Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 07.08.2013, Az.: 5 LA 95/13

Rechtmäßigkeit eines Beihilfeausschlusses für die kieferorthopädische Behandlung eines Erwachsenen gem. § 9 Abs. 4 S. 1 NBhVO

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
07.08.2013
Aktenzeichen
5 LA 95/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 44006
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2013:0807.5LA95.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 28.01.2013 - AZ: 7 A 230/12

Fundstellen

  • FStNds 2013, 678-680
  • IÖD 2013, 249-252
  • NVwZ-RR 2013, 6
  • NVwZ-RR 2013, 1012
  • NdsVBl 2013, 3

Amtlicher Leitsatz

Der weitgehende Ausschluss von Beihilfe für die kieferorthopädische Behandlung Erwachsener in § 9 Abs. 4 Satz 1 NBhVO verstößt nicht gegen höherrangiges Recht

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

1. Die Voraussetzungen des geltend gemachten Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO sind nicht erfüllt.

Der Gesetzgeber hat mit dem Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (negativ) an die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Erlass eines Gerichtsbescheides (§ 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und die Übertragung auf den Einzelrichter (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwGO) angeknüpft. Hiernach weist eine Streitsache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf, wenn ihre Entscheidung voraussichtlich in tatsächlicher bzw. rechtlicher Hinsicht größere, das heißt überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursachen wird (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 124 Rn 9). Die Darlegung des Zulassungsgrundes erfordert deshalb grundsätzlich, dass in fallbezogener Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts die geltend gemachten Schwierigkeiten als solche benannt werden und darüber hinaus aufgezeigt wird, dass und aus welchen Gründen sie sich qualitativ von denjenigen eines Verwaltungsrechtsstreits "durchschnittlicher" Schwierigkeit abheben (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 17.2.2010 - 5 LA 342/08 -, [...] Rn 10).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze kommt eine Zulassung der Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht in Betracht.

Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, dass die Aufwendungen für die von der Klägerin beabsichtigte kieferorthopädische Behandlung nicht gemäß § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 NBhVO beihilfefähig sind. Denn Aufwendungen für ambulante kieferorthopädische Leistungen sind danach bei Beihilfeberechtigten, die - wie die 38 Jahre alte Klägerin - bei Behandlungsbeginn das 18. Lebensjahr vollendet haben, nur beihilfefähig, wenn bei einer schweren Kieferanomalie eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung erfolgt. Die Durchführung einer solchen kombinierten Behandlung ist bei der Klägerin aber nicht vorgesehen.

Die Klägerin trägt vor, die Berufung sei gleichwohl gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Die Beantwortung der Frage, ob ihr Begehren unter Berufung auf die einschränkende Regelung des § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 NBhVO habe abgelehnt werden dürfen, erweise sich als besonders schwierig. Denn in ihrem Fall sei der medizinische Gesichtspunkt ausschlaggebend, dass sie die kieferorthopädische Behandlung "nicht nur aus mehr oder weniger kosmetischen Gründen durchführen" lasse, sondern "anstelle und zur Vermeidung orthopädischer, internistischer und schmerztherapeutischer Behandlungen". Das diesbezügliche Vorbringen der Klägerin im Zulassungsverfahren rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.

Die einschränkende Regelung des § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 NBhVO, nach der Aufwendungen für ambulante kieferorthopädische Leistungen bei Beihilfeberechtigten, die bei Behandlungsbeginn das 18. Lebensjahr bereits vollendet haben, nur beihilfefähig sind, wenn eine schwere Kieferanomalie vorliegt, die eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung erfordert, verstößt entgegen der Ansicht der Klägerin nicht gegen höherrangiges Recht (vgl. ebenso zu der gleich lautenden Vorschrift des § 4 Abs. 2 Bst. a BVO NRW 2009: OVG NRW, Beschlüsse vom 8.2.2013 - 1 A 1291/11 -, [...] Rn 6 ff., und vom 30.5.2012 - 1 A 1290/11 -, [...] Rn 17 ff.; vgl. ebenso zu der gleich lautenden Vorschrift der Nr. 2 der Anlage 2 zu § 6 Abs. 1 Nr. 1 BhV des Bundes: OVG Berl.-Bbg., Urteil vom 11.11.2010 - OVG A 4 B 22.10 -, [...] Rn 23). Mit der in § 9 Abs. 4 Satz 1 NBhVO normierten Altersbegrenzung ist in typisierender und generalisierender Weise eine angemessene Einschränkung der besonders kostenintensiven Aufwendungen für kieferorthopädische Behandlungen festgelegt worden. Mit der Beschränkung auf Personen, die das achtzehnte Lebensjahr bei Behandlungsbeginn noch nicht vollendet haben, trägt die Regelung der Tatsache Rechnung, dass eine rein kieferorthopädische Behandlung in der Regel deutlich mehr Aussicht auf Erfolg bietet, wenn mit ihr zu einem möglichst frühen Lebenszeitpunkt - jedenfalls vor Abschluss des Körperwachstums - begonnen wird, weil zu diesem Zeitpunkt der Kiefer noch besser formbar ist. Ein weiterer Grund für den grundsätzlichen Ausschluss der Übernahme der Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung Erwachsener liegt in der Erwägung, dass eine solche Behandlung bei Erwachsenen häufig nur aus ästhetischen Gründen oder wegen mangelnder zahnmedizinischer Vorsorge in früheren Jahren erfolgt. Damit verfolgt die in Rede stehende Regelung ein sachliches Ziel, nämlich die Beihilfeleistungen auf möglichst erfolgversprechende Therapien zu beschränken und Konstellationen wenig erfolgversprechender und medizinisch umstrittener Behandlungen sowie etwaiger Lifestyle-Operationen auszuschließen. Dass das Fehlen weiterer Ausnahmeregelungen - über § 9 Abs. 4 Satz 1 NBhVO hinaus - unverhältnismäßig sein und deshalb eine Verletzung der Fürsorgepflicht des Normgebers darstellen könnte, ist nicht erkennbar (vgl. ebenso zu der gleich lautenden Vorschrift des § 4 Abs. 2 Bst. a BVO NRW 2009: OVG NRW, Beschlüsse vom 8.2.2013, a. a. O., Rn 8, und vom 30.5.2012, a. a. O., Rn 22 f.).

Die Beihilfevorschriften des Dienstherrn eines Beamten enthalten im Grundsatz eine abschließende Konkretisierung dessen, was der Dienstherr für diesen Rechtsbereich aufgrund seiner Fürsorgepflicht an - den diesbezüglichen Anteil in der Besoldung ergänzenden - Leistungen u. a. in Krankheitsfällen für geboten und angemessen ansieht. Sie sind eine den durchschnittlichen Verhältnissen angepasste Regelung, bei der in Kauf genommen werden muss, dass nicht in jedem Einzelfall eine volle Deckung der Aufwendungen erreicht wird. Auch verlangt die Fürsorgepflicht keine "lückenlose" Erstattung sämtlicher krankheitsbedingter Aufwendungen des Beamten und seiner berücksichtigungsfähigen Angehörigen. Deshalb lässt sich ein Beihilfeanspruch regelmäßig nicht unmittelbar aus der dem Dienstherrn gegenüber dem Beamten obliegenden Fürsorgepflicht herleiten, soweit die Beihilfevorschriften für bestimmte Aufwendungen die Beihilfefähigkeit beschränken oder ausschließen (vgl. BVerwG, Urteile vom 10.6.1999 - BVerwG 2 C 29.98 -, [...], vom 29.6.1995 - BVerwG 2 C 15.94 -, [...], und vom 31.1.2002 - BVerwG 2 C 1.01 -, [...]).

Unbeschadet dessen kann es allerdings in atypisch gelagerten Einzelfällen ausnahmsweise geboten sein, einen Anspruch unmittelbar auf der Grundlage der Fürsorgepflicht zu gewähren, wenn nämlich diese ansonsten in ihrem Wesenskern verletzt würde (vgl. BVerwG, Urteile vom 10.6.1999, vom 29.6.1995 und vom 31.1.2002, a. a. O.). Das bedeutet, dass eine Beihilfefähigkeit in seltenen Fällen in Betracht kommen kann, in denen sich - atypischerweise - die Verweigerung der Beihilfeleistung aufgrund ganz besonderer Fallumstände als grob fürsorgepflichtwidrig darstellen würde (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 26.6.2012 - 5 LA 318/10 -). Eine Verletzung des Wesenskerns der Fürsorgepflicht kann aber nur bei unzumutbaren Belastungen bzw. erheblichen Aufwendungen, die für den Beamten unausweichlich sind und denen er sich nicht entziehen kann, angenommen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.4.2009 - BVerwG 2 C 127.07 -, [...] Rn 11; OVG Berl.-Bbg., Urteil vom 11.11.2010, a. a. O., Rn 24), mithin dann, wenn der Beamte erhebliche Aufwendungen für medizinisch notwendige und unabdingbare Behandlungen aufgrund des Beihilfeausschlusses selber tragen müsste und dadurch wirtschaftlich so belastet würde, dass er an einer amtsangemessenen Lebensführung gehindert wäre (vgl. OVG Berl.-Bbg., Urteil vom 11.11.2010, a. a. O., Rn 24).

Gemessen an den vorstehend wiedergegebenen Grundsätzen kann die Klägerin ihr Begehren nicht unmittelbar auf die Fürsorgepflicht des Dienstherrn stützen. Die Klägerin hat nicht dargetan, dass eine amtsangemessene Lebensführung nicht mehr möglich wäre, wenn die Beihilfefähigkeit der fraglichen Aufwendungen, die sich bei einem Beihilfebemessungssatz von 50 Prozent auf 4.290,14 EUR belaufen würden, nicht anerkannt würde. Dafür ist angesichts der Höhe der der Klägerin als Lehrerin zustehenden Besoldung und des Umstandes, dass sie die zahnärztlichen Gebühren ausweislich des Behandlungsplans vom 5. Dezember 2011 in vierteljährlichen Zeitabschnitten zu entrichten hätte, auch nichts ersichtlich.

Auch das Vorbringen der Klägerin, die kieferorthopädische Behandlung solle anstelle und zur Vermeidung orthopädischer, internistischer und schmerztherapeutischer Behandlungen durchgeführt werden, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Dass die kieferorthopädische Behandlung diesem Zweck dienen soll und dass die in dem Behandlungsplan vom 5. Dezember 2011 aufgeführten Diagnosen zutreffen, kann zugunsten der Klägerin unterstellt werden. Das Verwaltungsgericht war deshalb entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht gehalten, insoweit durch Einholung eines Sachverständigengutachtens Beweis zu erheben. Einer Beweisaufnahme bedürfte es auch in einem Berufungsverfahren nicht. Denn für die Ablehnung des von der Klägerin geltend gemachten Begehrens ist ausschlaggebend, dass die kieferorthopädische Behandlung nicht in dem dargestellten Sinne unausweichlich ist. Die Klägerin hat schon mit ihrer Klagebegründung vom 31. Mai 2012 eingeräumt, dass die Möglichkeit bestehe, ihre chronischen Beschwerden (siehe zu den Beschwerden im Einzelnen S. 3 des Schriftsatzes vom 31.5.2012) symptomatisch orthopädisch, internistisch und schmerztherapeutisch zu behandeln (siehe S. 3 und 4 des Schriftsatzes vom 31.5.2012). Im Zulassungsverfahren hat sie an diesem Vorbringen festgehalten. Auch nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin bedarf es zur Therapie ihres Krankheitsbildes mithin nicht zwingend der Durchführung der kieferorthopädischen Behandlung. Dass eine orthopädische, internistische und schmerztherapeutische Behandlung der Klägerin nicht erfolgversprechend ist, ist weder ersichtlich noch von der Klägerin substantiiert dargelegt worden.

2. Die Voraussetzungen des geltend gemachten Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen ebenfalls nicht vor.

Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine tatsächliche oder rechtliche Frage von allgemeiner fallübergreifender Bedeutung aufwirft, die im Berufungsrechtszug entscheidungserheblich ist und im Interesse der Rechtseinheit geklärt werden muss. Die in diesem Sinne zu verstehende grundsätzliche Bedeutung muss durch die Formulierung mindestens einer konkreten, sich aus dem Verwaltungsrechtsstreit ergebenden Frage dargelegt werden. Dabei ist substantiiert zu begründen, warum die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig gehalten wird, das heißt worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll, weshalb die Frage entscheidungserheblich und ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist (vgl. Kopp/Schenke, a. a. O., § 124 a Rn 54). Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Klägerin nicht.

Die Klägerin hat es bereits versäumt, in der gebotenen Deutlichkeit eine konkrete tatsächliche oder rechtliche Frage von allgemeiner fallübergreifender Bedeutung zu formulieren, die im Berufungsrechtszug entscheidungserheblich ist und im Interesse der Rechtseinheit geklärt werden muss.

Darüber hinaus hat die Klägerin auch nicht in einer den Anforderungen des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Weise näher begründet, warum die von ihr schon nicht konkret formulierte Frage eine über ihren konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat und weshalb ein allgemeines Interesse an ihrer Klärung besteht.

Die Berufung wäre jedoch selbst dann nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, wenn zugunsten der Klägerin angenommen würde, sie habe sinngemäß als grundsätzlich bedeutsam die Fragen aufwerfen wollen,

- ob die Regelung des § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 NBhVO gegen höherrangiges Recht verstößt, und

- ob der geltend gemachte Anspruch wegen des Vorliegens eines atypisch gelagerten Einzelfalles unmittelbar auf der Grundlage der Fürsorgepflicht besteht.

Denn diese Fragen lassen sich, wie sich aus den Ausführungen des Senats zu § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ergibt, schon im Zulassungsverfahren - verneinend - beantworten.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).