Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.05.2011, Az.: 4 LC 28/09

Die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers im Falle der Gewährung von Hilfe zur Erziehung an einen im Ausland lebenden Elternteil erfordert nicht den Aufenthalt des Kindes im Ausland; Die Regelung der örtlichen Zuständigkeit in § 88 SGB VIII stellt eine Auffangregel zur allgemeinen Zuständigkeitsregelung des § 86 SGB VIII dar

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.05.2011
Aktenzeichen
4 LC 28/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 16343
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:0512.4LC28.09.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 20.01.2009 - AZ: 3 A 1222/08

Fundstelle

  • Jugendhilfe 2012, 55

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers nach § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII in dem Falle der Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII an den im Ausland lebenden und personensorgeberechtigten Elternteil setzt nicht voraus, dass auch dessen Kind sich im Ausland aufhält.

  2. 2.

    Die Regelung der örtlichen Zuständigkeit in § 88 SGB VIII ist eine Auffangregelung, die nur dann greift, wenn kein nach § 86 SGB VIII in Betracht kommender Anknüpfungspunkt in Deutschland vorhanden und eine Zuständigkeitsbestimmung nach dieser allgemeinen Zuständigkeitsregelung daher nicht möglich ist.

Gründe

1

I.

Die Kläger begehren vom Beklagten als überörtlichem Träger der Jugendhilfe die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in der Form von Pflegegeld für die Betreuung ihrer gemeinsamen Tochter im Haushalt der Eltern des Klägers zu 1. im Landkreis C..

2

Der Kläger zu 1. ist Deutscher und die Klägerin zu 2. ist japanische Staatsangehörige. Sie lebten zusammen mit ihrem am 17. April 2003 in D. geborenen Kind zunächst in Japan. Im September 2004 trennten sich die Kläger. Die unter Depressionen leidende und deswegen sich in psychiatrischer Behandlung befindende Klägerin zu 2. zog zusammen mit einem Sohn aus einer früheren Beziehung in die USA und machte dort ein Scheidungsverfahren anhängig. Unter dem 23. November 2005 und 28. März 2006 unterschrieben die Kläger eine Vereinbarung, wonach sie das gesetzliche Sorgerecht ("legal custody") für das Kind gemeinsam behalten wollten, der Kläger zu 1. aber das Aufenthaltsbestimmungsrecht allein ("sole physical custody") ausüben und er sich in erster Linie um das Kind kümmern sollte ("primary caretaker") und sein Wohnsitz ("his home") der vorrangige Wohnsitz des Kindes ("primary home of the child") sein sollte. Der Kläger zu 1. übte nach der Trennung von der Klägerin zu 2. das Sorgerecht für das Kind dementsprechend auch tatsächlich allein aus.

3

Da der nach der Trennung von der Klägerin zu 2. allein lebende Kläger zu 1. nach seinen Angaben als Unternehmensberater keine regelmäßigen bzw. zeitweise keine Einkünfte erzielte, ständig auf Geschäftsreisen zwischen Japan, China, Korea und anderen Staaten im asiatischen Raum unterwegs war und in Japan mit zwei Kollegen in einer Wohngemeinschaft zusammen lebte, brachte er das Kind am 19. September 2005 zu seinen Eltern im Landkreis C., wo es seit dieser Zeit lebt.

4

Am 3. August 2006 stellte der Kläger zu 1. beim Jugendamt des Landkreises C. einen Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII in Form der Zahlung von Pflegegeld an seine Eltern. Diesen Antrag lehnte der Landkreis C. durch Bescheid vom 11. September 2006 mit der Begründung ab, dass kein erzieherischer Bedarf bei dem Kind vorliege. Die Großeltern seien in der Lage, die Versorgung ihres Enkelkindes zu gewährleisten, was von ihnen im Rahmen ihrer Unterhaltsverpflichtungen nach dem BGB auch erwartet werden müsse.

5

Die Kläger erhoben dagegen am 28. Dezember 2006 Klage beim Verwaltungsgericht Stade (4 A 2773/06) und ersuchten dieses am 15. Mai 2007 um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (4 B 642/07). Das Verwaltungsgericht Stade lehnte den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch Beschluss vom 19. Juni 2007 mit der Begründung ab, dass die Antragsteller das Bestehen eines Anordnungsgrundes nicht glaubhaft gemacht hätten. Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Senat mit Beschluss vom 2. August 2007 zurück (4 ME 622/07). Zur Begründung führte der Senat aus, dass die Antragsteller zum einen den Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht hätten, zum anderen aber auch ein Anordnungsanspruch nicht bestehe, weil es sich bei der begehrten Hilfe zur Erziehung, hinsichtlich derer die personensorgeberechtigten, hier im Ausland lebenden Eltern anspruchsberechtigt seien, um die Gewährung von Leistungen an Deutsche im Ausland handele, für die nach § 85 Abs. 2 Nr. 9 i.V.m.§ 6 Abs. 3 SGB VIII der überörtliche Träger der Jugendhilfe sachlich zuständig sei. Im Hinblick auf diese Entscheidung des Senats erklärten die Beteiligten das Klageverfahren für erledigt. Das Verwaltungsgericht Stade stellte dieses Verfahren mit Beschluss vom 24. September 2007 ein.

