Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.06.2023, Az.: 10 LB 5/23

Auflösungsverfügung; Identitätsfeststellung; Platzverweis; Spontanversammlung; Versammlung; Versammlung: Auflösung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
20.06.2023
Aktenzeichen
10 LB 5/23
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 24915
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0620.10LB5.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 06.10.2021 - AZ: 5 A 180/20

Fundstelle

  • DÖV 2023, 869

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Erst nach der Auflösung einer Versammlung können auf das allgemeine Polizeirecht gestützte Maßnahmen gegen die (ehemaligen) Versammlungsteilnehmer ergehen.

  2. 2.

    § 2 Abs. 4 CoronaSchVO ND in der bis zum 7. Juni 2020 geltenden Fassung war verfassungskonform so auszulegen, dass dieser kein generelles Versammlungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt für Spontanversammlungen regelte.

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 5. Kammer - vom 6. Oktober 2021 geändert und festgestellt, dass die Beendigung der Spontandemonstration, an welcher der Kläger teilgenommen hat, an der Ecke Rothenfelder Straße/Am Mühlenweg am 2. Juni 2020, das Festhalten des Klägers an diesem Tag über circa 50 Minuten, die Personalien-Feststellung bei ihm sowie der ihm am 2. Juni durch die Beklagte erteilte Platzverweis für das gesamte Stadtgebiet Wolfsburg rechtswidrig waren.

Die Beklagte trägt 5/6 und der Kläger 1/6 der Kosten beider Instanzen.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit verschiedener polizeilicher Maßnahmen im Zusammenhang mit Ereignissen am 2. Juni 2020 in Wolfsburg in der Nähe des Amtsgerichts.

Am 2. Juni 2020 wurde vor dem Amtsgericht Wolfsburg eine Strafsache verhandelt, die die Blockade des Schienenverkehrs zum Volkswagenwerk in Wolfsburg am 13. August 2019 im Rahmen der so genannten "Klimaproteste" betraf. Die Anzahl der erlaubten Zuschauer war auf Grund der zu diesem Zeitpunkt gültigen Niedersächsischen Verordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus vom 8. Mai 2020 (im Folgenden Corona-VO) auf vier Personen beschränkt. Nach den Feststellungen der Beklagten war im Internet zu Protest-Aktionen anlässlich dieser Verhandlung aufgerufen worden.

Eine angemeldete Versammlung (V1) zum Thema "Verkehrswende", an welcher der Kläger und weitere 21 Personen teilnahmen, zog am 2. Juni 2020 nach einer Auftaktkundgebung am Bahnhof Wolfsburg begleitet durch die Polizei und zwei Mitarbeiter des Ordnungsamts der Stadt Wolfsburg etwa um 10:19 Uhr vom Bahnhof zum Amtsgericht. In diesem Zusammenhang wurden vier Personen von der Polizei festgehalten, in deren Rucksäcken sich Kletterutensilien befanden. Die Polizeibeamten nahmen an, dass die Betreffenden geplant hatten, sich von der Stadtbrücke vor dem Volkswagenwerk abzuseilen. Nach einer Abschlusskundgebung auf der Rasenfläche vor dem Amtsgericht wurde V1 um 11:07 Uhr durch den Versammlungsleiter beendet. Die Versammlungsteilnehmer entfernten sich danach nicht. Zwischen den Beteiligten ist insoweit streitig, ob es zu einer weiteren Versammlung (V2) gekommen ist. Nach einem polizeilichen Einsatzbericht (Bl. 71 ff. der Gerichtsakte) versuchten einige Personen, ein Plakat am Eingang des Amtsgerichts anzubringen, wurden hiervon jedoch durch Polizeibeamte abgehalten. Eine weitere Person bemalte die Straße vor dem Amtsgericht mit Kreide. Gegen 12:00 Uhr meldete der Kläger eine weitere Versammlung (V3) bei Polizeihauptkommissar F. an. Hierbei gab er an, auf dem Vorplatz des Amtsgerichts gegen die Begrenzung des Zutritts zu der Gerichtsverhandlung demonstrieren zu wollen. Nach Rücksprache mit den anwesenden Vertretern des Ordnungsamts der Stadt Wolfsburg wurden dem Kläger folgende Auflagen bekannt gegeben:

- Die Versammlung habe auf der dem Amtsgericht gegenüberliegenden Seite der Rothenfelder Straße auf dem Gehweg vor dem Gebäude Nr. 38 bis zur Ecke an der Straße am Mühlengraben stattzufinden, wobei der Fußgängerverkehr zu gewährleisten sei.

- Ein Mindestabstand von 1,5 m sei zueinander einzuhalten. Bei Unterschreiten des Abstands solle ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden.

