelassen. Dies wird im Einzelnen begründet.

Im Namen der Antragstellerin erhob der Prozessbevollmächtigte am 29. August 2013 Widerspruch gegen die Genehmigung und suchte am 5. September 2013 um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Genehmigung wiederherzustellen, mit Beschluss vom 2. Oktober 2013 abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sei unzulässig, weil die Antragstellerin nach § 61 VwGO nicht beteiligtenfähig sei. Soweit die Antragstellerin auf die ihr gegenüber erfolgte Zustellung des Genehmigungsbescheides verweise, bleibe zweifelhaft, ob die Beteiligtenfähigkeit auch im Rahmen eines Drittwiderspruchs entstehen könne, wenn die Behörde fälschlich eine Erbengemeinschaft als beteiligtenfähig ansehe. Selbst wenn dies zugunsten der Antragstellerin anzunehmen sei, habe der Antrag jedenfalls in der Sache keinen Erfolg. Der nach § 80 Abs. 5 VwGO statthafte Antrag sei unbegründet. Die für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegebene Begründung genüge den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Diesen werde bereits entsprochen, wenn überhaupt eine schriftliche, einzelfallbezogene und nicht lediglich formelhafte Begründung vorhanden sei, die die von der Behörde getroffene Interessenabwägung erkennen lasse. Diese Voraussetzungen würden hier erfüllt. Der Antragsgegner habe die Anordnung der sofortigen Vollziehung in ausreichender Weise damit begründet, dass für die Wirtschaftlichkeit des Vorhabens eine zeitnahe Realisierung wichtig sei. Das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Genehmigung überwiege auch nach Auffassung des Gerichts das Interesse der Antragstellerin. Die Genehmigung verletze voraussichtlich keine Rechte der Antragstellerin. Als nachbarschützende Norm komme hier § 5 Abs. 2 NBauO 2012 in Betracht. Danach betrage der grundsätzlich durch die Windkraftanlage einzuhaltende Abstand 0,5 H, mindestens jedoch 3 m. Für das Eilverfahren gehe die Kammer davon aus, dass der Antragsgegner den durch die Anlage einzuhaltenden Abstand entsprechend den zuletzt mit Erlass vom 14. November 2012 bekannt gegebenen Formeln korrekt berechnet habe und mithin gegenüber den Flurstücken Nr. S. und R. eine Abweichungsentscheidung nach § 66 NBauO erforderlich gewesen sei. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage sei die Abweichungsentscheidung rechtmäßig erteilt worden und verletze keine Rechte der Antragstellerin. Nach § 66 Abs. 1 NBauO könne die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen des Gesetzes und aufgrund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn diese unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen nach § 3 Abs. 1 NBauO vereinbar seien. Zutreffend habe der Antragsgegner ermittelt, dass die Abweichung bezüglich der Abstandsregelung gemäß § 5 Abs. 2 NBauO erforderlich sei. Zum Schutzziel sei in der Begründung zu § 5 NBauO 2012 auf Seite 71 der Landtagsdrucksache 16/3195 ausgeführt: "Ziel der Regelung zu den Abständen ist die Ausleuchtung der Aufenthaltsräume mit Tageslicht im fensternahen Bereich (bis etwa 2,5 m Tiefe), die Lesen und Schreiben bei bedecktem Himmel gestattet." Hinzukommen möge noch eine ausreichende Belüftung sowie die Sicherstellung der Freiräume, die für ein störungsfreies Wohnen und einen angemessenen Schutz der Privatsphäre