6

Der Landkreis C. hatte dem Beklagten den Vorgang bereits am 31. August 2007 mit der Bitte um Übernahme vorgelegt. Der Beklagte teilte dem Kläger zu 1. daraufhin mit Schreiben vom 28. Januar 2008 mit, dass er sich nicht für sachlich zuständig halte, da die Voraussetzungen des § 6 Abs. 3 SGB VIII nur dann vorlägen, wenn sowohl die Eltern als auch das betreffende Kind ihren Aufenthalt im Ausland hätten, was hier nicht der Fall sei. Hinsichtlich eines möglichen Anspruchs der Kläger auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung wies der Beklagte auf die vom Landkreis C. nicht berücksichtigte Vorschrift des § 27 Abs. 2 a SGB VIII hin, wonach dieser Anspruch nicht dadurch entfalle, dass eine andere unterhaltspflichtige Person bereit sei, diese Aufgabe zu übernehmen. Mit Bescheid vom 5. Februar 2008 lehnte der Beklagte den Antrag des Kläger zu 1. auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27 ff. SGB VIII ab, wiederholte zur Begründung seinen rechtlichen Standpunkt und wies ferner darauf hin, dass auch dann, wenn hier der überörtliche Träger sachlich zuständig wäre, er für die Hilfegewährung örtlich nicht zuständig wäre, da das Kind in D. geboren sei und deshalb nach § 88 Abs. 1 SGB VIII die örtliche Zuständigkeit des Landes Berlin bestünde.

7

Die Kläger haben am 14. Februar 2008 Klage erhoben und zur Begründung angeführt, dass der Beklagte für die begehrte Hilfegewährung sachlich und auch örtlich zuständig sei. Die Regelung der örtlichen Zuständigkeit in § 88 Abs. 1 SGB VIII sei hier nicht einschlägig, weil es nicht um Leistungen im Ausland gehe, da das Kind in Deutschland lebe.

8

Die Kläger haben beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 5. Februar 2008 aufzuheben und ihn zu verpflichten, ihnen ab dem 19. September 2005, hilfsweise ab dem 3. August 2006, Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 33, 39 SGB VIII in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

9

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

10

Er hat darauf hingewiesen, dass ein über eine finanzielle Unterstützung hinausgehender Hilfebedarf nicht dargelegt worden sei. Auch sei nicht ersichtlich, dass die Kläger eine entsprechende Hilfe in ihren jeweiligen Aufenthaltsländern nicht erlangen könnten. Jedenfalls sei er für die Gewährung der begehrten Hilfe zur Erziehung sachlich nicht zuständig, da § 6 Abs. 3 SGB VIII voraussetze, dass nicht nur der Hilfeberechtigte, sondern auch der Hilfeempfänger seinen tatsächlichen Aufenthalt im Ausland habe. Im Übrigen wäre er als überörtlicher Träger der Jugendhilfe auch nicht örtlich zuständig. Denn nach § 88 Abs. 1 SGB VIII sei im Falle der Geburt des Kindes im Ausland das Land Berlin zuständig.