Daraufhin begab sich der Kläger zusammen mit fünf weiteren Personen zu dem ihm mitgeteilten Versammlungsort auf der gegenüberliegenden Seite der Rothenfelder Straße. Von dort aus forderte der Kläger ausweislich des Einsatzberichts von Polizeihauptkommissar F. die noch auf dem Vorplatz des Amtsgerichts befindlichen Personen auf, ebenfalls zu dem zugewiesenen Versammlungsort zu kommen. Nachdem unter den noch auf dem Vorplatz des Amtsgerichts befindlichen Personen bekannt wurde, dass vier Aktivisten im Zusammenhang mit einer geplanten Kletteraktion verhaftet wurden, betraten nach Angaben des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung einige dieser Personen die Rothenfelder Straße, um in Richtung des Orts der Festnahme zu gehen. Als der Kläger bemerkte, dass sich die Personen auf der Straße nicht seiner Kundgebung anschließen wollten, sondern ein anderes Ziel hatten, beendete er um 12:21 Uhr die von ihm initiierte V3 durch eine Lautsprecherdurchsage, um sich seinerseits den Personen auf der Rothenfelder Straße anzuschließen. In der Folge formierte sich auf der Rothenfelder Straße ein Aufzug, dessen Spitze aus fünf Personen bestand, die ein circa 6 m langes und 1,50 m hohes Transparent mit der Aufschrift

"Nieder mit dem motorisierten Individualverkehr Fahrräder und Trams auf die Straße Autos in die Geschichtsbücher"

hielten. Dem Banner folgten weitere wenige Personen einschließlich - mit etwas Abstand - des Klägers. Der Aufzug bewegte sich auf der rechten Fahrbahnseite der vierspurigen Rothenfelder Straße Richtung Berliner Ring. Der Fahrzeugverkehr wurde hierdurch zum Stillstand gebracht. Einsatzkräfte der Polizei stoppten die Teilnehmer mit dem Transparent vor der Grünfläche hinter der Einmündung der Straße am Mühlengraben in die Rothenfelder Straße. Sämtliche auf der Straße befindlichen Personen wurden per Lautsprecher aufgefordert, die Fahrbahn zu verlassen. Dabei wies die Polizei darauf hin, dass Ordnungswidrigkeiten nach der Corona-VO in Bezug auf das Ansammlungsverbot sowie Verstöße gegen § 25 StVO begangen worden seien. Die Personalien würden nunmehr festgestellt. Der Kläger befolgte die Weisung sofort. Als insbesondere die Teilnehmer mit dem Transparent der Aufforderung nicht Folge leisteten, drängten Polizeikräfte diese in den Bereich des Rad- und Gehweges bzw. des Straßenbegleitgrüns, wobei zwei Personen, die sich auf die Fahrbahn neben den Bordstein gesetzt hatten, in den Seitenbereich gezogen wurden. Das Abdrängen von der Straße fand zwischen 12:25 Uhr und 12:30 Uhr statt.

In der Folge umstellten Polizeikräfte 18 Personen einschließlich des Klägers im Bereich der Grünfläche und des Geh- und Radwegs an der Rothenfelder Straße zur Identitätsfeststellung. Diese wurde vollzogen, indem ein Teilnehmer nach dem anderen von zwei Beamten aus der umstellten Fläche heraus begleitet und zu einem Fahrzeug zur Aufnahme der Personalien geführt wurde. Sämtliche Personen, die keinen Wohnsitz in der Stadt Wolfsburg hatten, erhielten einen Platzverweis nach § 17 Abs. 1 Satz 1 NPOG mit der Verpflichtung, das Stadtgebiet Wolfsburg zu verlassen und bis 24:00 Uhr nicht wieder zu betreten. Die Feststellung der Identität des Klägers erfolgte um 13:14 Uhr - mithin etwa 50 Minuten nach der Umstellung. Neben dem mündlich erteilten Platzverweis erhielt er einen ausgefüllten Vordruck über die Maßnahme mit einer Karte des betroffenen Bereichs der Wolfsburger Innenstadt. Der Kläger verließ daraufhin das Stadtgebiet.

Die Beklagte filmte das genannte Geschehen durch eine sogenannte Mastkamera auf einem Polizeifahrzeug sowie durch eine mobile Kamera. Auf die Anfertigung von Videoaufnahmen wurden die beteiligten Personen durch eine Lautsprecherdurchsage hingewiesen.

Am 2. Juli 2020 hat der Kläger Klage erhoben und im Wesentlichen vorgetragen, dass keine Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorgelegen hätten, die die beschränkende Verfügung bzgl. V3 hätten rechtfertigen können. Die vorherige Abschlusskundgebung, die nahezu personenidentisch mit der streitgegenständlichen Versammlung gewesen sei, sei störungsfrei verlaufen. In Bezug auf die anschließende Versammlung auf der Rothenfelder Straße sei keine Auflösungsverfügung ergangen, die Auflösung sei allein faktisch erfolgt, an keiner Stelle sei den Demonstranten sicher kommuniziert worden, dass sie nun nicht mehr unter dem Schutz des Versammlungsrechts ständen. Damit sei ein Rückgriff auf das Polizeirecht auf Grund der so genannten "Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts" ausgeschlossen. Der Polizeikessel sei auch in seiner Durchführung der Art und Weise nach rechtswidrig gewesen. Der Kessel sei immer enger gezogen worden, so dass es den Teilnehmern nicht mehr möglich gewesen sei, Abstände einzuhalten. Auf diese Weise sei die einzige erhöhte Infektionsgefahr im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Versammlungsgeschehen durch die Polizei geschaffen worden. Trotz der fehlenden Gefahrensituation für die öffentliche Sicherheit und Ordnung seien die Demonstrationsteilnehmer unablässig durch die Beklagte gefilmt worden, was auf Grund der einschüchternden Wirkung einen schwerwiegenden Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstelle. Die Personalien-Feststellung zur Gefahrenabwehr sei bereits deshalb rechtswidrig gewesen, weil das Versammlungsgesetz dafür keine rechtliche Grundlage biete. Da die Versammlung nicht aufgelöst gewesen sei, sei Polizeirecht nicht anwendbar gewesen. Auch der Platzverweis sei mangels Auflösung der Versammlung rechtswidrig. Darüber hinaus habe keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorgelegen. Ferner dürfte es auch nicht erforderlich gewesen sein, die Verweisung aus der ganzen Stadt anzuordnen, um die Begehung einer möglichen Ordnungswidrigkeit zu verhindern. Auch die zeitliche Ausdehnung des Platzverweises sei unangemessen.