erforderlich seien. Soweit die Antragstellerin zudem auf Beeinträchtigungen des Landschaftsbilds verweise, sei zutreffend darauf hingewiesen worden, dass derartige Belange bereits im Planaufstellungsverfahren berücksichtigt wurden. Hinsichtlich der weiter von Antragstellerseite genannten Aspekte der Verhinderung von unzumutbarem Eiswurf durch Windenergieanlagen und Vermeidung von Turbulenzen sei zum Eiswurf auf das Gutachten des T. U. vom 3. Januar 2008 sowie das Turbulenzgutachten vom 2. Juni 2013 zu verweisen, die auch Gegenstand des Genehmigungsbescheides seien. Im Hinblick auf Turbulenzen sei zudem darauf zu verweisen, dass für die Flurstücke S. und R. keine Standorte für Windenergieanlagen ausgewiesen seien. Unzumutbare Verschattungen seien aufgrund der eingeschränkten Nutzungsmöglichkeiten der Flurstücke S. und R. auszuschließen. Unter Berücksichtigung der Besonderheiten dieses Falles sei die Abweichung hier zuzulassen. Die Interessen der Antragstellerin im Hinblick auf Belüftung, Besonnung und "Sozialabstand" seien hier nicht betroffen. Die Flurstücke Nr. S. und R. seien nicht bebaubar. Erst recht sei nach derzeitiger planungsrechtlicher Lage nicht mit einer Wohnbebauung auf diesen Flurstücken zu rechnen. Dann liege aber eine Besonderheit vor, die eine Abweichung von dem grundsätzlich einzuhaltenden Abstand von 0,5 H jedenfalls in dem hier auch im Vergleich zur Größe des Flurstücks S. geringen Umfang rechtfertige. Insoweit habe der Antragsgegner eine ermessensfehlerfreie Abwägungsentscheidung getroffen. Zugunsten der Beigeladenen sei insoweit deren wirtschaftliches Interesse, aber auch das öffentliche Interesse an einer möglichst effizienten Ausnutzung der erneuerbaren Energien berücksichtigt worden. Weiter sei berücksichtigt worden, dass durch die Abweichungsentscheidung, die erst getroffen worden sei, nachdem die Möglichkeit einer Abstandsbaulast ausgeschieden sei, keine "faktische Baugrenze" gemäß § 6 Abs. 2 NBauO auf den Flurstücken der Antragstellerin entstehe. Unwidersprochen sei das Interesse der Antragstellerin auf möglichst optimale Windanströmung der von ihr im Bebauungsplangebiet betriebenen Windenergieanlage genannt worden. Dabei handele es sich jedoch nicht um einen öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belang der Antragstellerin. Diese habe keinen Anspruch auf optimale Windanströmung der von ihr betriebenen Windenergieanlage, die zudem auch nicht auf den Flurstücken S. und R. stehe. Zutreffend sei darauf verwiesen worden, dass nach Seite 72 der Begründung zu § 5 NBauO n.F. (Landtagsdrucksache 16/3195) den Besonderheiten der nicht für das Wohnen allgemein dienenden Gebiete durch Abweichungen nach § 66 NBauO von den Grenzabstandsregelungen hinreichend Rechnung getragen werden solle. Nach Seite 102 der Begründung zu § 66 NBauO (Landtagsdrucksache 16/3195) sei es Ziel der Regelung, die Erreichung des jeweiligen Schutzziels der Norm in den Vordergrund zu rücken und - insbesondere ohne die Bindung an das Erfordernis des atypischen Einzelfalls - auf diese Weise das materielle Bauordnungsrecht vollzugstauglich zu flexibilisieren. Diesen Zielen entspreche die Begründung für die Abweichungsentscheidung auf Seite 16 der angefochtenen Genehmigung. Ermessensfehler des Antragsgegners seien insoweit nicht ersichtlich.