11

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch das angefochtene Urteil abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beklagte als überörtlicher Träger der Jugendhilfe nicht nach § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII i.V.m. § 6 Abs. 3 SGB VIII sachlich zuständig sei für die begehrte Hilfegewährung. Denn § 6 Abs. 3 SGB VIII sei nur dann anwendbar, wenn auch bzw. zumindest der junge Mensch, auf den sich die den Personensorgeberechtigten gewährte Hilfe zur Erziehung beziehe, sich im Ausland befinde. Dafür spreche zunächst die Entstehungsgeschichte der Norm sowie der korrespondierenden Regelungen zur sachlichen und örtlichen Zuständigkeit. In der Begründung des Gesetzentwurfs zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (BT-Drucks. 11/5948, S. 50), in den diese Regelung als § 5 Abs. 3 erstmalig aufgenommen worden sei, sei hierzu ausgeführt worden, dass das bisherige Recht (das Jugendwohlfahrtgesetz) keine Regelung über die Gewährung von Jugendhilfe für deutsche Kinder und Jugendliche im Ausland enthalte. Die Vorschrift knüpfe an den Grundgedanken des § 119 BSHG an. Dies verdeutliche, dass der Gesetzgeber den Begriff der Leistungsgewährung in § 6 Abs. 3 SGB VIII nicht in einem engeren rechtstechnischen Sinne verwendet habe, sondern dass damit die Befriedung eines im Ausland bestehenden materiellen Hilfebedarfs gemeint sei. Der materielle Hilfebedarf liege aber auch bei der Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27 ff. SGB VIII nicht nur bei den Personensorgeberechtigten, sondern auch und zuvorderst bei dem betroffenen Kind. Um dessen Rechte aus § 1 Abs. 1 SGB VIII willen seien die Ansprüche in den §§ 27 ff. SGB VIII ausgestaltet. Diese Interpretation des § 6 Abs. 3 SGB VIII werde gestützt durch die Regelungen zur sachlichen Zuständigkeit, wie sie in der ursprünglichen Gesetzesfassung formuliert gewesen seien. Dort habe es in § 80 Abs. 2 Nr. 10 KJHG- E, der Vorgängervorschrift zu § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII, geheißen, das Landesjugendamt sei sachlich zuständig für Leistungen für Deutsche außerhalb des (räumlichen) Geltungsbereichs des Gesetzes (BT-Drucks. 11/5948, S. 26). Der Begriff der "Gewährung" sei erst mit dem 1. Änderungsgesetz zum SGB VIII im Jahr 1993 und nach der Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drucks. 12/2866, S. 20) aus redaktionellen Gründen in diese Zuständigkeitsnorm eingefügt worden. Auch der gleichzeitig erfolgte Austausch des Wortes "für" durch das Wort "an" habe rein redaktionelle Gründe gehabt. Eine einschränkende Interpretation des § 6 Abs. 3 SGB VIII liege auch aus systematischer Sicht nahe. Das Gesetz weise die Bearbeitung von jugendhilferechtlichen Einzelfällen aus dem nahe liegenden Grund der größeren Sach- und Ortsnähe grundsätzlich und vorrangig den örtlichen Jugendhilfeträgern zu. Zuständigkeiten des überörtlichen Trägers der Jugendhilfe begründe das Gesetz demgegenüber nur für übergeordnete, nicht einen Einzelfall betreffende Aufgaben sowie - insoweit als Ausnahme - für die Fälle des § 6 Abs. 3 SGB VIII. Letzteres finde seine Rechtfertigung in systematischer Hinsicht aber nur darin, dass für die sachgerechte Bearbeitung eines solchen Einzelfalls kein örtlicher Jugendhilfeträger zur Verfügung stehe, weil auch bzw. jedenfalls das betroffene Kind sich nicht im Geltungsbereich des Gesetzes und damit außerhalb der örtlichen Zuständigkeit eines örtlichen Jugendhilfeträgers aufhalte. Befinde sich demgegenüber zumindest das Kind in Deutschland, bestünden grundsätzlich keine Schwierigkeiten, den zuständigen örtlichen Jugendhilfeträger gemäß §§ 86 ff. SGB VIII zu bestimmen. Schließlich spreche auch der Wortlaut des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für eine einschränkende Interpretation des § 6 Abs. 3 SGB VIII. Denn in § 88 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII werde die örtliche Zuständigkeit eines überörtlichen Jugendhilfeträgers ausschließlich an den Geburtsort des jungen Menschen geknüpft. Dafür gäbe es aber keinen sachlichen Grund, wenn als Empfänger der "Leistungsgewährung" allein der Personensorgeberechtigte anzusehen wäre. Dann hätte es angesichts der sonstigen Systematik der Zuständigkeitsbestimmungen in §§ 86 ff. SGB VIII viel näher gelegen, vorrangig an dessen letzten gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland anzuknüpfen. Darüber hinaus sei der Beklagte auch nicht örtlich zuständig. Denn wäre hier eine sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers gegeben, dann wäre das Land Berlin nach§ 88 Abs. 1 SGB VIII örtlich zuständig, weil das Kind im Ausland geboren sei.