Der Kläger hat beantragt,

  1. 1.

    Es wird festgestellt, dass die Beschränkung der von ihm angemeldeten Versammlung dahingehend, dass diese nicht wie angemeldet auf der Wiese vor dem Amtsgericht Wolfsburg, an vier Seiten umgrenzt durch die Straßen Rothenfelder Straße/Rothenfelder Markt, sondern auf der "gegenüberliegenden Straßenseite links bei dem Gebüsch auf dem Gehweg (an der Ecke Rothenfelder Straße/Am Mühlengraben) zu oder besser noch in der Grundstückseinfahrt, aber ohne den Autoverkehr, Fußgänger und Radfahrer zu behindern", also auf der anderen Straßenseite einer vierspurigen Hauptstraße stattzufinden habe, ca. 100 m entfernt, rechtswidrig war.

  2. 2.

    Es wird festgestellt, dass

    1. a)

      die Auflösung der Spontanversammlung, an welcher er teilgenommen habe, an der Ecke Rothenfelder Straße/Am Mühlengraben durch den Beklagten rechtswidrig war,

    2. b)

      die Freiheitsentziehung in einem sogenannten Polizeikessel über 50 Minuten rechtswidrig war,

    3. c)

      die Anfertigung von Filmaufnahmen der Spontandemonstration, an welcher er teilgenommen habe, rechtswidrig war,

    4. d)

      die Personalienfeststellung bei ihm rechtswidrig war und

    5. e)

      der Platzverweis für das gesamte Stadtgebiet Wolfsburg gegen ihn rechtswidrig war.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat bezüglich der Klageanträge zu 2. vorgetragen, dass sich der Kläger nicht auf das Versammlungsrecht berufen könne, da die gegen ihn gerichteten polizeilichen Maßnahmen erst nach der Auflösung der angemeldeten Versammlung V1 und Auflösung der Spontanversammlungen V2 und V3 (jeweils durch deren Versammlungsleiter) erfolgt seien. Bei der Personengruppe, die sich im Anschluss an diese Versammlungsauflösungen auf der zu diesem Zeitpunkt stark befahrenen Rothenfelder Straße befunden und eine Gefährdung des Individualverkehrs verursacht habe, habe es sich nicht um eine Versammlung gehandelt, ein versammlungsrechtlicher Charakter dieser Ansammlung sei für die Beamten nicht erkennbar gewesen. Es habe keine Versammlungsanzeige geben, auch sei kein Versammlungsleiter benannt worden. Das mitgeführte Banner sei thematisch der V1 zuzuordnen gewesen und bereits bei dieser mitgeführt worden. Die öffentliche Sicherheit sei durch den Eingriff in die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs und wegen der Gefährlichkeit des Begehens einer vielbefahrenen Straße unmittelbar gefährdet gewesen. Darüber hinaus hätten erhebliche Gefährdungen für die in der Ansammlung befindlichen Personen sowie Verstöße gegen § 25 StVO vorgelegen. Den beteiligten Personen sei über den Außenlautsprecher des Polizeifahrzeugs mitgeteilt worden, dass sie die Fahrbahn unverzüglich zu verlassen hätten und die Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form von einfacher körperlicher Gewalt angedroht worden, sollte dieser Aufforderung nicht Folge geleistet werden. Da die Personengruppe dieser Aufforderung nicht nachgekommen sei, sei diese durch Polizeikräfte auf den nahegelegenen Gehweg geschoben worden. Der Kläger sei jedoch gar nicht Adressat dieser Maßnahme gewesen, da er sich bereits auf dem Gehweg befunden habe. Auch wenn man von dem Vorliegen einer Spontanversammlung ausgehen würde, wären deren Beschränkung und anschließende Auflösung sowie die sich daran anschließenden Maßnahmen zur Identitätsfeststellung sowie Verhinderung weiterer Gefahren rechtmäßig. Der Platzverweis habe nicht das gesamte Stadtgebiet, sondern lediglich den Kernbereich der Stadt Wolfsburg mit ihren Hauptverkehrswegen umfasst, um diese störungsfrei zu halten und somit die vom Kläger auf Grund seines Vorverhaltens ausgehende Gefahr abzuwehren.

Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 6. Oktober 2021 festgestellt, dass die Beschränkung der durch den Kläger angemeldeten Versammlung (V3) durch Verlegung ihres Ortes von der Grünfläche vor dem Amtsgericht Wolfsburg auf den Gehweg vor dem Grundstück Rothenfelder Straße 38 rechtswidrig war und die Klage im Übrigen abgewiesen. Soweit es die Klage abgewiesen hat, hat das Verwaltungsgericht zur Begründung ausgeführt, dass die Auflösung der Spontandemonstration auf der Rothenfelder Straße rechtmäßig gewesen sei. Dabei könne die Frage offenbleiben, ob der Kläger sich bereits auf Grund von § 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 der hier einschlägigen Corona-VO einer rechtmäßigen Versammlung in Form eines Aufzuges von vornherein nicht habe anschließen können, da die Beklagte die Versammlung auf der Rothenfelder Straße jedenfalls in Anwendung von § 8 Abs. 2 Satz 1 NVersG zu Recht aufgelöst habe. Der versammlungsrechtliche Charakter des Geschehens auf der Rothenfelder Straße sei ungeachtet der Beendigung der Versammlung V3 ohne weiteres zu erkennen gewesen. Da die Versammlung bereits begonnen habe, sei die Beklagte hier nach § 24 Abs. 1 Nr. 2 NVersG zuständig gewesen. Die Durchführung der Versammlung habe die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet, weil die Versammlungsteilnehmer für die Beklagte überraschend eine erhebliche Gefahrenquelle durch das unvermittelte Betreten der zu dieser Zeit viel befahrenen Rothenfelder Straße geschaffen hätten. Um eine weitere Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer und der Versammlungsteilnehmer selbst zu verhindern, sei es nicht ausreichend gewesen, den Aufzug anzuhalten, sondern dieser habe die Fahrbahn wieder verlassen müssen. Die Gefahr für die öffentliche Sicherheit habe daher nicht anders als durch eine Auslösung der Versammlung abgewehrt werden können. Die Versammlungsteilnehmer hätten sich nicht kooperationsbereit gezeigt, sie hätten der Aufforderung, die Straße zu verlassen, nicht Folge geleistet und hätten teilweise durch unmittelbaren Zwang in den Bereich Geh- und Radweg/Straßenbegleitgrün gedrängt werden müssen. Ein Versammlungsleiter, der eine vermittelnde Rolle eingenommen hätte, sei nicht erkennbar gewesen. Dazu komme, dass die Demonstration unter den besonderen Einschränkungen der Corona-Pandemie stattgefunden habe, sodass die Eingriffsschwelle der Beklagten für eine Auflösung zusätzlich abgesenkt gewesen sei. Die Feststellungsanträge zu Nr. 2. b) und d) seien ebenfalls unbegründet. Nach der Auflösung der Spontandemonstration sei das Versammlungsrecht nicht mehr anwendbar gewesen. Die Voraussetzungen für eine Identitätsfeststellung nach § 13 Abs. 1 NPOG hätten vorgelegen, sodass der Kläger in Anwendung des § 13 Abs. 2 Satz 2 NPOG habe circa 50 Minuten festgehalten werden dürfen. Denn es sei zu erwarten gewesen, dass er sich erneut einer nicht mit den Versammlungsbehörden abgestimmten gefahrträchtigen Versammlung anschließe. Das Risiko eines solchen Verhaltens habe durch die Identitätsfeststellung gemindert werden können. Außerdem sei zu prüfen gewesen, ob dem Kläger nach Auflösung der Versammlung ein Verstoß gegen § 25 StVO und § 2 Abs. 3 Satz 2 Corona-Verordnung vorzuwerfen gewesen sei. Die Art und Weise sowie die Dauer der Umstellung bzw. des Festhaltens seien rechtmäßig gewesen. Auch der Feststellungsantrag bzgl. des Platzverweises sei unbegründet, da sich dieser ebenfalls als rechtmäßig erweise. Die Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 Satz 1 NPOG hätten vorgelegen, da der Kläger an einer aufzulösenden Versammlung teilgenommen habe. Der räumliche Geltungsbereich des Platzverweises sei angemessen und im Hinblick auf die dem schriftlichen Dokument beigefügte Karte auch hinreichend konkret bestimmt gewesen. Auch der zeitliche Umfang sei noch als angemessen anzusehen, da es hinreichend wahrscheinlich gewesen sei, dass es anderenfalls in den Abendstunden weitere nicht abgestimmte Protestaktionen auf einer Straße oder unmittelbar vor der Polizeistation gegeben hätte. Schließlich sei auch der Feststellungantrag bezüglich der Filmaufnahmen von der Spontandemonstration auf der Rothenfelder Straße unbegründet. Die Voraussetzungen von § 12 Abs. 2 Satz 1 und 2 NVersG, wonach die Polizei eine unübersichtliche Versammlung und ihr Umfeld mittels Bild- und Tonübertragungen offen beobachten könne, wenn dies zur Abwehr einer von der Versammlung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erforderlich sei, seien erfüllt.

Gegen dieses Urteil, soweit die Klage abgewiesen wurde, richtet sich die Berufung des Klägers, die der 11. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts durch Beschluss vom 5. September 2022 - 11 LA 378/21 - soweit sie die Feststellungsanträge zu 2. a), b), d) und e) betrifft, wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung zugelassen hat. Bezüglich der Anfertigung von Filmaufnahmen (Feststellungsantrag zu 2. c)) hat der 11. Senat den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung abgelehnt.

