Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 07.08.2003, Az.: 11 LA 231/03
Exilpolitische Aktivitäten; Geschäftsstelle; Hilfsbeweisantrag; MEDYA-TV; Türkei, Kuden; Urteilsgründe: Abfassung; Urteilstenor; Verfahrensmangel; Zustellung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 07.08.2003
- Aktenzeichen
- 11 LA 231/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48133
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 14.02.2003 - AZ: 4 A 2073/02
Rechtsgrundlagen
- § 78 Abs 3 Nr 1 AsylVfG
- § 78 Abs 3 Nr 3 AsylVfG
- § 116 Abs 2 VwGO
- § 117 Abs 4 S 2 VwGO
- § 138 Nr 3 VwGO
- § 138 Nr 6 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Zur Darlegung des Zulassungsgrundes des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 6 VwGO im Falle des Überschreitens der Fristen von § 116 Abs. 2 und § 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO
Gründe
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das angefochtene Urteil bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe greifen nicht durch.
1. Die Kläger haben einen Verfahrensmangel nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 6 VwGO nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG entsprechenden Weise dargelegt.
Allerdings trifft es zu, dass das angefochtene Urteil gegen § 116 Abs. 2 VwGO verstößt. In der mündlichen Verhandlung vom 14. Februar 2003 hatte das Verwaltungsgericht
– Einzelrichterin – beschlossen, dass die Entscheidung zugestellt wird. Das Urteil hätte daher innerhalb von zwei Wochen, d. h. spätestens am 28. Februar 2003, der Geschäftsstelle übergeben werden müssen. Zur Wahrung der Zwei-Wochen-Frist hätte in entsprechender Anwendung des § 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO die Übergabe der vom Richter unterschriebenen Urteilsformel genügt (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.11.1999, BVerwGE 110, 40 = NVwZ 2000, 1290). Ausweislich der Gerichtsakte (Bl. 294) ist der von der Einzelrichterin unterschriebene Urteilstenor jedoch erst am 04. März 2003 und damit verspätet bei der Geschäftsstelle eingegangen. Ein Verstoß gegen die Zwei-Wochen-Frist des § 116 Abs. 2 VwGO ist aber nur dann im Sinne von § 138 Nr. 6 VwGO erheblich, wenn dargelegt wird, dass das Urteil auf dem Mangel beruhen kann (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 116 Rdnr. 12). Daran fehlt es hier.
§ 116 Abs. 2 VwGO gebietet, dass der Richter sich unmittelbar nach der mündlichen Verhandlung, spätestens aber zwei Wochen danach im Ergebnis festlegt (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.11.1999, a. a. O.). Auch soll die fristgerechte Entscheidungsfindung sicherstellen, dass die Entscheidung aufgrund des Inhalts und des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung ergangen ist (vgl. J. Schmidt, in: Eyermann, VwGO, Komm., 11. Aufl., § 116 Rdnr. 11). Es ist aber grundsätzlich nicht anzunehmen, dass ein Richter sich bereits
– wie hier – 18 Tage nach der mündlichen Verhandlung nicht mehr hinreichend an das dortige Beteiligtenvorbringen erinnern kann. Im vorliegenden Fall haben die Kläger auch noch nicht einmal behauptet, dass das Verwaltungsgericht bei der Entscheidungsfindung das Vorbringen der in der mündlichen Verhandlung anwesenden Kläger zu 1) und 2) nicht berücksichtigt hätte. Trotz des Verstoßes gegen § 116 Abs. 2 VwGO kann deshalb nicht festgestellt werden, dass das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann.
Allerdings muss nach § 117 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 VwGO, der entsprechend für den hier vorliegenden Fall der Zustellung eines Urteils statt der Verkündung anzuwenden ist, das vollständige Urteil alsbald nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist der Geschäftsstelle übergeben werden. Diesen strengen zeitlichen Vorgaben ist das Verwaltungsgericht nicht gerecht geworden. Denn das angefochtene Urteil vom 14. Februar 2003 ist ausweislich der Gerichtsakten (Bl. 295) erst am 07. Juli 2003 der Geschäftsstelle übergeben worden. Damit ist die höchstzulässige Frist von fünf Monaten zur Abfassung des vollständigen Urteils einschließlich Übergabe an die Geschäftsstelle (vgl. Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschl. v. 27.04.1993, BVerwGE 92, 367) seit der letzten mündlichen Verhandlung nur knapp unterschritten. Gleichwohl kann ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne von § 138 Nr. 6 VwGO, der darin besteht, dass das Urteil einem nicht mit Gründen versehenen Urteil gleichzustellen ist, auch bei einem Zeitraum von weniger als fünf Monaten vorliegen, wenn die schriftlichen Urteilsgründe so spät abgefasst worden sind, dass nicht mehr gewährleistet ist, dass die angegebenen Gründe tatsächlich für die Entscheidung bestimmend waren (vgl. Kopp/Schenke, a. a. O., § 117 RdNr. 21; Berlit, in: GK-AsylVfG, § 78 RdNr. 491 ff). Dies kann gerade in Asylverfahren der Fall sein, bei denen es auch auf den persönlichen Eindruck ankommt. Maßgebend sind die konkreten Umstände des Einzelfalls, ob die niedergelegten Urteilsgründe das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und die für die Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO leitenden Erwägungen zuverlässig wiedergeben (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.04.2001, Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 47 = NVwZ-RR 2001, 789). Im Rahmen des Berufungszulassungsverfahrens sind deshalb neben dem Zeitablauf die Gesichtspunkte vorzutragen, die dafür sprechen könnten, dass bei der Abfassung des Urteils den Richtern Inhalt und Ablauf des Verhandlungstermins nicht mehr hinreichend gegenwärtig war. Die Kläger haben sich lediglich pauschal darauf berufen, dass zwischen der mündlichen Verhandlung und der vollständigen Absetzung des Urteils ein Zeitraum von annähernd fünf Monaten vergangen sei, ohne aber, anhand der Entscheidungsgründe im Einzelnen darzulegen, weshalb Zweifel daran bestehen, dass die Erinnerung der Einzelrichterin an die mündliche Verhandlung nicht mehr ausreichend vorhanden war.
2. Die Rüge der Kläger, das Verwaltungsgericht habe ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) dadurch verletzt, dass es ihren in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisantrag auf Zeugenvernehmung nicht nachgegangen sei, greift ebenfalls nicht durch.
Ob die prozessrechtswidrige Ablehnung eines in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Beweisantrages überhaupt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu begründen vermag oder ob es sich nur um eine Anregung an das Gericht zu weiterer Sachverhaltsermittlung handelt (vgl. zum Streitstand: Hess. VGH, Beschl. v. 07.02.2001, AuAS 2001, 23), wobei die Verletzung der Sachaufklärungspflicht ohnehin nicht zu den in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 VwGO genannten Verfahrensmängeln gehört, lässt der Senat offen. Selbst wenn es sich um eine Frage des rechtlichen Gehörs handeln sollte, könnten die Kläger mit ihrer Rüge nicht durchdringen, weil die vom Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen gegebene Begründung für die Ablehnung des Hilfsbeweisantrages nicht gegen Prozessrecht verstößt.
Das Verwaltungsgericht hat hierzu näher ausgeführt (S. 10 f d. UA), es bestünden durchgreifende Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Klägers zu 1), weil sich sein gesamtes Vorbringen seit seiner Einreise durch erhebliche Steigerungen auszeichne, wobei auch bei wohlwollender Betrachtungsweise die gegebenen Zweifel an der Glaubhaftigkeit seiner Angaben nicht durch plausible Erklärungen hätten ausgeräumt werden können. Diese Begründung ist prozessrechtlich nicht zu beanstanden. Hält nämlich ein Gericht die Schilderung, die der Asylkläger von seinem persönlichen Verfolgungsschicksal gibt, in wesentlichen Punkten für unzutreffend oder in nicht auflösbarer Weise für widersprüchlich, so braucht es – auch substantiierten – Beweisanträgen zum Verfolgungsgeschehen nicht nachzugehen (so BVerwG, Beschl. v. 20.07.1998, NVwZ-RR 1999, 208 [BVerwG 20.07.1998 - BVerwG 9 B 10/98] und Beschl. v. 26.10.1989, Buchholz 310. § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 212 = InfAuslR 1990, 38 [BVerwG 26.10.1989 - BVerwG 9 B 405.89]; diese Rechtsprechung begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.05.1994, DVBl. 1994, 1403 [BVerfG 26.05.1994 - 2 BvR 1183/92] und Beschl. v. 10.03.1997 - 2 BvR 323/97 -, zit. n. Juris.
3. Ebenso wenig führt die auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG gestützte Zulassungsrüge zum Erfolg.
Die Kläger halten es für grundsätzlich klärungsbedürftig,
„ob durch einen Redebeitrag in einer Sendung von MEDYA-TV, anläßlich derer sich jemand als PKK-Anhänger zu erkennen gibt und dazu namentlich benannt wird, im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit asylerheblicher Verfolgung rechnen muß“.
Diese Frage bedarf aber keiner Klärung in einem Berufungsverfahren, da sie in der Rechtsprechung des beschließenden Senats hinreichend beantwortet ist. Danach müssen nach erfolglosem Asylverfahren in die Türkei zurückkehrende kurdische Volkszugehörige, die sich nicht öffentlichkeitswirksam exilpolitisch exponiert haben und gegen die nicht aus sonstigen individuellen Gründen der konkrete Verdacht besteht, die PKK/KADEK oder andere staatsfeindliche Organisationen in herausgehobener Weise zu unterstützen, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylerheblichen Maßnahmen rechnen (vgl. zuletzt: Urt. v. 27.02.2003 - 11 LB 288/02 -, S. 21 f d. UA mit Nachweisen auch aus der insoweit übereinstimmenden Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte). Ob im Einzelfall ein kurdischer Volkszugehöriger sich in dieser Weise exilpolitisch exponiert hat und ob er in das Blickfeld der türkischen Sicherheitsbehörden geraten ist, lässt sich nur anhand der Besonderheiten des konkreten Falles und nicht generalisierend entscheiden. Das gilt auch für die hier interessierende Frage des Auftretens von Kurden in Sendungen des PKK/KADEK-nahen Fernsehens MEDYA-TV (vgl. dazu etwa Senats-Beschlüsse vom 08.05.2003 - 11 LA 121/03 - und vom 10.08.2001 - 11 L 396/01 -). In diesem Zusammenhang hat der Senat auch neuere Erkenntnismittel ausgewertet, zu denen etwa Gutachten (vom 18.01.2001 an die Rechtsanwälte Dr. D. u. a. und vom 28.03.2001 an VG E.) des von den Klägern erwähnten Sachverständigen F. gehören. Es besteht deshalb kein Anlass, diese Rechtsprechung in einem Berufungsverfahren zu überprüfen.