II.

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen diesen Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg. Die vom Senat allein zu prüfenden dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) geben keinen Anlass, den erstinstanzlichen Beschluss zu ändern.

Es kann offenbleiben, ob der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zulässig ist. Es begegnet jedenfalls keinen Bedenken, dass das Verwaltungsgericht ihn für unbegründet erachtet hat.

Dass die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren erstmals geltend macht, der Sofortvollzug sei nicht ausreichend begründet, und Argumente dafür anführt, kann schon deshalb nicht zum Erfolg der Beschwerde führen, weil dieser angebliche Mangel nicht in Auseinandersetzung mit den Gründen des angefochtenen Beschlusses - wie aber nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO erforderlich - vorgetragen wird. Das konnte auch nicht geschehen, weil die Antragstellerin zu diesem Gesichtspunkt erstinstanzlich nichts ausgeführt hat und mithin sich der Beschluss des Verwaltungsgerichts zu diesem Thema nur kurz verhält. Hätte die Antragstellerin hingegen bereits im erstinstanzlichen Verfahren zu diesem Thema argumentiert, so hätte sich das Verwaltungsgericht damit vertieft befassen und sich die Beschwerdebegründung wiederum mit den Gründen des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses auseinandersetzen können. Mit dem Zweck des § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO ist es unvereinbar, wenn in einem Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Rahmen der gebotenen Darlegung der Beschwerdegründe auch ein Vortrag berücksichtigt würde, der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren erster Instanz bereits zum Gegenstand der Prüfung hätte gemacht werden können. Bei anderer Auffassung würde dem Beschwerdegericht eine vom Gesetzgeber nicht gewollte erstmalige und vollständige Prüfung der bisher "aufgesparten" Gründe aufgezwungen, während das Ziel des Gesetzes gerade dahingeht, das Beschwerdeverfahren zu beschleunigen und eine Verfahrenskonzentration herbeizuführen und das Beschwerdegericht nur mit den Gründen zu befassen, die in Auseinandersetzung mit der erstinstanzlichen Entscheidung dargelegt werden (vgl. Beschl. d. Sen. v. 10.3.2010 - 12 ME 176/09 -, NuR 2010, 290 m.w.N.). Davon abgesehen genügt die für die Anordnung des Sofortvollzugs gegebene Begründung (noch) den Anforderungen nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO.

Entgegen der Auffassung der Antragstellerin begegnet es keinen Bedenken, dass das Verwaltungsgericht die erteilte Abweichung nach § 66 NBauO als rechtmäßig erachtet und einen Verstoß gegen die Regelungen des Grenzabstandsrechts in § 5 Abs. 2 NBauO verneint hat. Die Antragstellerin macht insoweit geltend, es könne nicht ausreichen, dass auf dem betroffenen Nachbargrundstück bauliche Anlagen nicht errichtet werden könnten. Wenn der Gesetzgeber ein so weitgehendes Außerkrafttreten der Abstandsvorschriften gewollt hätte, hätte er nicht bebaubare Grundstücke aus dem Abstandsrecht herausnehmen können. Dieses habe er aber bewusst nicht getan. Es sei unzulässig, die Schutzgüter des Abstandsrechts auf Belichtung, Besonnung und soziale Distanz zu reduzieren. Ziele des Grenzabstandsrechts seien auch der Schutz des Landschaftsbilds, die Vermeidung von Verschattung unbebauter Flächen, der Schutz vor Eiswurf sowie der Turbulenzschutz. Zudem habe der Gesetzgeber bei der Novellierung der NBauO 2012 die Schutzstandards durch eine Reduzierung des Regelabstands auf die Hälfte des bisherigen Maßes - 0,5 statt 1 H - deutlich abgesenkt. Die noch verbleibende Abweichungsmöglichkeit sei daher restriktiv zu handhaben. Eine weitere Reduzierung auf unter 0,5 H sei ohne die Zustimmung des Nachbarn daher nicht zulässig. Bei der Ermessensentscheidung sei auch zu berücksichtigen, dass innerhalb des Windparks in den anderen Fällen, in denen der Grenzabstand nicht eingehalten sei, nachbarliche Zustimmungen herbeigeführt worden seien.