Der Kläger trägt zur Begründung seiner Berufung in dem Umfang, in dem sie zugelassen wurde, vor, dass vorliegend eine bereits erledigte Gefahr als Grund für die Auflösung bemüht werde. Die Versammlung habe sich zu dem Zeitpunkt der Auflösung bereits einige Meter bewegt gehabt und sich vollständig auf der Fahrbahn befunden, wobei der Verkehr nur in einer Richtung behindert worden sei und sich Polizei-Fahrzeuge hinter dem Aufzug befunden hätten. Eine Gefahr habe hier lediglich in der Beeinträchtigung der Leichtigkeit des fließenden Verkehrs gesehen werden können, welche keinen derart schweren Eingriff in das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG rechtfertige. Würde man überhaupt zur Prüfung der Eingriffsschwelle kommen, wäre zunächst zu prüfen gewesen, ob eine Verweisung auf den Gehweg gegenüber einer Versammlungsauflösung das mildere Mittel gewesen wäre. Schon die fehlende Thematisierung eines milderen Mittels mache das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtsfehlerhaft. Für den Erlass beschränkender Verfügungen sei auch kein Ansprechpartner der Demonstrierenden erforderlich gewesen, da die Polizei über einen Lautsprecherwagen vor Ort verfügt habe.

Eine Auflösungserklärung sei nicht erfolgt. In den Durchsagen der Polizei sei weder ansatzweise noch konkludent eine Auflösung zu erkennen. Mithin sei die Versammlung durch das Abdrängen von der Straße gar nicht beendet worden, sondern lediglich erheblich in ihrer Außerwirkung und Gestaltungsfreiheit eingeschränkt worden. Die Verhinderung der weiteren Meinungskundgabe sei erst durch die Folgemaßnahmen wie die nicht näher erklärte Umstellung erfolgt. Soweit die Freiheitsentziehung strafprozessual mit dem Verdacht auf Verstöße gegen die StVO oder Corona-VO begründet werde, überzeuge dies nicht und sei inkonsequent. Ein Verstoß gegen § 25 StVO sei durch die Beklagte niemals erörtert worden. Zudem werde die StVO als allgemeines Gefahrenabwehrgesetz durch das Versammlungsgesetz als spezielleres Gesetz verdrängt. Auch im Hinblick auf mögliche Verstöße gegen die Corona-VO hätte zunächst eine versammlungsrechtliche Entscheidung getroffen werden müssen. Würde zunächst eine faktische Auflösung durch Einkesselung und Personalien-Feststellung stattfinden können, auch wenn die Klärung einer eventuellen Ausnahmegenehmigung erst noch zu erfolgen habe, dann käme dies einem faktischen Verbot gleich, was unzulässig sei. Dementsprechend verbleibe kein Raum für eine strafprozessuale Begründung, zumindest, wenn man - wie das Verwaltungsgericht - die Versammlungseigenschaft ausdrücklich bejahe. Dies gelte gleichermaßen für die Personalien-Feststellung. Eine Identitätsfeststellung komme ohne vorherige Auflösung der oder Ausschluss aus der Versammlung nur strafprozessual in Betracht. Zudem sei auch ein Platzverweis eines Teilnehmers einer nicht aufgelösten Versammlung stets rechtswidrig. Aus der fehlenden ordnungsgemäßen Auflösungserklärung leite sich demnach die Rechtswidrigkeit aller Folgemaßnahmen ab.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und festzustellen, dass

  1. a)

    die Beendigung der Spontandemonstration, an welcher er teilgenommen habe, an der Ecke Rothenfelder Straße/Am Mühlenweg,

  2. b)

    das Festhalten in einem sogenannten Polizeikessel über 50 Minuten,

  3. c)

    die Personalien-Feststellung bei ihm sowie

  4. d)

    der ihm erteilte Platzverweis für das gesamte Stadtgebiet Wolfsburg am 2. Juni 2020 durch die Beklagte rechtswidrig waren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 6. Oktober 2021 zurückzuweisen.

Sie macht geltend, dass sich die "Versammlungsteilnehmer" des Aufzuges auf der Rothenfelder Straße Richtung Berliner Ring vollständig kooperationslos verhalten hätten. Durch die Lautsprecherdurchsagen der Polizei hätte diesen klar sein müssen, dass die Polizei sie nicht als unter dem Schutz des Versammlungsrechts stehend beurteilt habe. Für sie habe eindeutig erkennbar sein müssen, dass sie sich zu entfernen hatten und das im Falle der Nichtbefolgung mit polizeilichen Maßnahmen zu rechnen gewesen sei. Die Warnfunktion als eigentlicher Sinn und Zweck der Auflösungsverfügung sei durch die mehrmalige Wiederholung der Durchsage unzweifelhaft erfüllt gewesen. Da die Versammlungsteilnehmer durch das Betreten der vielbefahrenen vierspurigen Straße eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dargestellt hätten, seien die Voraussetzungen für eine Auflösung auf Grundlage von § 8 Abs. 2 Satz 1 NVersG gegeben gewesen. Es würde sich demgemäß als systemwidrig darstellen, wenn eine vollständig die Kooperation unterlassende Versammlung, die zwar ohne Verwendung des Begriffs "Auflösung" letztendlich beendet worden sei, gleichsam als fortdauernd und daher weiter unter dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG stehend erachtet würde. Dieser Aspekt müsse unter Anwendung des "Kooperationsmodells" aus dem Brockdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts dazu führen, dass die Eingriffsschwelle in Richtung der Versammlung soweit abgesenkt gewesen sei, dass die polizeilichen Maßnahmen rechtmäßig gewesen seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers hat in dem zugelassenen Umfang Erfolg.

Seine Klage ist, soweit sie Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, zulässig und begründet und das Urteil des Verwaltungsgerichts dementsprechend zu ändern. Sowohl die Beendigung der Spontanversammlung an der Ecke Rothenfelder Straße/Am Mühlenweg am 2. Juni 2020, das Festhalten des Klägers an diesem Tag über circa 50 Minuten, die Personalien-Feststellung bei ihm sowie der ihm am 2. Juni 2020 durch die Beklagte erteilte Platzverweis für das gesamte Stadtgebiet Wolfsburg waren rechtswidrig.