12

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung der Kläger, zu deren Begründung sie im Wesentlichen vortragen, dass der Beklagte sachlich zuständig sei, weil § 6 Abs. 3 SGB VIII lediglich darauf abstelle, ob der Leistungsberechtigte sich im Ausland aufhalte, was hier der Fall sei. Denn Inhaber des Anspruchs auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII seien die personensorgeberechtigten Eltern. Diese seien daher diejenigen, denen im Sinne des § 6 Abs. 3 SGB VIII die Hilfe zur Erziehung gewährt werde. Dabei handele es sich um eine "Leistung an Deutsche" im Sinne des § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII. Insofern würde auch nichts anderes gelten, wenn es dort "Leistungen für Deutsche" heißen würde, wie dies in § 80 Abs. 2 Nr. 10 KJHG-E formuliert gewesen sei. Der Gesetzgeber habe dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe die Gewährung von Leistungen nach § 6 Abs. 3 SGB VIII deshalb anvertraut, weil beispielsweise die Überprüfung der Bedürftigkeit der Leistungsberechtigten im Ausland sich häufig schwierig gestalte. Die Voraussetzungen für die begehrte Hilfe zur Erziehung seien hier gegeben. Ein erzieherischer Bedarf liege vor, da sie selbst zu einer am Kindeswohl orientierten Erziehung ihres Kindes nicht in der Lage seien. Eine Versorgung des Kindes durch die Klägerin zu 2. scheide schon deshalb aus, weil das Kind weder die amerikanische Staatsbürgerschaft noch ein Aufenthaltsrecht für die USA besitze. Die Klägerin zu 2. leide zudem unter Depressionen und sei daher nicht in der Lage, sich neben ihrem Sohn auch noch um die Tochter zu kümmern. Darüber hinaus verfüge sie über kein reguläres Einkommen und habe daher auch nicht die finanziellen Mittel, ihre Tochter zu versorgen. Der Kläger zu 1. sei zur Betreuung des Kindes ebenfalls nicht in der Lage. Er sei von Beruf Unternehmensberater und Betriebswirt und befinde sich ständig auf Geschäftsreisen im asiatischen Raum, könne aber eine Betreuung der Tochter während dieser Reisen nicht finanzieren, da sein Einkommen hierfür nicht ausreiche. Es sei ihm auch nicht möglich, Hilfen zur Erziehung für das Kind in Japan zu erhalten.

13

Die Kläger hatten zunächst sinngemäß beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Berichterstatter der 3. Kammer - vom 20. Januar 2009 zu ändern, den Bescheid des Beklagten vom 5. Februar 2008 aufzuheben und ihn zu verpflichten, ihnen ab dem 19. September 2005, hilfsweise ab dem 3. August 2006, Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 33, 39 SGB VIII in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

14

Auf die Verfügung des Berichterstatters des Senats vom 11. März 2011, mit der dieser die Kläger u.a. darauf hingewiesen hatte, dass der Kläger zu 1. im Hinblick auf das dem Beklagten nach § 6 Abs. 3 SGB VIII zustehende Ermessen nur eine Neubescheidung seines Hilfeantrages verlangen und die Klägerin zu 2. als Ausländerin mangels Vorliegen der Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII Leistungen nach dem SGB VIII nicht beanspruchen könne, hat die Klägerin zu 2. ihre Berufung insgesamt zurückgenommen und hat der Kläger zu 1. seine Berufung teilweise zurückgenommen.

15

Der Kläger zu 1. beantragt nunmehr sinngemäß,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Berichterstatter der 3. Kammer - vom 20. Januar 2009 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Februar 2008 zu verpflichten, über seinen Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung in der Form der Zahlung eines Pflegegeldes für die Betreuung seiner Tochter bei seinen Eltern vom 3. August 2006 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts neu zu entscheiden.

16

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

und nimmt zur Begründung Bezug auf die Gründe des angefochtenen Urteils des Verwaltungsgerichts und sein erstinstanzliches Vorbringen.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen.

18

II.

Das Berufungsverfahren ist mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 2 VwGO einzustellen, soweit die Klägerin zu 2. ihre Berufung insgesamt und der Kläger zu 1. seine Berufung teilweise zurückgenommen hat.

19

Im Übrigen hat die Berufung des Klägers zu 1., soweit er die Neubescheidung seines Antrags auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung in der Form eines Pflegegeldes für die Betreuung seiner Tochter bei seinen Eltern vom 3. August 2006 begehrt, Erfolg.

20

Diese Entscheidung trifft der Senat nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130 a Satz 1 VwGO durch Beschluss, weil er die Berufung insoweit einstimmig für begründet und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren nicht für erforderlich hält.

21

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form eines "Pflegegeldes" nach §§ 27, 33, 39, 6 Abs. 3 SGB VIII an den im Ausland lebenden Kläger zu 1. für die Betreuung seines Kindes bei dessen in Deutschland lebenden Großeltern sind gegeben.

22

Im vorliegenden Fall ist eine Erziehung des Kindes außerhalb des Elternhauses gemäß § 27 Absätze 1, 2 und 2 a SGB VIII in Gestalt der Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII, für die der personensorgeberechtigte Kläger zu 1. nach § 39 Abs. 1 SGB VIII die Sicherstellung des notwendigen Unterhalts des bei seinen Eltern, also in einer anderen Familie im Sinne des§ 33 SGB VIII untergebrachten Kindes in Form eines "Pflegegeldes" beantragt hat, erforderlich, da eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung durch die Kläger nicht gewährleistet und die Hilfe für die Entwicklung des Kindes geeignet und notwendig ist. Denn die Klägerin zu 2., die die japanische Staatsangehörigkeit besitzt, unter Depressionen leidet und sich in psychiatrischer Behandlung befindet, hat sich ihren Erziehungsaufgaben dadurch entzogen, dass sie dem Kläger zu 1. das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Ausübung der tatsächlichen Sorge um das Kind im vollen Umfang überlassen hat und mit ihrem Sohn aus einer früheren Beziehung in die USA verzogen ist. Der Kläger zu 1. ist nicht in der Lage, das Kind allein zu erziehen, da er nach seinen nachvollziehbaren, durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung vom 31. Mai 2007 glaubhaft gemachten und durch die Angaben seiner Eltern gegenüber dem Jugendamt des Landkreises C. Anfang August 2006 bestätigten Angaben als Unternehmensberater keine regelmäßigen bzw. zeitweise keine Einkünfte erzielt, ständig auf Geschäftsreisen zwischen Japan, China, Korea und anderen Staaten im asiatischen Raum unterwegs ist und in Japan mit zwei Kollegen in einer Wohngemeinschaft zusammen lebt.