Diese Einwände gegen die sorgfältig und ausführlich begründete Entscheidung des Verwaltungsgerichts überzeugen nicht. Es gibt keinen Anlass anzunehmen, der Gesetzgeber habe nach der Verringerung des generellen Grenzabstands auf 0,5 H weitere Reduzierungen im Wege der Ausnahmeregelung nach § 66 NBauO nicht zulassen wollen. In der Begründung des Regierungsentwurfs (LT-Drs. 16/3195) zu § 5 (Grenzabstände) heißt es vielmehr ausdrücklich (S. 71):

"In § 5 werden die Grenzabstandsregelungen für bauliche Anlagen ... und die Regelung über die Geländeoberfläche ... zusammengefasst und gestrafft. Soweit Ausnahme- und Ermessensregelungen gestrichen wurden, können die Regelungen des § 66 über Abweichungen in Ansatz gebracht werden. § 13 a.F. hat deshalb zu entfallen und muss bei der Abwägung nach § 66 berücksichtigt werden."

Demnach soll gerade (auch) für die Grenzabstandsregelungen zukünftig die Möglichkeit der Abweichung anhand der Regelung des § 66 NBauO zum Tragen kommen. Mithin ist davon auszugehen, dass auch bei Windkraftanlagen eine Reduzierung des gebotenen Abstands über § 66 NBauO grundsätzlich in Betracht kommt (vgl. auch: Breyer, in: Große-Suchsdorf, NBauO, 9. Aufl., § 66 Rn. 63).

Gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 NBauO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen dieses Gesetzes und aufgrund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn diese unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen nach § 3 Abs. 1 NBauO vereinbar sind.

Anders als die Antragstellerin meint, haben der Antragsgegner und das Verwaltungsgericht den demnach bei der Beurteilung, ob eine Abweichung zulässig ist, zu berücksichtigenden Schutzzweck des Abstandsrechts (vgl. auch Beschl. d. Sen. v. 17.9.2007 - 12 ME 38/07 -, BImSchG-Rspr. § 5 Nr. 102) unter Auswertung der Gesetzgebungsmaterialien zutreffend ermittelt.

Soweit die Antragstellerin geltend macht, die Regelungen zum Grenzabstand dienten auch dem Schutz des Landschaftsbilds, der Vermeidung von Verschattung bei unbebauten Grundstücken sowie dem Schutz vor Eiswurf und Turbulenzen, entspricht dies nicht dem Regelungszweck und findet weder in den Gesetzesmaterialien noch in der Rechtsprechung eine Stütze. Vielmehr sind die bauordnungsrechtlich gebotenen Abstände von den auf anderen Regelungen beruhenden, etwa immissionsschutzrechtlichen, bauplanungsrechtlichen, naturschutzrechtlichen oder anlagetechnisch bedingten Abständen zu unterscheiden. Die von der Antragstellerin zur Stützung ihrer Auffassung bezüglich des Landschaftsbilds angeführte Entscheidung des 1. Senats des beschließenden Gerichts (Urt. v. 28.10.2004 - 1 KN 155/03 -, [...]) erging in einem Normenkontrollverfahren und befasst sich mit dem in einem regionalen Raumordnungsprogramm festgelegten Mindestabstand zwischen den Standorten von Windenergieanlagen von 5 km. Der Umstand, dass dieser planerisch vorgesehene - und über den Abstand von 0,5 H deutlich hinausgehende - Abstand vom Plangeber vorgesehen wurde, um Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes zu mindern, lässt nicht den Schluss zu, auch die Grenzabstandsregelungen des § 5 NBauO dienten diesem Zweck. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin lässt sich dem Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 10. September 1998 (- RO 8 K 97.1999 -, [...]) auch nicht entnehmen, das Grenzabstandsrecht diene auch bei unbebauten Grundstücken der Vermeidung von Verschattung. Ausführungen genereller Art zum Schutzzweck des Grenzabstandsrechts oder etwa zur Verschattung finden sich in der Entscheidung nicht. Zwar trifft es ausweislich des Tatbestands zu, dass die angrenzenden Flurstücke landwirtschaftlich genutzt und daher vermutlich nicht bebaut waren. In der Entscheidung hat das Gericht jedoch (lediglich) darauf abgestellt, dass eine Behörde ihre Auffassung von einer hinzunehmenden Abstandsflächenunterschreitung nicht im Wege der Abweichungszulassung gegen die Vorgaben des Gesetzes austauschen darf. Es kann dahinstehen, ob der von dem Gericht angewandte Maßstab, der jedenfalls der Sache nach eine Atypik (Unterscheidung vom Regelfall, unbillige Härte) fordert, auf § 66 NBauO übertragbar ist (vgl. dazu: Stiel, in: Große-Suchsdorf, a.a.O., § 66 Rn. 14). Selbst wenn dies der Fall wäre, so ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht "eine Besonderheit" des vorliegenden Falls darin erblickt hat, dass die Interessen der Antragstellerin im Hinblick auf die Schutzgüter des Abstandsrechts (Belüftung, Besonnung und "Sozialabstand") nicht betroffen sind. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts München im Urteil vom 17. April 2012 (- M 1 K 11.5646 -, [...]), eine Beeinträchtigung durch Eiswurf verhindere die Verkürzung der Abstandsfläche nicht, zwingt ebenfalls nicht zu der Annahme, es habe damit den Schutzzweck des Abstandsrechts auf diesen Umstand erweitern wollen. Der von der Antragstellerin ferner angeführte Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Juli 2003 (7 B 949/03) befasst sich mit den im "Windenergie-Erlass NRW" enthaltenen Bewertungen zu den gebotenen Abständen konkurrierender Windenergieanlagen im Hinblick auf die Standsicherheit benachbarter Anlagen und nicht etwa mit Grenzabstandsregelungen, wie in § 5 NBauO oder vergleichbaren Normen, und führt daher ebenfalls nicht weiter. Der Umstand, dass nach dem genannten Erlass ein Abstand zwischen Windenergieanlagen von weniger als drei Rotordurchmessern im Hinblick auf die Standsicherheit grundsätzlich nicht zuzulassen war, belegt vielmehr, dass das als Grenzabstand von § 5 NBauO geforderte sehr viel geringere Maß von 0,5 H ein anderes Ziel verfolgt.