Der Senat folgt zunächst der Argumentation des Verwaltungsgerichts, dass der Kläger am 2. Juni 2020 nach der Auflösung von V3 Teilnehmer einer Spontandemonstration i.S.v. § 2 NVersG/Art. 8 Abs. 1 GG auf der Rothenfelder Straße gewesen ist. Der versammlungsrechtliche Charakter des Geschehens auf der Rothenfelder Straße war zur Überzeugung des Senats nach Sichtung der Filmaufnahmen der Beklagten (Urkopie, Datei "Mast 8") unabhängig von der Beendigung der Versammlungen V1-3 ohne weiteres zu erkennen.

Nach Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Eine Versammlung i.S.d. § 2 NVersG ist eine ortsfeste oder sich fortbewegende Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Vorliegend bewegte sich eine Gruppe von mehreren Personen einschließlich des Klägers unter Mitführung eines gut sichtbaren Transparentes mit der Aufschrift

"Nieder mit dem motorisierten Individualverkehr Fahrräder und Trams auf die Straße Autos in die Geschichtsbücher"

und kollektiver Abgabe von Meinungsäußerungen auf der Rothenfelder Straße in Richtung des Berliner Rings auf der rechten Fahrbahnseite fort. Dass das mitgeführte Transparent bereits bei V1 benutzt wurde, spricht in keiner Weise dagegen, dass die Personengruppe auf der Rothenfelder Straße erneut ihre Meinung zu diesem Thema gemeinschaftlich kundtun wollte. Das Betreten einer für den Autoverkehr genutzten vierspurigen Straße weist - unabhängig davon, dass damit eine erhebliche Gefahr für die Versammlungs - sowie Straßenverkehrsteilnehmer verbunden gewesen ist, wie das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil zutreffend erkannt hat - zudem einen konkreten Bezug zu der thematisierten Verkehrswende zu Gunsten des unmotorisierten Individual- sowie des öffentlichen Personennahverkehrs auf.

Diese Versammlung war nicht auf Grund der Regelungen in § 2 Abs. 4 Corona-VO in der vom 25. Mai bis 7. Juni 2020 geltenden Fassung unzulässig. § 2 Abs. 4 Corona-VO in der genannten Fassung lautete: "Für Versammlungen unter freiem Himmel kann die nach dem Niedersächsischen Versammlungsgesetz zuständige Behörde im Benehmen mit der nach dem Infektionsschutzgesetz zuständigen Behörde Ausnahmen von der Beschränkung nach Absatz 3 Satz 2 Halbsatz 1 [Beschränkung von Zusammenkünften und Ansammlungen im öffentlichen Raum auf zwei Personen] erteilen, wenn durch die Veranstalterin oder den Veranstalter der Schutz vor Infektionen durch geeignete Maßnahmen sichergestellt wird. Die nach Satz 1 zuständige Behörde kann die Versammlung zum Zweck der Verhütung und Bekämpfung des Corona-Virus SARS-CoV-2 beschränken oder mit Auflagen versehen." Unter Berücksichtigung der Bedeutung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit, dem in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang gebührt (BVerwG, Urteil vom 26.2.2014 - 6 C 1.13 -, juris Rn. 16, und Beschluss vom 14.5.1985 - 1 BvR 233/81 -, juris Rn. 61), da die Versammlungsfreiheit als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist (BVerfG, Ablehnung Einstweilige Anordnung vom 27.6.2022 - 1 BvQ 45/22 -, juris Rn. 6 m.w.N., und Beschluss vom 14.5.1985 - 1 BvR 233/81 -, juris Rn. 63, 66), war § 2 Abs. 4 Corona-VO in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung verfassungskonform so auszulegen, dass dieser kein generelles Versammlungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt für Spontanversammlungen regelte (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 19.2.2021 - 11 ME 34/21 -, juris Rn. 10, zu einer Versammlung im Februar 2021; Bayerischer VGH, Beschluss vom 11.9.2020 - 10 CS 20.2063 - juris Rn. 9, 12, bzgl. der Rechtslage in Bayern im September 2020). Denn es wäre unmöglich gewesen, die nach § 2 Abs. 4 Corona-VO erforderliche Erlaubnis der Versammlungsbehörde unter Beteiligung der Infektionsschutzbehörde rechtzeitig bei einer Spontanversammlung einzuholen. Dies wäre auf ein Totalverbot von Spontanversammlungen hinausgelaufen, was mit der Bedeutung der Versammlungsfreiheit nicht zu vereinbaren gewesen wäre. Spontanversammlungen in Niedersachsen bedurften dementsprechend auch Anfang Juni 2020 grundsätzlich keiner Erlaubnis, wenn der Schutz vor Infektionen durch geeignete Maßnahmen - entweder durch den Erlass von Auflagen oder das verordnungskonforme Verhalten der Versammlungsteilnehmer - sichergestellt werden konnte.

