Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 25.10.2022, Az.: 4 LA 225/20

Abschiebungsandrohung; Abschiebungsverbot; Amtsermittlung; Asyl; Aufnahmebereitschaft; Bedeutung, grundsätzliche; Bedingungen, humanitäre; Bedingungen, wirtschaftliche; Erkenntnismittel, veraltete; Gehör, rechtliches; Sachverhaltsaufklärung; Zulassungsantrag

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
25.10.2022
Aktenzeichen
4 LA 225/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59675
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 28.09.2020 - AZ: 5 A 611/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die fehlende Bereitschaft des in der Abschiebungsandrohung genannten Abschiebungszielstaats, den Ausländer wiederaufzunehmen, kann grundsätzlich nicht einen Anspruch auf Feststellung eines auf diesen Staat bezogenen Abschiebungsverbots begründen.

2. Zu den Voraussetzungen, unter denen eine unzureichende bzw. unterbliebene Aufklärung des Sachverhalts zu einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führt.

Tenor:

Die Anträge des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 28. September 2020 und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungszulassungsverfahren werden abgelehnt.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

Der auf eine grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) sowie auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) gestützte Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Die Berufung ist nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (Senatsbeschl. v. 20.8.2015 - 4 LA 107/15 - u.v. 21.7.2015 - 4 LA 224/15 -; GK-AsylG, § 78 Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 78 AsylG Rn. 15 ff. m.w.N.). Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG erfordert daher, dass eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche neueren Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (Senatsbeschl. v. 20.8.2015 - 4 LA 107/15 - u.v. 21.7.2015 - 4 LA 224/15-; GK-AsylG, § 78 Rn. 591 ff. m.w.N.). Im Rahmen dieser Darlegung ist eine konkrete und ihm Einzelnen begründete Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geboten (BVerwG, Beschl. v. 2.5.2022 - 1 B 39.22 -, juris Rn. 18, 21; Senatsbeschl. v. 9.8.2018 - 4 LA 140/18 - m.w.N.).

Der Kläger hat zunächst die Frage aufgeworfen:

„Reicht es für die Aufnahmebereitschaft eines Zielstaates aufgrund einer dortigen Flüchtlingsanerkennung oder eines vormals bestehenden Aufenthaltsrechts aus, dass hiervon aufgrund der Angaben des Betroffenen ausgegangen werden kann oder müssen das Gericht und/oder das BAMF positiv ermitteln und feststellen, dass der Zielstaat aufnahmebereit ist?“

Diese Frage ist jedoch nicht von grundsätzlicher Bedeutung, weil die Aufnahmebereitschaft des Abschiebungszielstaats keinen Umstand darstellt, der in einem Berufungsverfahren für die Prüfung eines Abschiebungsverbots entscheidungserheblich wäre. Es ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz (vgl. § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), dass ein Ausländer auch in einen Staat abgeschoben werden darf, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt. Und ob der in der Abschiebungsandrohung genannte Abschiebungszielstaat tatsächlich bereit ist, auch Ausländer aufzunehmen, die nicht eigene Staatsangehörige sind, ist erst unter dem Gesichtspunkt der tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung im Rahmen des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG von der Ausländerbehörde zu prüfen (zu §§ 50 ff. AuslG 1990: BVerwG, Beschl. v. 29.6.1998 - 9 B 604.98 -, juris Rn. 4). Entsprechend kann die fehlende Bereitschaft des in der Abschiebungsdrohung genannten Abschiebungszielstaats, den Ausländer wiederaufzunehmen, auch nicht einen Anspruch auf Feststellung eines auf diesen Staat bezogenen Abschiebungsverbots begründen (vgl. VG Cottbus, Urt. v. 1.4.2021 -5 K 1582/17.A -, juris Rn. 36 m.w.N.).

Der Kläger hat weiter die Frage aufgeworfen:

„Kann ein gesunder junger Mann aus dem Sudan sich in Ägypten bei vorausgesetzter Aufnahmebereitschaft des Staates eine Existenz aufbauen, auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und deren Einfluss auf das Leben in Ägypten? Kann diese Feststellung auf Basis des Lageberichts des Auswärtigen Amtes und anderer aktueller Erkenntnisquellen mit der notwendigen Sicherheit getroffen werden?“

Auch diese Tatsachenfrage ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung, denn sie kann nicht fallübergreifend geklärt, sondern nur anhand der Gegebenheiten des konkreten Einzelfalls beantwortet werden.

