Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.09.2018, Az.: 14 Sa 140/18

Unbegründete Abmahnung einer Krankenpflegerin in einer psychiatrischen Fachklinik wegen leichtfertiger Gefahrenanzeige

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
12.09.2018
Aktenzeichen
14 Sa 140/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 71565
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2018:0912.14Sa140.18.00

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Göttingen - 14.12.2017 - AZ: 2 Ca 155/17

Amtlicher Leitsatz

Eine Pflichtverletzung kann vorliegen, wenn ein Arbeitnehmer aus sachfremden Erwägungen heraus oder ohne im Ansatz verantwortungsvolle Prüfung geradezu leichtfertig eine Gefahr meldet, von der er annehmen musste, dass eine solche nicht vorlag.

Redaktioneller Leitsatz

1. Bei einer auf der Grundlage des § 16 ArbSchG abgegebenen Meldung kommt es nicht auf das objektive Vorliegen einer Gefährdungslage an, sondern darauf, ob die Arbeitnehmerin subjektiv berechtigterweise davon ausgehen kann und darf, dass eine Gefährdungslage vorliegt.

2. Beschleicht eine im psychiatrischen Bereich langjährig erfahrene Pflegekraft angesichts der Tatsache, auf einer für sie fremden Station ohne den Rückhalt einer weiteren examinierten Kraft nur mit zwei Auszubildenden tätig zu werden, ein gewisses Unbehagen ("Kribbeln im Bauch"), und füllt sie daraufhin während ihres Dienstes ein Formular "Gefährdungsanzeige zu Qualitätsmängeln (auch: Beschwerde gem. § 84 BetrVG)" aus, liegt darin kein vorwerfbarer Pflichtverstoß im Sinne einer aus sachfremden Erwägungen heraus oder ohne im Ansatz verantwortungsvolle Prüfung geradezu leichtfertig erteilten Gefahrenmeldung.

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Göttingen vom 14.12.2017 - 2 Ca 155/17 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 3.009,83,- Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Entfernung einer von der Beklagten erteilten Abmahnung aus der Personalakte.

Die im Jahre 1962 geborene Klägerin ist bei der Beklagten, die in B. zwei psychiatrische Fachkliniken betreibt, seit April 1992 als examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin zu einem Bruttomonatsentgelt von 3.009,83 Euro beschäftigt.

Die offen geführten allgemein-psychiatrischen Aufnahmestationen 5.1 und 5.2 befinden sich auf einer Ebene. Die Klägerin war zuletzt regelmäßig auf der Station 5.2 tätig. Am 26.09.2016 waren beide auf der Station 5.1 geplanten examinierten Pflegekräfte krankheitsbedingt ausgefallen, sodass der Pflegedienstleiter zunächst entschied, die Station 5.1 mit der Klägerin und einer Auszubildenden zu besetzen. Die Klägerin teilte dem Pflegedienstleiter noch vor Schichtbeginn telefonisch mit, dass sie die Besetzung nicht für ausreichend erachte, woraufhin dieser ihr einen weiteren Auszubildenden zur Unterstützung zuteilte und ihr zusicherte, im Falle unvorhersehbarer Arbeitsspitzen Unterstützung von der Station 5.2 anfordern zu können. Bei der Beklagten besteht zudem immer und für alle Pflegekräfte die Möglichkeit, über den Personennotalarm im Akutfall Hilfe anzufordern oder den Hintergrunddienst abzufordern, sofern sich wider Erwarten auf der Station eine Krisensituation einstellt.

Die Klägerin füllte während ihres Dienstes ein Formular "Gefährdungsanzeige zu Qualitätsmängeln (auch: Beschwerde gem. § 84 BetrVG)" aus, in dem es auszugsweise heißt:

"Ich als stationsfremde Kraft muss die heutige Dienstschicht mit 2 Auszubildenden bestreiten. Von den Auszubildenden ist einer auch stationsfremd und die andere war seit 4 Tagen nicht im Dienst. Der eine Schüler und ich kennen die Patienten nicht und die andere Schülerin kennt nicht alle. Ich kann nicht ausschließen, dass Pat. in ihren Krisen nicht erkannt werden und durch ihr eigenes Verhalten zu Schaden kommen könnten."