Darüber hinaus hat die Antragstellerin nicht substantiiert geltend gemacht, die (geringfügige) Unterschreitung des grundsätzlich einzuhaltenden Grenzabstands von 0,5 H führe zu einer Beeinträchtigung des Landschaftsbilds, einer Verschattung ihrer Grundstücke bzw. einer Gefährdung durch Eiswurf oder Turbulenzen. Insoweit wird daher auf die Ausführungen in dem angegriffenen Beschluss verwiesen. Dort ist hinsichtlich des Eiswurfs und etwaiger Turbulenzen auf die im Genehmigungsverfahren eingeholten Gutachten sowie die Nebenbestimmungen zur Genehmigung bzw. darauf verwiesen worden, dass auf den Flurstücken S. bzw. R. keine Windenergieanlage steht. Die Antragstellerin ist auch dem Argument des Verwaltungsgerichts, angesichts der eingeschränkten Nutzbarkeit der Grundstücke seien unzumutbare Verschattungen auszuschließen, nicht substantiiert entgegengetreten.

Dass bei den übrigen im Bereich des Bebauungsplans entstandenen Windenergieanlagen nachbarliche Zustimmungen erteilt wurden, hat - anders als die Antragstellerin geltend macht - auch nicht zur Folge, dass der Antragsgegner das ihm von § 66 Abs. 1 NBauO eingeräumte Ermessen nicht zugunsten der Abweichung ausüben durfte.

Da die Annahme des Verwaltungsgerichts, die angefochtene Genehmigung und insbesondere die Abweichungsentscheidung verletze keine Rechte der Antragstellerin, keinen Bedenken begegnet, kommt es auf die vom Vertreter des Beigeladenen aufgeworfene Frage der Abstandsberechnung bei Windenergieanlagen vorliegend nicht an.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind gemäß § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig, weil diese einen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und Nr. 19.2 i.V.m. Nr. 2.2.2 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NVwZ-Beilage 2013, 57).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).