Die Versammlung auf der Rothenfelder Straße fiel damit als Spontanversammlung i.S.d. § 5 Abs. 5 NVersG unter den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG. Denn der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und in diesem Fall angemeldet ist (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 14.5.1985 - 1 BvR 233/81 -, juris Rn. 72 - 75). Er endet - ohne Rückwirkung - mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20.6.2014 - 1 BvR 980/13 -, juris Rn. 17, 22 m.w.N.) oder mit dem Ausschluss eines Teilnehmers für diesen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10.12.2010 - 1 BvR 1402/06 -, juris Rn. 28). Nicht (mehr) durch Art. 8 GG geschützt ist eine Versammlung grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7.3.2011 - 1 BvR 388/05 -, juris Rn. 33, und Stattgebender Kammerbeschluss vom 10.12.2010 - 1 BvR 1402/06 -, juris Rn. 20 m.w.N.). Unfriedlich ist eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter - wie vorliegend die Behinderung des Autoverkehrs auf der Rothenfelder Straße - kommt (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7.3.2011 - 1 BvR 388/05 -, juris Rn. 33, und Beschluss vom 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 -, juris Rn. 47, jeweils m.w.N.)

Ist das Vorliegen einer (friedlichen) Versammlung - wie hier - zu bejahen, so hat dies polizeirechtlich erhebliche Folgen. Denn die Versammlungsgesetze gehen für ihren Geltungsbereich dem allgemeinen Polizeirecht vor (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10.12.2010 - 1 BvR 1402/06 -, juris Rn. 28 m.w.N.), soweit sie abschließende Regelungen enthalten (BVerwG, Urteil vom 25.10.2017 - 6 C 46.16 -, juris Rn. 16). Erst mit der Auflösung der Versammlung wird der Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht eröffnet. Insoweit ist die Auflösung der Versammlung nach § 8 Abs. 2 NVersG ein gestaltender Verwaltungsakt; die beendete Versammlung wird im Rechtssinn zur bloßen Ansammlung. Gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 NVersG haben sich die teilnehmenden Personen nach der Auflösung unverzüglich zu entfernen.

Eine Auflösung in diesem Sinne ist die Beendigung einer bereits durchgeführten Versammlung mit dem Ziel, die Personenansammlung zu zerstreuen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 30.4.2007 - 1 BvR 1090/06 -, juris Rn. 45; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26.10.2004 - 1 BvR 1726/01 -, juris Rn. 20). Die Auflösungsverfügung ist zwar nicht formgebunden, sie muss jedoch eigenständig erfolgen, eindeutig und nicht missverständlich formuliert sein, sowie für die Betroffenen erkennbar zum Ausdruck bringen, dass die Versammlung aufgelöst ist, und damit den Beteiligten Klarheit darüber verschaffen, dass nunmehr der Grundrechtsschutz entfällt, zumal sie - wie ausgeführt - auch eine förmliche Voraussetzung der Rechtmäßigkeit darauf aufbauender Handlungen ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 30.4.2007 - 1 BvR 1090/06 -, juris Rn. 45). Vor der Auflösung der Versammlung muss in einer rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Weise festgestellt werden, dass die Veranstaltung nicht mehr unter dem Schutz des Art. 8 GG steht (BVerfG, Beschluss vom 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 -, juris Rn. 51). Die Kenntnis der Maßgeblichkeit versammlungsrechtlicher Regeln unter Einschluss der besonderen Voraussetzungen von Maßnahmen, die eine Versammlungsteilnahme unmöglich machen, kann von einem verständigen Amtsträger erwartet werden (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 30.4.2007 - 1 BvR 1090/06 -, juris Rn. 49). Erst nach der Auflösung der Versammlung können auf das allgemeine Polizeirecht gestützte Maßnahmen gegen eine Person ergehen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10.12.2010 - 1 BvR 1402/06 -, juris Rn. 28; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 28.6.2013 - 11 LA 27/13 -, juris Rn. 17).