Im Verlauf des von der Klägerin am 26.09.2016 wahrgenommenen Dienstes wurden keine besonderen Vorkommnisse gemeldet, eine zusätzliche Unterstützung war nicht erforderlich, die Patienten wurden bedarfsgerecht betreut und anstehende Arbeitsaufgaben blieben nicht unerledigt.

Im Hinblick auf die Gefährdungsanzeige der Klägerin fand am 10.01.2017 in Anwesenheit des Personalleiters und des Pflegedirektors ein Gespräch mit der Klägerin statt, in dem man dieser erläuterte, dass objektiv keine Gefährdungssituation vorgelegen habe und die Betreuung unter den an diesem Tag gegebenen Umständen zum regelhaften Aufgabenspektrum einer Pflegekraft gehöre und von dieser bewältigt werden müsse. Die Klägerin hielt an ihrer Gefährdungsanzeige fest.

Mit Schreiben vom 24.01.2017 erteilte die Beklagte der Klägerin eine Abmahnung, in der die Beklagte der Klägerin vorwarf, ihre Gefährdungsanzeige vom 26.09.2016 dokumentiere das Vorliegen einer Gefährdungssituation, obwohl eine solche nicht gegeben gewesen sei. Indem die Klägerin eine Gefährdung der Patienten auf der Station 5.2 angezeigt habe, habe sie gegen ihre vertragliche (Neben-) Pflicht verstoßen. Wegen des Inhalts der Abmahnung im Einzelnen wird auf die Anlage K 2 zur Klagschrift verwiesen.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, im konkreten Fall habe eine objektive Gefährdungslage bestanden. Auch sei sie arbeitsrechtlich verpflichtet, auf drohende oder voraussehbare Gefahren hinzuweisen. Ob eine Gefahr drohe oder voraussehbar sei, könne nur aufgrund ihrer Einschätzung erfolgen, es komme nicht auf die Einschätzung der Beklagten oder des Gerichts an. Allenfalls bei willkürlichen Gefährdungsanzeigen könne eine Abmahnung gerechtfertigt sein. Das Verhalten, auf eine Gefährdungsanzeige mit einer Abmahnung zu reagieren, gefährde das Patientenwohl, weil Mitarbeiter, die den geringsten Zweifel an dem Vorliegen einer Gefahrenlage hätten, diese erst gar nicht anzeigten, um nicht selbst Gefahr zu laufen, arbeitsrechtliche Konsequenzen bis hin zur Kündigung hinnehmen zu müssen.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

die ihr mit Schreiben vom 24.01.2017 erteilte Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, eine Gefahrenlage habe am 26.09.2016 weder bestanden noch gedroht. Der Einsatz auf einer anderen als der eigentlichen Stammstation gehöre zum Berufsalltag der Pflegekräfte. Die Gefährdungsanzeige sei nicht geeignet gewesen, im Falle zusätzlichen Arbeitskräftebedarfs Abhilfe zu schaffen, weil sie die Arbeitgeberin regelmäßig zu spät erreiche. Gefährdungsanzeigen seien geeignet, dem Betrieb erheblichen Schaden zuzufügen, weil sie nicht selten in der Öffentlichkeit dazu genutzt würden, vermeintliche Missstände, wie personelle Unterbesetzungen, insbesondere auch im Bereich der Gesundheitsfürsorge, aufzuzeigen. Auch deshalb sei höchste Sorgfalt an die Prüfung der Ausgangslage zu richten. Die Dokumentation einer tatsächlich nicht bestehenden Gefährdungslage im Rahmen einer Gefährdungsanzeige stelle eine Verletzung der vertraglichen Nebenpflichten dar, die zur Erteilung einer Abmahnung berechtige. Soweit die Klägerin mitgeteilt habe, nicht ausschließen zu können, dass Patienten in ihren Krisen nicht erkannt würden, sei dies keine Anforderung, die die Beklagte an die Klägerin stelle.