23

Der Hilfegewährung steht nach § 27 Abs. 2 a Halbsatz 1 SGB VIII auch nicht entgegen, dass die Eltern des Klägers zu 1. gegenüber dem Kind möglicherweise ebenfalls unterhaltspflichtig sind. Die in diesem Fall nach § 27 Abs. 2 a Halbsatz 2 SGB VIII bestehende weitere Voraussetzung für die Hilfegewährung, dass die anderen unterhaltspflichtigen Personen bereit und geeignet sind, den Hilfebedarf in Zusammenarbeit mit dem Jugendhilfeträger zu decken, ist nach den Feststellungen des Jugendamtes des Landkreises C. Anfang August 2006 erfüllt, da die zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt offenbar bereiten pensionierten Großeltern die Erziehung des Kindes vollständig übernommen haben, den Tagesablauf des Kindes wie bei einem eigenen Kind organisieren und Zweifel an ihrer Eignung zur Erziehung des Kindes nicht ersichtlich sind.

24

Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 3 SGB VIII, wonach Deutschen Leistungen nach dem SGB VIII gewährt werden können, wenn sie ihren Aufenthalt im Ausland haben und soweit sie nicht Hilfe vom Aufenthaltsland erhalten, sind ebenfalls erfüllt.

25

Denn zum einen ist nachvollziehbar und glaubhaft, dass der Kläger zu 1., der seit Jahren in Japan lebt, also dort seinen Aufenthalt hat, in Japan keine entsprechende Hilfe erhält. Zum anderen ist der Kläger zu 1. auch derjenige, dem die begehrte Hilfeleistung im Falle einer positiven Ermessensentscheidung der Beklagten im Sinne des § 6 Abs. 3 SGB VIII gewährt würde.

26

Daraus ergibt sich zugleich, dass der Beklagte als überörtlicher Jugendhilfeträger für die Gewährung dieser Hilfe gemäß § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII auch sachlich zuständig ist. Denn nach dem eindeutigen Wortlaut des § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII ist der überörtliche Träger sachlich zuständig für die Gewährung von Leistungen an Deutsche im Ausland nach § 6 Abs. 3 SGB VIII, soweit es sich nicht um die Fortsetzung einer bereits im Inland gewährten Leistung handelt, was hier nicht der Fall ist.

27

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 12.9.1996 - 5 C 31.95 -, FEVS 47, 433) und des Senats (Beschluss vom 28.2.2011 - 4 LC 280/09 -) ist der personensorgeberechtigte Elternteil und nicht dessen Kind Inhaber eines Anspruchs auf Leistungen zum Unterhalt seines bei den Großeltern in Vollzeitpflege lebenden Kindes nach§§ 27, 33, 39 SGB VIII. Denn der Anspruch auf Leistungen zum Unterhalt eines Kindes in Vollzeitpflege steht als "Annex-Anspruch" zu dem Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, dessen Inhaber nach der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung des § 27 Abs. 1 SGB VIII der Personensorgeberechtigte ist, ebenfalls dem Personensorgeberechtigten, nicht aber dem Kind bzw. dem Jugendlichen als dem auf Unterhalt Angewiesenen zu. Zwar kommen auch Kinder als Leistungsberechtigte nach dem SGB VIII in Betracht (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Soweit aber im SGB VIII der Anspruchsberechtigte nicht ausdrücklich angegeben ist, ist zu berücksichtigen, dass Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind (§ 1 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts liegt der "materielle Hilfebedarf "bei der Hilfe zur Erziehung daher vor allem auch bei den Eltern. Deshalb stehen auch die Leistungen, die wie die Leistungen zum Unterhalt die Hilfe zur Erziehung ergänzen sollen, mangels einer anderweitigen ausdrücklichen Zuweisungsnorm ebenfalls den Personensorgeberechtigten zu (BVerwG, Urteil vom 12.9.1996, a.a.O.).

28

Diese Hilfeleistung würde folglich im Falle einer positiven Ermessensentscheidung im Sinne der §§ 6 Abs. 3, 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII dem im Ausland lebenden Kläger zu 1. bzw. "an" diesen gewährt.