Ausgangspunkt der Beantwortung dieser Frage ist der rechtliche Maßstab, der für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen der schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Herkunftsland gilt. Er ist in der vorhandenen höchstgerichtlichen Rechtsprechung bereits hinreichend geklärt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 -, juris Rn. 6 m.w.N.).

Bei Anwendung dieses rechtlichen Prüfungsmaßstabs auf den zu entscheidenden Fall hängt die Antwort auf die oben genannte Tatsachenfrage von einer Vielzahl individueller Umstände und Faktoren wie etwa dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, dem Vermögen und familiären oder freundschaftlichen Verbindungen ab (vgl. OVG Saarland, Beschl. v. 15.7.2021 -2 A 96/21 -, juris Rn. 10). Daher bedarf es für die Beantwortung der Tatsachenfrage einer Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls, so dass sie sich einer allgemeinen, fallübergreifenden Klärung entzieht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 -, Rn. 11; OVG Saarland, a.a.O., juris Rn. 10; Nds. OVG, Beschl. v. 31.8.2021 - 9 LA 169/20 -, n.v.). Das gilt auch für den Fall des Klägers, der nach den Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts jung und gesund ist, seinen Lebensunterhalt in Ägypten vor seiner Ausreise durch Erwerbsarbeit als Kellner verdienen konnte und zudem bei einer Rückkehr auf die Unterstützung durch in Ägypten lebende Familienangehörige und durch staatliche und karitative Hilfsprogramme zurückgreifen kann (Urteilsabdruck, S. 11).

Die Berufung ist schließlich auch nicht wegen der vom Kläger gerügten Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen.

Der Kläger sieht eine Gehörsverletzung darin, dass das Verwaltungsgericht den Sachverhalt nicht ausreichend erforscht und seine Entscheidung zur Feststellung von Abschiebungsverboten auf veraltete Erkenntnismittel gestützt habe. Damit rügt er der Sache nach einen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 86 Abs. 1 VwGO. Dabei handelt es sich aber nicht um einen der Verfahrensfehler, die nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO im Asylprozess zur Zulassung der Berufung führen können (vgl. Senatsbeschl. v. 27.4.2021 - 4 LA 97/21 -, n.v.; ferner OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 27.11.2018 - 4 A 3762/18.A -, juris Rn. 5; Bay. VGH, Beschl. v. 18.4.2019 - 5 ZB 19.50014 -, juris 11).

Ein rügefähiger Verfahrensfehler durch eine unzureichende bzw. unterbliebene Aufklärung des Sachverhalts liegt nur dann vor, wenn dieser Mangel Ausdruck einer Gehörsverletzung ist, die gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 AsylG auch im Asylprozess rügefähig ist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3.3.2020 - OVG 9 N 2.20 -, juris Rn. 6; OVG Bremen, Beschl. v. 21.9.2020 - 1 LA 33/20 -, juris Rn. 9). So stellt die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisantrages einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG dar, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (BVerwG, Beschl. v. 12.3.2004 - 6 B 2.04 -, juris Rn. 9; ferner Nds. OVG, Beschl. v. 3.4.2019 - 11 LA 12/18 -, juris Rn. 18). Fehlt es an einem förmlichen Beweisantrag, kommt hinsichtlich der Sachaufklärungspflicht eine Verletzung des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG in einer nach § 138 Nr. 3 VwGO beachtlichen Weise in Betracht, wenn das Gericht eine Beweisanregung nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat oder ihr nicht gefolgt ist, obwohl sich dies hätte aufdrängen müssen (BVerwG, Beschl. v. 4.3.2014 - 3 B 60.13 -, juris Rn. 7; ferner Bay.VGH, Beschl. v. 18.4.2019 - 5 ZB 19.50014 -, juris Rn. 12).

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Wie der Kläger selbst einräumt, hat er einen förmlichen Beweisantrag nicht gestellt. Der Gerichtsakte und namentlich dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28. September 2020 sind auch keine Hinweise darauf zu entnehmen, dass er nach der zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung erfolgten Übersendung der Erkenntnismittelliste in sonstiger Weise auf die Beiziehung von weiteren, aktuelleren Erkenntnismitteln hingewirkt hat. Eine etwaige ungenügende Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts würde daher jedenfalls nicht darauf beruhen, dass das Verwaltungsgericht diesbezügliches Vorbringen des Klägers nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen hat und kann deshalb nicht einen Gehörsverstoß begründen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.

Eine Bewilligung der vom Kläger beantragten Prozesskostenhilfe für das Berufungszulassungsverfahren scheidet mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO aus.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).