Wegen des weiteren erstinstanzlichen Sachvortrags der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Beklagte ihr erstinstanzliches Klagabweisungsbegehren weiter:

Zwar könne der Annahme zugestimmt werden, dass nach dem Wortlaut des § 16 ArbSchG die nach der subjektiven Einschätzung der Arbeitnehmer bestehende oder bevorstehende erhebliche Gefahr maßgeblich sei und nicht eine ex post durch den Arbeitgeber oder einen Dritten verifizierte Gefahr. Falsch sei jedoch der Schluss im angefochtenen Urteil, dass allenfalls der bewusste Missbrauch einer Gefährdungsanzeige oder die willkürliche Erstattung einer solchen eine vertragliche Nebenpflichtverletzung begründen könne. Richtig sei insoweit, dass wenn eine Pflicht zur Anzeige von Gefährdungslagen bestehe, in dieser Pflicht immanent auch die Nebenpflicht innewohne, hiervon lediglich in begründeten Fällen Gebrauch zu machen, also lediglich in solchen Fällen, in denen objektiv eine erhebliche Gefährdungslage vorliege oder in denen der Arbeitnehmer subjektiv berechtigterweise davon aber ausgehen können und dürfen, dass eine Gefährdungslage vorliegen würde, auch wenn sich diese im Nachhinein als Nichtgegeben herausstelle. Die von der Klägerin zunächst abgegebene Anzeige habe sich durch die Reaktion des Pflegedienstleiters erledigt gehabt. Dieser habe ganz konkret die Verantwortung dafür übernommen, dass spätestens mit der zusätzlichen Arbeitskraft die Station vollkommen ausreichend besetzt gewesen sei, um die Versorgung der Patienten sicherzustellen und zusätzliche Hilfen angeboten. Die Klägerin habe keine weiteren Punkte moniert und dennoch zusätzlich eine weitere schriftliche Gefährdungsanzeige verfasst. Sie habe damit ganz eindeutig nicht die nötige Zurückhaltung walten lassen, sondern einen Zustand moniert, für den aufgrund der Abhilfe durch den Vorgesetzten dieser die volle Verantwortung übernommen habe. Es komme nicht darauf an, ob die Klägerin die Gefährdungsanzeige mit dem Ziel einer späteren Veröffentlichung erstellt habe oder ob sie später den Streit um die Abmahnung in die Öffentlichkeit getragen habe, es sei vielmehr allgemein bekannt, dass solche Gefährdungsanzeigen in Krankenhäusern absolut sensibel zu behandeln seien, zumal die zuständige Fachgewerkschaft keine Gelegenheit auslasse, solche Fälle in der Öffentlichkeit zu präsentieren und zu nutzen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Göttingen vom 14.12.2017, Az.: 2 Ca 155/17, aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil: Durch die Anweisung des Pflegedienstleiters sei zwar eine geringfügige Verbesserung der Situation geschaffen worden, ihr sei jedoch nicht abgeholfen worden. Letztendlich sei sie als examinierte Pflegekraft für die Geschehnisse auf der Station verantwortlich gewesen. Sie habe sich in ihren Bedenken durch den Pflegedienstleiter nicht ernst genommen gefühlt.

Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Sachvortrags der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Zu Recht ist das Arbeitsgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin einen Anspruch auf Entfernung der Abmahnung vom 24.01.2017 aus der Personalakte gegen die Beklagte hat.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können Arbeitnehmer in entsprechender Anwendung von §§ 242, 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus ihrer Personalakte verlangen, wenn die Abmahnung inhaltlich unbestimmt ist, unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält, auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt (vgl. nur BAG 18.10.2017 - 10 AZR 330/16 - Rz. 83).