29

Eine Auslegung der §§ 85 Abs. 2 Nr. 9, 6 Abs. 3 SGB VIII dahin gehend, dass diese Regelungen nur dann zur Anwendung gelangen, wenn nicht nur der Leistungsberechtigte, sondern (auch) das Kind im Ausland lebt (diese Auffassung vertreten u.a. Wiesner, SGB VIII, § 6 Rn. 54; Jans/Happe/Saurbier, Kinder- und Jugendhilferecht, § 6 Rn. 140), kommt angesichts des eindeutigen Wortlauts der Vorschriften, die nur auf den Auslandsaufenthalt des Leistungsberechtigten abstellen, nicht in Betracht und ist im Übrigen auch nach der Entstehungsgeschichte (1.), dem Sinn und Zweck dieser Regelungen (2.) und der gesetzlichen Systematik (3.) nicht geboten.

30

1.

Aus der Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Regelungen zur sachlichen Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers im Falle der Auslandshilfe ergibt sich Folgendes:

31

In dem Entwurf der Bundesregierung eines Kinder- und Jugendhilfegesetzes - KJHG - vom 1. Dezember 1989 (BT-Drucks. 11/5948) war für die Regelung der sachlichen Zuständigkeit des Landesjugendamtes in den Fällen der Auslandshilfe in § 80 Abs. 2 Nr. 10 KJHG-E die Formulierung "Leistungen für Deutsche außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzbuchs" gewählt worden. Diese Formulierung ist später in § 89 Abs. 2 Nr. 9 des SGB VIII in der Ursprungsfassung vom 26. Juni 1990 (BGBl. I S. 1163) übernommen worden. Daraus kann aber entgegen der Meinung des Verwaltungsgerichts nicht der Schluss gezogen werden, dass der überörtliche Träger der Jugendhilfe in diesen Fällen nur dann sachlich zuständig gewesen ist, wenn zumindest auch das Kind, dem die Jugendhilfeleistung letztlich zu Gute kommt, sich im Ausland aufgehalten hat. Denn auch hinsichtlich der Frage, "für" wen Jugendhilfeleistungen gewährt werden, kommt es nicht darauf an, wem die Leistung unmittelbar oder mittelbar zu Gute kommt, sondern wer nach dem Gesetz anspruchsberechtigt ist. Daher sind nicht nur die dem im Ausland lebenden, nach dem SGB VIII a.F. anspruchsberechtigten Kind oder Jugendlichen gewährten Jugendhilfeleistungen, sondern auch die Leistungen zum Unterhalt eines bei den Großeltern in Deutschland im Rahmen der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege befindlichen Kindes, die dem im Ausland lebenden deutschen Personensorgeberechtigten des Kindes gewährt worden sind, "Leistungen für Deutsche außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzbuchs" gewesen, nämlich Leistungen für den nach dem SGB VIII a.F. Anspruchsberechtigten, der seinen Aufenthalt im Ausland gehabt hat und dessen Hilfebedarf (bei der Hilfe zur Erziehung nach § 27 Abs. 1 SGB VIII das Defizit bei der Erziehung, die nach § 1 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII das Recht und die Pflicht der Eltern ist) mit diesen Leistungen gedeckt worden ist. Aus den unterschiedlichen Formulierungen "Leistungen für Deutsche außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzbuchs" (§ 89 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII a.F.) und "Gewährung von Leistungen an Deutsche im Ausland" (geltende Fassung des § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII) können daher keine Anhaltspunkte für eine maßgeblich auf den Aufenthalt des Kindes im Ausland abstellende Auslegung des § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII entgegen seinem Wortlaut gewonnen werden.

32

Aus diesem Grunde ist es für die Auslegung des § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts auch nicht erheblich, dass in der Begründung des Entwurfs der Bundesregierung eines ersten Änderungsgesetzes zum SGB VIII vom 21. April 1992 (BT-Drucks. 12/2866), mit dem § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII seine heutige Gestalt mit der Formulierung "Gewährung von Leistungen an Deutsche im Ausland" erhalten hat, hinsichtlich dieser Neuformulierung nur von "redaktionellen Änderungen" die Rede ist, wenn es dort heißt: "Abgesehen von redaktionellen Änderungen entspricht die Vorschrift im übrigen" (soweit nicht die Bezeichnungen "Jugendamt" bzw. "Landesjugendamt" durch die Bezeichnungen "örtlicher Träger" bzw. "überörtlicher Träger" ersetzt worden sind) "der bisher geltenden Fassung von § 89" (BT-Drucks. 12/2866, Seite 20).