Eine solche Auflösungserklärung ist vorliegend nicht erfolgt. Die Versammlung wurde vielmehr erst durch die nach dem Abdrängen von der Fahrbahn der Rothenfelder Straße erfolgten polizeilichen Maßnahmen im Bereich der Grünfläche an der Ecke Rothenfelder Straße/Am Mühlenweg faktisch aufgelöst. In den auf den Filmaufnahmen von dem maßgeblichen Geschehen auf der Rothenfelder Straße zu vernehmenden Durchsagen der Polizeibeamten zum Verlassen der Fahrbahn ist keine Auflösungserklärung zu sehen. Es ist hierbei davon auszugehen, dass eine solche Auflösungserklärung aus Sicht der handelnden Beamten auch gar nicht abgegeben werden sollte, da diese unter Berücksichtigung des Vortrags der Beklagten im gerichtlichen Verfahren sowie der Einsatzberichte (Einsatzbericht Polizeioberkommissar Heinecke, Bl. 70 GA; Einsatzbericht Polizeihauptkommissar F., Bl. 72 GA) nicht von einer unter dem Schutz des Versammlungsrechts stehenden Versammlung ausgingen. Der Schutz der Versammlungsfreiheit erfordert jedoch, dass die Auflösungsverfügung eindeutig und unmissverständlich formuliert ist und für die Betroffenen erkennbar zum Ausdruck bringt, dass die Versammlung aufgelöst ist (BVerfG, Beschl. v. 30.4.2007 - 1 BvR 1090/06 -, juris Rn. 45). Denn die Erklärung der Auflösung hat - wie dargestellt - besondere Bedeutung. Ihre Notwendigkeit gibt der Polizei den formalen Anstoß, dass Ziel der Maßnahme zu konkretisieren und die Voraussetzungen zu bedenken. Den friedlichen Versammlungsteilnehmern ermöglicht sie, die Grundrechtsausübung ohne unmittelbaren Zwang zu beenden. Darüber hinaus bewirkt die Auflösungserklärung die Entfernungspflicht (§ 8 Abs. 2 Satz 3 NVersG) und schafft damit die Grundlage für ein entsprechendes polizeiliches Durchgreifen. Somit ist die Erklärung der Versammlungsauflösung zwar unerlässlich, der Polizei steht hierbei jedoch - insbesondere unter Berücksichtigung der praktischen Möglichkeiten und Bedürfnisse - jede Erklärungsform zur Verfügung, die nicht bereits den unmittelbaren polizeilichen Zwang selbst darstellt. Maßgeblich ist, dass bei verständiger Würdigung hinreichend deutlich wird, dass die Auflösung der Versammlung gewollt und erklärt ist. Vorliegend wäre eine entsprechende Durchsage über den Außenlautsprecher des in unmittelbarer Nähe befindlichen Polizeifahrzeuges ohne weiteres möglich gewesen, eine solche ist jedoch nicht erfolgt und nach dem Vorstehenden auch nicht beabsichtigt gewesen. Die Räumung der Rothenfelder Straße kann somit auch nach vorheriger Aufforderung zum Verlassen der Fahrbahn nicht als konkludente Auflösungserklärung ausgelegt werden, zumal hierdurch auch nur eine räumliche Beschränkung der vorliegenden Versammlung dahingehend, dass diese auf dem Gehweg stattzufinden habe, beabsichtigt gewesen sein könnte (vgl. OVG Saarland, Urteil vom 27.10.1988 - 1 R 169/86 -, juris Rn. 37). Für die Versammlungsteilnehmer war jedenfalls ein Auflösungswille der eingesetzten Beamten nicht erkennbar.

Da die Spontanversammlung auf der Rothenfelder Straße zu diesem Zeitpunkt nicht in einer den vorstehend dargestellten rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Weise aufgelöst war, war ihre faktische Auflösung durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs entsprechend dem Antrag des Klägers zu a) rechtswidrig. Diese Feststellung ist zu treffen, ohne dass es hierzu darauf ankommt, ob die materiellen Voraussetzungen für eine Auflösung der Spontanversammlung gegeben waren.

Der Senat weist jedoch zur Klarstellung darauf hin, dass hier eine Auflösung rechtmäßig hätte erfolgen können mit der Folge, dass die Polizei dann weitere polizeirechtliche Maßnahme zulässigerweise hätte treffen können. Entgegen der Meinung des Klägers kann keine Rede davon sein, dass die Gefahrenlage zum Zeitpunkt des Einschreitens der Polizei bereits erledigt gewesen ist. Denn die Teilnehmer der Spontanversammlung haben durch das spontane und völlig unerwartbare (unmittelbar nach Beendigung der Versammlung V3) Betreten der in diesem Bereich vierspurigen Straße eine erhebliche Gesundheits- und Lebensgefahr für sich und die anderen Verkehrsteilnehmer geschaffen. Diese Gefahr ist entgegen der Ansicht des Klägers nicht dadurch entfallen, dass sich hinter dem Demonstrationszug Polizeifahrzeuge befanden. Denn vor dem Demonstrationszug befanden sich keine Polizeifahrzeuge und das Ziel des Demonstrationszuges war - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat - für die Polizei auch nicht erkennbar. Es bestand jedenfalls die Gefahr, dass die Demonstration in den Kreuzungsbereich Rothenfelder Straße/Berliner Ring gezogen wäre, was die Gefahren für die anderen Verkehrsteilnehmer, aber auch für die Teilnehmer der Versammlung noch erheblich gesteigert hätte. Dafür sprach insbesondere die Marschrichtung des Demonstrationszuges (Polizeibericht vom 30.9.2020, Bl. 72 unten GA). Angesichts dessen, dass die Teilnehmer der Spontanversammlung sich zudem auch nicht kooperationsbereit gezeigt haben, hat für die Polizei letztlich kein milderes Mittel als die Beendigung der Versammlung zur Verfügung gestanden.

Da aber aus den dargelegten Gründen von einer Auflösung hier nicht auszugehen ist, diese jedoch - wie ausgeführt - förmliche Voraussetzung der Rechtmäßigkeit darauf aufbauender polizeilicher Maßnahmen ist (BVerfG, stattgebende Kammerbeschlüsse vom 30.4.2007 - 1 BvR 1090/06 - juris Rn. 45; vom 10.12.2010 - 1 BvR 1402/06 - juris Rn. 28 sowie vom 26.10.2004 - 1 BvR 1726/01 - juris Rn. 17 bzgl. eines Platzverweises), konnten die mit den Berufungsanträgen angegriffenen weiteren Maßnahmen nicht auf §§ 13 Abs. 1 und Abs. 2, 17 Abs. 1 NPOG gestützt werden, so dass die Rechtswidrigkeit des Festhaltens des Klägers, der Identitätsfeststellung sowie der Erteilung eines Platzverweises festzustellen ist. Der Kläger hat sich - wie auf den genannten Filmaufnahmen ersichtlich - zudem durchgehend friedlich verhalten, so dass kein anderweitiges Verhalten zur Rechtfertigung der vorgenommenen Maßnahmen herangezogen werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.