Die vorliegende Abmahnung ist bereits deshalb zu entfernen, weil sie die unrichtige Tatsachenbehauptung enthält, dass die Klägerin zu Unrecht eine Gefährdung der Patienten auf der Station 5.2 angezeigt habe. Tatsächlich hat die Klägerin in ihrer Anzeige ausdrücklich die Station 5.1 benannt, auf der sie an diesem Tage auch nur eingesetzt war.

Davon unabhängig beruht die Abmahnung auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens der Klägerin, wie das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat und auf dessen Begründung gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG Bezug genommen wird. Die Berufung gibt Anlass zu folgender weiterer Begründung:

Ein der Klägerin vorwerfbarer Pflichtverstoß, insbesondere ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme gemäß § 241 Abs. 2 BGB ist vorliegend nicht gegeben. Die Beklagte selbst geht davon aus, dass es bei der hier von der Klägerin auf der Grundlage von § 16 ArbSchG abgegebenen Meldung nicht auf das objektive Vorliegen einer Gefährdungslage ankommt, soweit sie subjektiv berechtigterweise davon ausgehen konnte und durfte, es liege eine Gefährdungslage vor. Auch wenn man die vom Arbeitsrecht gezogene Grenze des bewussten Missbrauchs einer Gefährdungsanzeige oder deren willkürliche Erstattung weiter zöge, wäre es der Beklagten doch nicht gelungen darzulegen, dass die Klägerin aus sachfremden Erwägungen heraus oder ohne im Ansatz verantwortungsvolle Prüfung geradezu leichtfertig eine Gefahr meldete, von der sie annehmen musste, dass eine solche nicht vorlag. Insbesondere die im Rahmen ihrer Anhörung im Termin der mündlichen Verhandlung von der Klägerin als langjährig erfahrener Pflegekraft im psychiatrischen Bereich getätigten Angaben zu der von ihr am 26.09.2016 vorgefundenen Situation, in der sie nachvollziehbar und anschaulich ihr Unbehagen ("Kribbeln im Bauch") schilderte, plötzlich auf einer für sie fremden Station ohne den Rückhalt einer weiteren examinierten Kraft nur mit zwei Auszubildenden tätig zu werden, haben beim Gericht jeden Zweifel beseitigt, die Klägerin könne pflichtwidrig gehandelt haben. Die Klägerin hat dabei ausgeführt, warum sie im Rahmen ihrer Verantwortung für die Station die Angebote auf Hilfeleistung von der anderen Station, den Notruf und die Hintergrundbereitschaft als für sie nicht ausreichend erachtete, sodass der Einwand nicht verfängt, der Pflegedienstleiter habe nach ihrer telefonischen Beschwerde die Verantwortung übernommen. Dass die Klägerin mit ihrer Anzeige das Ziel verfolgt haben könnte, der Beklagten zu schaden oder die Anzeige etwa in erster Linie aus allgemeinen beschäftigungspolitischen Zielen heraus abgegeben haben könnte, behauptet auch die Beklagte nicht. Angesichts der Äußerungen der Klägerin zu bereits abgeleisteten Diensten ohne eine zweite Fachkraft, die für sie in Ordnung gewesen seien, bestehen hierfür auch keinerlei Anhaltspunkte. Soweit die Beklagte meint, mit der im Prozess abgegebenen Erklärung, die Klägerin habe sich durch den Pflegedienstleiter nicht ernst genommen gefühlt und daher habe sie die Gefährdungsanzeige allein wegen nicht ausreichender Wertschätzung zu Lasten der Beklagten abgegeben, äußert sie lediglich eine bloße Vermutung. Die Erklärung der Klägerin ist im Einklang mit ihrem Gesamtvortrag zwanglos auch so zu verstehen, dass sie die Maßnahme gerade nicht als ausreichend ansah, um ihr Unbehagen zu beseitigen.

Auch eine Würdigung des weiteren Sachvortrags der Parteien, von deren Darstellung im Einzelnen Abstand genommen wird, führt zu keinem abweichenden Ergebnis.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich. Gegen diese Entscheidung ist daher kein Rechtsmittel gegeben. Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde wird hingewiesen.