33

Darüber hinaus zeigt auch die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum KJHG vom 1. Dezember 1989 (BT-Drucks. 11/5948), dass den oben wieder gegebenen unterschiedlichen Formulierungen der sachlichen Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers im Falle der Auslandshilfe keine Bedeutung für die Auslegung des geltenden § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII beizumessen ist, da dort in der Begründung des § 80 Abs. 2 Nr. 10 KJHG-E von der "Zuständigkeit für Leistungen an Deutsche" die Rede ist (BT-Drucks. 11/5948, S. 107), die Formulierungen "Leistungen für Deutsche" (Gesetzentwurfstext) und "Leistungen an Deutsche" (Entwurfsbegründung) folglich nach Belieben verwandt worden sind, ohne von inhaltlichen Unterschieden auszugehen.

34

Soweit in der Begründung dieses Gesetzentwurfs zu der § 6 Abs. 3 SGB VIII entsprechenden Regelung des § 5 Abs. 3 KJHG-E ferner davon die Rede ist, dass das (bisherige) Jugendwohlfahrtsgesetz keine Regelung über die "Gewährung von Jugendhilfe für deutsche Kinder und Jugendliche außerhalb des Geltungsbereiches des Gesetzes" enthalte (BT-Drucks. 11/5948, S. 50), ist damit lediglich der wohl häufigste Anwendungsfall der §§ 5 Abs. 3, 80 Abs. 2 Nr. 10 KJHG-E / §§ 6 Abs. 3, 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII des sich im Ausland aufhaltenden und dort Kinder- oder Jugendhilfe erhaltenden Kindes oder Jugendlichen angesprochen worden und finden sich dort im Übrigen auch keine Hinweise darauf, dass diese Regelungen ausschließlich in diesem Fall greifen sollen. Auch hieraus ergeben sich deshalb keine hinreichenden Anhaltspunkte für die vom Verwaltungsgericht angenommene einschränkende Auslegung des Anwendungsbereichs der §§ 6 Abs. 3, 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII.

35

2.

Der Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelungen zur sachlichen Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers im Falle der Auslandshilfe spricht ebenfalls nicht für eine Auslegung des 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII entgegen seinen Wortlaut.

36

Auch wenn gerade in dem Falle des sich im Ausland aufhaltenden und dort Kinder- oder Jugendhilfe (etwa Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII) erhaltenden Kindes oder Jugendlichen die Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers wegen des (völlig) fehlenden Bezugs zum örtlichen Träger sinnvoll und dies wohl auch der Hauptanwendungsfall der §§ 85 Abs. 2 Nr. 9, 6 Abs. 3 SGB VIII ist, sind auch unter dem Gesichtspunkt von Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelungen keine Gesichtspunkte erkennbar, die einer Anwendung der §§ 85 Abs. 2 Nr. 9, 6 Abs. 3 SGB VIII auch in dem Fall der Gewährung von Hilfe zur Erziehung an den (ohne sein Kind) im Ausland lebenden Personensorgeberechtigten entgegenstehen. Dies gilt umso mehr deshalb, weil eine Zuständigkeit des überörtlichen Trägers in diesem Fall sowohl im Hinblick darauf, dass bei der Entscheidung über die Hilfegewährung gerade (auch) die Person des im Ausland lebenden anspruchsberechtigten Personensorgeberechtigten in den Blick zu nehmen und zu prüfen ist, inwieweit dieser in der Lage ist, eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung zu gewährleisten (§ 27 Abs. 1 SGB VIII), als auch wegen der praktischen Schwierigkeiten bei der Abwicklung des Hilfefalles gegenüber dem im Ausland lebenden Anspruchsberechtigten zweifelsohne sachgerecht ist und daher dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelungen über die Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers durchaus entspricht.

37

3.

Schließlich können auch aus der Gesetzessystematik, insbesondere aus dem Verhältnis der gesetzlichen Regelungen zur sachlichen Zuständigkeit der Jugendhilfeträger einerseits und zu deren örtlichen Zuständigkeit andererseits, keine Anhaltspunkte für eine einschränkende Auslegung des die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers im Falle der Leistungsgewährung an Deutsche im Ausland begründenden § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII entgegen seinem Wortlaut hergeleitet werden.

38

Denn zum einen ist die Beantwortung der Frage der sachlichen Zuständigkeit, die im 1. Abschnitt des 7. Kapitels des SGB VIII geregelt ist, grundsätzlich zu trennen von der Beantwortung der Frage der örtlichen Zuständigkeit, die im nachfolgenden 2. Abschnitt des 7. Kapitels des SGB VIII geregelt ist.

39

Zum anderen besteht hier aber auch keine Diskrepanz zwischen den Regelungen über die sachliche Zuständigkeit einerseits und die örtliche Zuständigkeit der Jugendhilfeträger andererseits, wenn § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII entsprechend seinem Wortlaut auch in dem Fall der Gewährung von Hilfe zur Erziehung an den (ohne sein Kind) im Ausland lebenden Personensorgeberechtigten angewandt wird.

40

In der die örtliche Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers im Falle einer Auslandshilfe regelnden Vorschrift des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist zwar von der Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe im Ausland die Rede. Auch stellt diese Regelung bei der Bestimmung des zuständigen überörtlichen Jugendhilfeträgers auf den Geburtsort des Kindes im Inland ab und begründet § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII die Zuständigkeit des Landes Berlin für den Fall, dass der Geburtsort des Kindes im Ausland liegt, was nur dann sinnvoll ist, wenn (auch) das Kind sich im Ausland aufhält. Dies gibt aber keine Veranlassung, die Regelung der sachlichen Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers im Falle der Auslandshilfe in § 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII dahingehend auszulegen, dass diese Vorschrift nur in dem Falle des Auslandsaufenthalts (auch) des Kindes anzuwenden ist, weil § 88 SGB VIII keine abschließende Regelung der örtlichen Zuständigkeit für sämtliche Leistungen der Jugendhilfe mit Auslandsbezug ist.

41

§ 88 SGB VIII befindet sich zwar in einem eigenen Unterabschnitt des die örtliche Zuständigkeit regelnden 2. Abschnitts des 7. Kapitels des SGB VIII, ist seinem Inhalt nach jedoch im Verhältnis zur allgemeinen Zuständigkeitsregelung des§ 86 SGB VIII eine Auffangregelung, die nur dann greift, wenn kein nach § 86 SGB VIII in Betracht kommender Anknüpfungspunkt in Deutschland vorhanden und eine Zuständigkeitsbestimmung nach dieser allgemeinen Zuständigkeitsregelung daher nicht möglich ist (so auch Frankfurter Kommentar, SGB VIII, § 88 Rn. 2; Wiesner, SGB VIII, § 88 Rn. 3; a.A.: Schellhorn, SGB VIII, § 88 Rn. 5). In diesem Fall ist die Anknüpfung an den Geburtsort des Kindes oder Jugendlichen in § 88 Abs. 1 SGB VIII auch sinnvoll, da ein anderweitiger örtlicher Bezug innerhalb Deutschlands völlig fehlt. Ist jedoch ein nach § 86 SGB VIII beachtlicher Anknüpfungspunkt in Deutschland vorhanden, kommt § 88 SGB VIII von vornherein nicht zur Anwendung und ergäbe eine Bestimmung der Zuständigkeit nach dieser Vorschrift im Übrigen auch keinen Sinn.

42

Daraus ergibt sich für den vorliegenden in die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers nach§ 85 Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII fallenden Fall, in dem der anspruchsberechtigte Personensorgeberechtigte sich im Ausland, das Kind sich aber im Inland aufhält, dass die örtliche Zuständigkeit des überörtlichen Jugendhilfeträgers nach der allgemeinen Zuständigkeitsregelung des § 86 SGB VIII zu bestimmen ist. § 86 SGB VIII regelt nach seinem Wortlaut zwar nur die örtliche Zuständigkeit des örtlichen Jugendhilfeträgers (auch wenn seine Überschrift "örtliche Zuständigkeit für Leistungen an Kinder, Jugendliche und ihre Eltern" eine dahingehende Einschränkung nicht enthält). Die sich dadurch ergebende Regelungslücke ist aber durch eine entsprechende Anwendung des§ 86 SGB VIII zu schließen, die angesichts der örtlichen Nähe des überörtlichen Jugendhilfeträgers, in dessen Zuständigkeitsbereich das Kind sich aufhält, auch sachgerecht ist.

43

Hier ist der Beklagte für die Hilfegewährung aufgrund einer entsprechenden Anwendung des § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII, wonach die Zuständigkeit sich u.a. dann, wenn die Eltern im Inland keinen gewöhnlichen Aufenthalt haben, nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen vor Beginn der Leistung richtet, örtlich zuständig. Denn die Kläger haben im Inland keinen gewöhnlichen Aufenthalt und der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes war bereits vor der Antragstellung und damit vor dem möglichen Beginn der Leistung in Niedersachsen.

44

Dass der Kläger zu 1. den Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form eines Pflegegeldes für die Betreuung seines Kindes bei seinen Eltern am 3. August 2006 beim unzuständigen Landkreis C. gestellt hat, ist für die Hilfegewährung unerheblich, da nach § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I ein bei einem unzuständigen Leistungsträger gestellter Antrag unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten ist, was hier kurze Zeit nach dem Beschluss des Senats vom 2. August 2007 (4 ME 622/07), in dem auf die Unzuständigkeit des örtlichen Jugendhilfeträgers hingewiesen worden war, geschehen ist. Nach § 16 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Satz 1 SGB I gilt der Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er beim Landkreis C. eingegangen war.

45

Der Kläger zu 1. kann jedoch nur eine Neubescheidung dieses Hilfeantrages verlangen, da hier nach dem oben Gesagten zwar die Voraussetzungen für eine Hilfegewährung erfüllt sind, die Hilfeleistung an Deutsche im Ausland aber nach § 6 Abs. 3 SGB VIII im Ermessen steht und keine Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegen.