Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 16.04.2024, Az.: 22 W 10/23

Ingewahrsamnahme eines Demonstranten wegen Blockade einer Straße; Rechtmäßigkeit der Platzverweisung als Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Durchsetzungsgewahrsams

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
16.04.2024
Aktenzeichen
22 W 10/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 15088
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2024:0416.22W10.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
AG Celle - 04.09.2023 - AZ: 22 XIV 431 L

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Rechtmäßigkeit der Platzverweisung ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Durchsetzungsgewahrsams. Der Senat ändert insoweit seine Rechtsprechung und hält an seiner gegenteiligen Ansicht nicht länger fest.

  2. 2.

    Der Senat neigt zu der Auffassung, dass ein gesamtes Stadtgebiet nicht mehr als "Ort" im Sinne des § 17 Abs. 1 NPOG angesehen werden kann, sondern es sich dabei um einen "örtlichen Bereich" im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 NPOG handelt, mit der Folge, dass eine für ein gesamtes Stadtgebiet ausgesprochene Platzverweisung als ein Aufenthaltsverbot zu qualifizieren wäre.

  3. 3.

    Besteht die abzuwehrende Gefahr in Beeinträchtigungen der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs durch einen sich langsam auf einer Fahrbahn fortbewegenden Demonstrationszug, rechtfertigt dies regelmäßig nicht die Ausweitung einer Platzverweisung auf ein gesamtes Stadtgebiet.

  4. 4.

    Vor Anordnung des Durchsetzungsgewahrsams muss eine Ankündigung erfolgen, das für den Fall der Nichtbefolgung der Platzverweisung zu deren Durchsetzung eine Ingewahrsamnahme in Betracht gezogen wird, und eine - je nach Gefahrenlage kürzere oder längere - Frist zur Befolgung der Platzverweisung gewährt werden.

In dem Freiheitsentziehungsverfahren
betreffend R. S. J.,
geboren am ...,
wohnhaft ...,
gesetzliche Vertreter: E. und M. J., wohnhaft ebenda,
- Betroffene und Beschwerdeführerin -
beteiligt: Land Niedersachsen,
vertreten durch die Polizeiinspektion C.,
- Antragsteller und Beschwerdegegner -
hat der 22. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Richter am Oberlandesgericht XXX, den Richter am Oberlandesgericht XXX und die die Richterin am Oberlandesgericht XXX am 16. April 2024 beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss des Amtsgerichts Celle vom 4. September 2023 aufgehoben.

  2. 2.

    Es wird festgestellt, dass die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin am 4. September 2023 rechtswidrig war.

  3. 3.

    Die Kosten des Verfahrens und die der Beschwerdeführerin und ihren gesetzlichen Vertretern hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.

  4. 4.

    Der Beschwerdewert wird auf 5.000,- € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin wurde am 4. September 2023 um 11:20 Uhr in C. in polizeilichen Gewahrsam genommen. Nach mündlicher Anhörung der Beschwerdeführerin hat das Amtsgericht Celle mit Beschluss vom selben Tag die Ingewahrsamnahme für zulässig erklärt und deren Fortdauer bis höchstens 20 Uhr angeordnet. Mit ihrer Beschwerde beantragt die Beschwerdeführerin die Aufhebung des Beschlusses und die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme.

1. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Beschwerdeführerin begab sich gemeinsam mit L. K. am 4. September 2023 von O. nach C., um an einer Kundgebung der Klimaschutzbewegung "Letzte Generation" teilzunehmen. Beide wurden von der Mutter der Beschwerdeführerin in deren PKW nach C. befördert. Um 7:58 Uhr setzten sich Teilnehmende der Kundgebung zeitgleich an zwei Orten der C. Innenstadt, nämlich im Bereich der H. Straße/T. und in der B., auf die Fahrbahnen, um den Verkehr zu blockieren. Einige der Teilnehmenden klebten sich auch auf den Fahrbahnen bzw. aneinander fest. Dabei trugen die auf den Fahrbahnen befindlichen Personen Warnwesten und hielten Protestbanner hoch. Ziel der - weder angezeigten noch vorab angekündigten - Aktion war es, gegen die als zu schleppend erachtete Einleitung und Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen zu protestieren und von den politischen Entscheidungsträgern die Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf Autobahnen und die dauerhafte Wiedereinführung des "9-Euro-Tickets" im öffentlichen Nahverkehr zu verlangen, um den für die Klimaerwärmung ursächlichen Kohlendioxidausstoß von Kraftfahrzeugen zu reduzieren.

Die Beschwerdeführerin, ihre Mutter und L. K. waren nicht unter den auf den Fahrbahnen sitzenden Personen. Sie trugen auch keine Warnwesten oder Protestbanner, sondern beobachteten und fotografierten jeweils vom Gehweg aus die Aktionen - die Beschwerdeführerin und L. K. am T., die Mutter der Beschwerdeführerin in der B.

Gegen 8:05 Uhr trafen an beiden Aktionsorten Polizeivollzugsbeamte ein und forderten die auf den Fahrbahnen befindlichen Personen auf, die Versammlungen auf dem Gehweg fortzusetzen. Als die Demonstrierenden die Fahrbahnen nicht verließen, lösten die Polizeibeamten die Versammlungen auf und erteilten den Demonstrierenden Platzverweisungen für die Fahrbahnen. Als auch diese nicht befolgt wurden, schoben die Polizeivollzugsbeamten die Personen von den Fahrbahnen. Die festgeklebten Personen konnten zum Teil durch die Polizei selbst, zum Teil nur mithilfe der Feuerwehr von den Fahrbahnen gelöst werden. Die Blockade in der B. war um 8:26 Uhr beendet. Am T. wurde der Verkehr ab 8:27 Uhr um die letzte auf der Fahrbahn festgeklebte Person herumgeleitet. Diese konnte erst um 9:06 Uhr durch die Feuerwehr von der Fahrbahn gelöst werden. An beiden Demonstrationsorten wurden von den Polizeibeamten die Personalien sowohl der zuvor auf den Fahrbahnen befindlichen als auch der umstehenden Personen einschließlich der Beschwerdeführerin und L. K. festgestellt. Den Personen, die die Fahrbahn in der Bahnhofstraße blockiert hatten, wurden zudem von der dort eingesetzten Polizeikommissarin P. Platzverweisungen für das gesamte Stadtgebiet bis 23:59 Uhr desselben Tages erteilt. Im Anschluss wurden alle Personen entlassen und diese entfernten sich.

Gegen 11:00 Uhr entschlossen sich die Beschwerdeführerin, L. K. und einige derjenigen Personen, die am Morgen an den Sitzblockaden beteiligt gewesen waren, dazu, spontan noch eine Laufdemonstration durchzuführen, um gegen die Ingewahrsamnahme von Klimaaktivisten in B. zu protestieren. Bekleidet mit Warnwesten und Protestbanner tragend bewegten sich die Beschwerdeführerin, L. K. und fünf weitere Personen langsam auf der Fahrbahn der Bahnhofstraße, die vom Bahnhof in Richtung Stadtzentrum führt. Auf der Gegenfahrbahn floss der Verkehr vom Stadtzentrum in Richtung Bahnhof ungehindert. Die Mutter der Beschwerdeführerin begleitete den Demonstrationszug auf dem Gehweg und filmte ihn mit ihrem Mobiltelefon.

Um 11:07 Uhr trafen die ersten Polizeibeamten vor Ort ein. Die Polizeikommissarin P. erklärte die Kundgebung zur Versammlung und bat um Benennung des Versammlungsleiters. Als ihr ein Versammlungsleiter nicht benannt wurde, ernannte sie eine der Personen zum Versammlungsleiter und erließ die beschränkende Verfügung, dass die Versammlungsteilnehmer sich auf den Gehweg zu begeben hätten. Als dem nicht Folge geleistet wurde, erklärte die Polizeikommissarin die Auflösung der Versammlung, erteilte den Teilnehmenden eine Platzverweisung für die Fahrbahn und drohte deren Durchsetzung mittels unmittelbaren Zwanges an. Als auch die Platzverweisung nicht befolgt wurde, begannen die Polizeibeamten damit, einzelne Versammlungsteilnehmer auf den Gehweg zu schieben. Diese kehrten jedoch wieder auf die Fahrbahn zurück, um ihren Protestzug fortzusetzen. Nach Eintreffen weiterer Polizeikräfte gelang es schließlich, alle Personen auf dem Gehweg einzukreisen. Die Personalien der Personen wurden festgestellt. Um 11:20 Uhr sprach Polizeikommissarin P. gegen die Teilnehmenden der Versammlung eine Platzverweisung für das gesamte Stadtgebiet bis 23:59 Uhr aus. Hierauf zogen die Beschwerdeführerin und L. K. ihre Warnwesten aus, rollten ihre Protestbanner ein und teilten Polizeikommissarin P. mit, dass sie nun mit der anwesenden Mutter der Beschwerdeführerin zurück nach O. fahren würden. Die Mutter der Beschwerdeführerin bestätigte dies und ergänzte, dass sie alsbald losfahren müsse, weil sie mit ihrem Sohn in O. einen Arzttermin wahrzunehmen habe. Polizeikommissarin P. erwiderte, dass sie das zunächst mit der Polizeiführung abklären müsse. Nach entsprechendem Funkverkehr teilte sie den festgehaltenen Personen mit, dass sie zur Klärung des weiteren Vorgehens alle zur Polizeidienstelle transportiert werden. Hierauf wurden die Beschwerdeführerin, L. K. und die anderen fünf Personen, die auf der Fahrbahn demonstriert hatten, mit Polizeifahrzeugen zur Polizeiinspektion C. verbracht. Die Mutter der Beschwerdeführerin begab sich ebenfalls dorthin.

In der Polizeiinspektion wurde die Beschwerdeführerin in einem abgegrenzten Wartebereich platziert. Sie selbst wie auch ihre kurz danach eintreffende Mutter teilten den Polizeibeamten wiederholt mit, dass sie nun dringend nach Oldenburg zurückfahren müssten. Die Beschwerdeführerin wurde im Beisein ihrer Mutter als Beschuldigte belehrt und ihr wurde der Vorwurf der Nötigung eröffnet. Sie machte von ihrem Schweigerecht Gebrauch. Nach längerer Wartezeit erhielt die Beschwerdeführerin die Mitteilung, dass beim Amtsgericht ein Antrag auf Anordnung des Gewahrsams gestellt werde und diese Entscheidung abgewartet werden müsse. Die Mutter der Beschwerdeführerin fuhr zwischenzeitlich nach Oldenburg zurück, um mit ihrem Sohn den Arzttermin wahrzunehmen. Gegen 15:00 Uhr wurde die zuständige Richterin des Amtsgerichts telefonisch erreicht und über den Sachverhalt informiert. Sie erschien in den Räumlichkeiten der Polizeiinspektion und hörte die in Gewahrsam genommenen Personen einschließlich der Beschwerdeführerin an. Die Angaben der Beschwerdeführerin wurden in einem Anhörungsvermerk wie folgt wiedergegeben:

"Sie erklärte, sie sei heute angereist um zu protestieren. Sie habe nicht auf einem Fleck gesessen. Sie wollte auch nicht weggehen, das sei schließlich Zweck des Protestes. Eigentlich wollte sie um 12:30 Uhr abreisen. Sie gehe zur Schule, zu welcher, wollte sie nicht sagen. Der heutige Tag sei mit der Schule abgesprochen, wobei die Schule nicht wisse, um welchen Protest es sich handeln würde. Ihre Mutter würde sie wohl später abholen."

Um 16:13 Uhr gab die Richterin der Beschwerdeführerin mündlich den Beschluss bekannt, mit dem sie die Ingewahrsamnahme für zulässig erklärte und deren Fortdauer bis höchstens 20:00 Uhr anordnete.

2. Der schriftliche Beschluss des Amtsgerichts stützt den Gewahrsam rechtlich sowohl auf die Abwendung einer Gefahr für Leib oder Leben der Betroffenen, die aus einer Herabsetzung der Steuerungsfähigkeit und Verhaltensauffälligkeiten resultiert (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 NPOG), als auch auf die Verhinderung der bevorstehenden Begehung bzw. der Fortsetzung der Begehung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit (§ 18 Abs. 1 Nr. 2 NPOG) sowie auf die Durchsetzung einer Platzverweisung (§ 18 Abs. 1 Nr. 3 NPOG). Als konkreten Sachverhalt stellt der Beschluss fest, dass die Betroffene am 4. September 2023 gegen 11:05 Uhr in C., B. 17 angetroffen worden und nach einem Verstoß gegen einen von der Polizei ausgesprochenen Platzverweis in Gewahrsam genommen worden sei. Dies ergebe sich aus dem Report der Polizei vom 4. September 2023.

3. Gegen den Beschluss haben die Beschwerdeführerin und ihre Eltern als gesetzliche Vertreter mit Schreiben, das am 27. September 2023 beim Amtsgericht Celle eingegangen ist, Beschwerde eingelegt. Sie haben geltend gemacht, dass die Ingewahrsamnahme rechtswidrig gewesen sei. Die Demonstration habe nur kurze Zeit gedauert und die Straße sei nicht blockiert worden. Die Gruppe sei klein gewesen. Nach Auflösung der Versammlung und Erteilung des Platzverweises habe die Beschwerdeführerin sofort zu erkennen gegeben, dass sie den Platzverweis befolgen werde, indem sie ihre Warnweste ausgezogen und das getragene Banner eingerollt habe. Die Mutter der Beschwerdeführerin habe auch noch auf der Polizeiwache versichert, dass sie mit ihrer Tochter direkt nach O. zurückfahren werde. Zunächst sei ihr auch mitgeteilt worden, dass sie ihre Tochter gleich mitnehmen könne. Dann habe es geheißen, dass die Entscheidung des Amtsgerichts abgewartet werden müsse. So lange habe sie wegen eines Arzttermins ihres Sohnes nicht warten können. Sie sei deshalb nach O. zurückgefahren und am Abend zurückgekehrt, um ihre Tochter abzuholen.

4. Mit ihrer Stellungnahme vom 5. Januar 2024 hat die Polizeiinspektion C. vorgetragen, dass die Mutter der Beschwerdeführerin während des Protestes um 11:07 Uhr vom Gehweg aus ihre auf der Fahrbahn gehende Tochter mittels Mobiltelefon videografiert habe. Die Mutter sei während des zweiten Protests als Teilnehmerin der Versammlung wahrgenommen worden und habe es unterlassen, die fortgesetzte Begehung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten sowie die Gefährdung erheblicher Rechtsgüter zu verhindern. Eine Übergabe der minderjährigen Beschwerdeführerin an die Mutter sei daher zur Verhinderung erneuter Straftaten als nicht zielführend angesehen worden.

5. Der Senat hat Beweis erhoben durch mündliche Anhörung der Beschwerdeführerin sowie Vernehmung der Zeuginnen E. J., L. K. und Polizeikommissarin P. sowie des Zeugen Polizeihauptkommissar S. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der Sitzung vom 29. Februar 2024 Bezug genommen.

II.

Die nach §§ 19 Abs. 4 Satz 1 NPOG, 58 Abs. 1 FamFG statthafte und zulässig erhobene Beschwerde der Betroffenen ist begründet.

Die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin am 4. September 2023 war rechtswidrig. Die Voraussetzungen nach § 18 Abs. 1 Nr. 3 NPOG waren nicht erfüllt. Die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin war nicht unerlässlich, um eine rechtmäßige Platzverweisung nach § 17 NPOG durchzusetzen. Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben.

1. Soweit der polizeilichen Anordnung der Ingewahrsamnahme und ihrer Bestätigung durch das Amtsgericht die Annahme zu Grunde liegt, dass die Beschwerdeführerin an einer der Sitzblockaden ab 7:58 Uhr beteiligt und ihr bereits dort eine Platzverweisung erteilt worden war, hat sich dies nach dem Polizeibericht vom 5. Januar 2024 sowie dem Ergebnis der Beweisaufnahme vom 29. Februar 2024 nicht bestätigt. Der Beschwerdeführerin wurde am 4. September 2023 erstmals zwischen 11:07 Uhr und 11:20 Uhr in der Bahnhofstraße nach Auflösung der dortigen Versammlung eine Platzverweisung für die Fahrbahn erteilt. Als die Beschwerdeführerin und die Mitdemonstrierenden die Platzverweisung nicht befolgten, wurde diese durch unmittelbaren Zwang in Form von körperlicher Gewalt (§ 69 Abs. 1 NPOG) vollstreckt. Zwar kehrten die Beschwerdeführerin und einige der Demonstrierenden anfangs wieder auf die Fahrbahn zurück. Jedoch war in dem Zeitpunkt, als alle Demonstrierenden auf dem Gehweg der Bahnhofstraße von Polizeikräften eingekreist waren und ihre Personalien festgestellt wurden, die erste Platzverweisung für die Fahrbahn zwangsweise vollstreckt. Damit war diese - nicht auf Dauer angeordnete - polizeiliche Maßnahme abgeschlossen. Die nachfolgende Ingewahrsamnahme ist daher als neues polizeiliches Handeln zu beurteilen, das seine Rechtfertigung nicht mehr in der Durchsetzung der ersten Platzverweisung für die Fahrbahn finden kann (ebenso für eine vergleichbare Fallgestaltung: VG Oldenburg, Urteil vom 26. Juni 2012 - 7 A 2830/12, juris).

2. In Betracht kommt dementsprechend nur die Durchsetzung der zweiten, um 11:20 Uhr erteilten Platzverweisung für das gesamte Gebiet der Stadt Celle bis 23:59 Uhr. Diese Platzverweisung war indes rechtswidrig und konnte daher auch nicht rechtmäßig durchgesetzt werden.

a) Die Rechtmäßigkeit der Platzverweisung ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Durchsetzungsgewahrsams (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01, NVwZ 2005, 80; BayVGH, Beschluss vom 1. August 2016 - 10 C 16.637, juris; VG Hamburg, Urteil vom 2. Oktober 2012 - 5 K 1236/11, juris; Graulich in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl., Kap. E Rn. 533).

Der Senat ändert insoweit seine Rechtsprechung und hält an seiner bisherigen Ansicht, dass die Rechtmäßigkeit des Durchsetzungsgewahrsams nicht von der Rechtmäßigkeit der Platzverweisung abhängt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 25. März 2019 - 22 W 2/19 - und vom 18. April 2023 - 22 W 8/22), nicht länger fest. Diese Rechtsprechung basierte auf der Erwägung, dass der Durchsetzungsgewahrsam Vollstreckungscharakter habe und deshalb für ihn auch der vollstreckungsrechtliche Grundsatz gelte, dass es für die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung allein auf die Vollziehbarkeit, nicht aber die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung ankommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 1998 - 1 BvR 831/89, NVwZ 1999, 290; BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 - 7 C 5/08, NVwZ 2009, 55 [BVerwG 09.10.2008 - BVerwG 9 PKH 2.08; BVerwG 9 A 7.08]). Gegen eine solche Betrachtung spricht indes, dass der Gesetzgeber auch den Durchsetzungsgewahrsam wie die anderen Gewahrsamstatbestände systematisch den polizeilichen Originärmaßnahmen im Dritten Teil des Gesetzes zugeordnet hat und nicht den im Sechsten Teil (§§ 64 ff. NPOG) geregelten Zwangsmitteln. Zudem wird die Eingriffsschwelle im Vergleich zu anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen erheblich abgesenkt, wenn man für den Durchsetzungsgewahrsam die bloße Vollziehbarkeit der Platzverweisung ausreichen lässt. Denn die Ingewahrsamnahme ist, soweit sie nicht zur Durchsetzung anderer polizeilicher Maßnahmen erfolgt, an deutlich strengere Voraussetzungen geknüpft. Würde man die bloße Vollziehbarkeit dieser Maßnahmen, die schon bei Vorliegen zum Teil erheblich geringerer Voraussetzungen verfügt werden können, genügen lassen, könnten die strengeren - freiheitssichernden - Tatbestandsvoraussetzungen der anderen Ermächtigungsgrundlagen umgangen werden. Dies wäre mit dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 2 GG verbürgten Recht auf Freiheit der Person nicht zu vereinbaren. Die Rechtswidrigkeit der Platzverweisung "infiziert" daher die zu ihrer Durchsetzung verfügte Ingewahrsamnahme (vgl. VG Hamburg aaO; Graulich aaO Rn. 535).

b) Die erteilte Platzverweisung war nicht von der gesetzlichen Ermächtigung gedeckt. Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 NPOG kann die Polizei zur Abwehr einer Gefahr jede Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten.

Zwar genügt die Bezeichnung der örtlichen Reichweite der hier ergangenen Anordnung (gesamtes Stadtgebiet) den Anforderungen an deren Bestimmtheit (vgl. Niedersächs. OVG, Beschluss vom 4. Februar 2019 - 11 LA 366/18, juris). Denn für die Beschwerdeführerin als Adressatin der Anordnung war hinreichend deutlich, was von ihr verlangt wurde. Maßgebend sind gerade bei mündlichen polizeilichen Anordnungen, die ohne Verzug an Ort und Stelle getroffen werden müssen, die konkreten Umstände des Einzelfalles. Es kommt vor allem darauf an, wie die betroffene Person die Maßnahme verstehen muss (BayVGH, Urteil vom 20. März 2001 - 24 B 99.2709, NVwZ 2001, 1291).

Indes lagen die Voraussetzungen für eine derartig weitreichende Platzverweisung in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht vor.

aa) Dabei ist bereits fraglich, ob das gesamte Stadtgebiet noch als "Ort" im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 NPOG angesehen werden kann, oder ob es sich bereits um einen "örtlichen Bereich" im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 NPOG handelt. Mit dem Begriff des Ortes wird ein engerer räumlicher Bereich umschrieben, ohne dass damit eine Beschränkung auf ein Gebäude, auf eine Straße oder auf einen Platz verbunden ist (vgl. Niedersächs. OVG aaO; BeckOK PolR Nds/Waechter NPOG § 17 Rn. 27). Die Behandlung eines gesamten Stadtgebiets als "Ort" wäre zwar verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. März 2008 - 1 BvR 1548/02, juris). Allerdings definiert § 17 Abs. 3 Satz 2 NPOG den Begriff "örtlicher Bereich" als einen "Ort oder ein Gebiet innerhalb einer Gemeinde oder auch ein gesamtes Gemeindegebiet". Dies könnte den Schluss begründen, dass mit "Ort" im Sinne des § 17 Abs. 1 NPOG nur ein räumlicher Bereich unterhalb der Größe eines gesamten Gemeindegebietes gemeint ist und ein Platzverweis nach Abs. 1 daher nicht ein gesamtes Gemeindegebiet erfassen darf (vgl. BeckOK PolR Nds/Waechter NPOG § 17 Rn. 27). Das wiederum hätte zur Folge, dass es sich bei der streitgegenständlichen Anordnung nur um ein Aufenthaltsverbot nach § 17 Abs. 3 Satz 1 NPOG handeln könnte. Ein solches hätte nur angeordnet werden dürfen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigten, dass die Beschwerdeführerin in dem erfassten örtlichen Bereich (gesamtes Stadtgebiet) eine Straftat begehen werde. Das war hier nicht der Fall (dazu näher im Folgenden).

Neben der erhöhten Eingriffsschwelle würde sich zudem die Frage ergeben, ob auch ein Aufenthaltsverbot mittels einer Ingewahrsamnahme durchgesetzt werden kann. Dies wird vereinzelt mit der Begründung verneint, dass in § 18 Abs. 1 Nr. 3 NPOG nur "eine Platzverweisung nach § 17", nicht aber ein Aufenthaltsverbot erwähnt wird (vgl. BeckOK PolR Nds/Waechter NPOG § 18 Rn. 51). Andererseits wird "§ 17" an dieser Stelle nicht mit einem bestimmten Absatz in Bezug genommen, sondern insgesamt. Zudem bezeichnet das Gesetz selbst im Rahmen der Regelung des Aufenthaltsverbots in § 17 Abs. 3 Satz 3 NPOG dieses als "die Platzverweisung nach Satz 1". Dieser Wortlaut deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber das Aufenthaltsverbot als eine spezielle Ausgestaltung der Platzverweisung ansieht, die aufgrund ihrer längeren Dauer und ihres größeren räumlichen Geltungsbereichs besonderen Anforderungen unterliegt. Dementsprechend findet sich in der Rechtsprechung auch die Bezeichnung als "Platzverweis in Gestalt eines Aufenthaltsverbots" (so Niedersächs. OVG, Beschluss vom 28. Juni 2013 - 11 LA 27/13, Nds. Rpfl. 2013, 334). Hiervon ausgehend wäre auch das Aufenthaltsverbot von dem Wortlaut des § 18 Abs. 1 Nr. 3 NPOG erfasst.

bb) Die vorstehenden Fragen können im vorliegenden Streitfall indes offen bleiben. Denn auch, wenn man unter "Ort" einen weiteren räumlichen Bereich bis hin zu einem gesamten Gemeindegebiet zusammenfasst, ist die Rechtmäßigkeit einer Verweisung aus einem so großflächigen Bereich davon abhängig, dass sie nach der im Einzelfall gegeben Gefahrenlage, also der Art, des Umfangs und der Dauer der zu beseitigenden Gefahr, erforderlich war (vgl. Niedersächs. OVG, Beschluss vom 4. Februar 2019 - 11 LA 366/18, juris). Zwar beurteilt sich die Frage, ob eine präventiv-polizeiliche Maßnahme erforderlich ist, nach den Verhältnissen und dem Erkenntnisstand zum Zeitpunkt ihres Erlasses (sog. Ex-ante-Betrachtung, vgl. Senatsbeschluss vom 14. September 2011 - 22 W 2/11, Nds. Rpfl. 2012, 10; ebenso BVerwG, Urteil vom 1. Juli 1975 - 1 C 35.70, BVerwGE 49, 36; Niedersächs. OVG, Urteil vom 10. Oktober 2019 - 11 LB 108/18, juris). Die polizeiliche Gefahrprognose unterliegt aber der vollen gerichtlichen Nachprüfung; ein Beurteilungsspielraum der Polizei besteht insoweit nicht. Eine Maßnahme ist nur dann rechtmäßig, wenn sich die ex-ante-Prognose auch aus Sicht eines verständigen Dritten auf der Basis sämtlicher zum Zeitpunkt der Anordnung erkennbarer Umstände als fehlerfrei darstellt (vgl. Senat aaO; OLG Braunschweig, Beschluss vom 30. August 2018 - 1 W 114/17, juris; Niedersächs. OVG aaO).

cc) Hieran gemessen erweist sich die polizeiliche Gefahrprognose als fehlerhaft. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht der handelnden Polizeibeamten von der Beschwerdeführerin keine konkrete Gefahr im Sinne des § 2 Nr. 1 NPOG ausging, die eine Platzverweisung für das gesamte Stadtgebiet rechtfertigte.

(1) Allein die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin sich als Mitglied der Klimaschutzbewegung "Letzte Generation" zu erkennen gab, genügt insoweit nicht. Grundsätzlich begründet allein die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Gruppe keine den dargestellten Anforderungen genügende Gefahrenprognose. Vielmehr müssen bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass gerade von derjenigen Person eine Gefahr droht, gegen die sich die Maßnahme richtet (vgl. OLG Braunschweig aaO; Niedersächs. OVG, Urteil vom 10. Oktober 2019 - 11 LB 108/18, juris). Die Beschwerdeführerin war an den Sitzblockaden vom Morgen des 4. September 2023 nicht beteiligt. Sie hatte auch keinen hinreichenden Anlass für die Annahme gegeben, dass sie an einer Sitzblockade teilnehmen werde. Mit ihrer Teilnahme an dem späteren Demonstrationszug auf der Bahnhofstraße hat die Beschwerdeführerin keine Straftat begangen und mithin auch nicht den Verdacht begründet, sie werde künftig eine Straftat begehen. Der Demonstrationszug ist in dieser Hinsicht anders zu beurteilen als die Sitzblockaden vom Morgen.

Sitzblockaden auf öffentlichen Straßen können den Straftatbestand der Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) erfüllen. Die tatbestandsmäßige Gewaltanwendung besteht nach der sogenannten Zweite-Reihe-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 20. Juli 1995 - 1 StR 126/95, BGHSt 41, 182) darin, dass der erste aufgrund von psychischem Zwang anhaltende Fahrzeugführer und sein Fahrzeug bewusst als Werkzeug zur Errichtung eines physischen Hindernisses für die nachfolgenden Fahrzeugführer benutzt wird und diese vom zuerst angehaltenen Fahrzeug ausgehende physische Sperrwirkung für die nachfolgenden Fahrzeugführer den Demonstranten zurechenbar ist. Demgegenüber bewegte sich der vorliegend zu beurteilende Demonstrationszug fort, wenn auch langsam. Es ist daher bereits zweifelhaft, ob allein die dadurch verursachte Verlangsamung des Verkehrs schon als Gewaltanwendung im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB anzusehen ist. Dies kann hier jedoch dahinstehen. Denn auch eine Blockade ist nur dann als Nötigung strafbar, wenn sie im Sinne von § 240 Abs. 2 StGB "verwerflich" ist. Daran fehlt es hier.

Bei der Auslegung und Anwendung der Verwerflichkeitsklausel ist die wertsetzende Bedeutung des Art. 8 GG zu berücksichtigen, wenn die Tat im Rahmen einer Versammlung stattfindet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, BVerfGE 104, 92). Der streitgegenständliche Demonstrationszug auf der Bahnhofstraße fiel unter den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG. Die Zusammenkunft war auf Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet. Der Schutz besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung trotz bestehender Anmeldepflicht nicht angemeldet war (BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01, BVerfGK 4, 154). Er entfiel auch nicht etwa wegen Unfriedlichkeit der Versammlung. Unfriedlich ist eine Versammlung erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht schon, wenn es - wie hier - zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, BVerfGE 104, 92). Dies gilt ungeachtet der strafrechtlichen Bewertung als Gewalt; für die Begrenzung des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 GG ist allein der verfassungsrechtliche Begriff der Unfriedlichkeit maßgebend, nicht der umfassendere Gewaltbegriff des § 240 StGB (vgl. BVerfG aaO).

Kollidiert die Versammlungsfreiheit mit Grundrechten Dritter, ist für eine wechselseitige Zuordnung der Rechtsgüter mit dem Ziel größtmöglichen Schutzes beider Sorge zu tragen. Bei der Beurteilung der Zweck-Mittel-Relation haben die Gerichte daher auch zu fragen, ob das Selbstbestimmungsrecht der Versammlungsteilnehmer unter hinreichender Berücksichtigung der gegenläufigen Interessen Dritter oder der Allgemeinheit ausgeübt worden ist. Der Einsatz des Mittels der Beeinträchtigung dieser Interessen ist zu dem angestrebten Versammlungszweck bewertend in Beziehung zu setzen, um zu klären, ob eine Strafsanktion zum Schutz der kollidierenden Rechtsgüter angemessen ist. Insofern werden die näheren Umstände der Demonstration für die Verwerflichkeitsprüfung bedeutsam (BVerfG aaO). Wichtige Abwägungselemente sind unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten für betroffene Fahrer, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand. Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände ist mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass dem Gericht eine Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und wertvoll einschätzt oder es missbilligt. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen auf die Feststellung der Verwerflichkeit einwirkenden Bezug zum Versammlungsthema haben (BVerfG aaO).

Die Gesamtwürdigung der vorstehend aufgeführten Umstände führt im Fall des Demonstrationszugs auf der Bahnhofstraße zu dem Ergebnis, dass die Ausübung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit durch die Beschwerdeführerin und ihre Mitdemonstrierenden nicht in sozialwidriger Weise unter übermäßiger Beeinträchtigung des Grundrechts der Fortbewegungsfreiheit der betroffenen Verkehrsteilnehmer erfolgt ist.

Zwar war der Demonstrationszug ebenfalls nicht vorab angekündigt worden. Anders als die Sitzblockaden fand er aber nicht zur Hauptverkehrszeit im morgendlichen Berufsverkehr statt, sondern gegen 11:00 Uhr mit einer geringeren Verkehrsdichte. Er betraf zudem nicht mehrere wichtige Verkehrsachsen in der C. Innenstadt, sondern nur eine. Dabei kam es auch nicht zu einer vollständigen Blockade der B., sondern der Aufzug bewegte sich nur auf einer Seite der Fahrbahn fort, so dass ein langsames Nachfahren sowie ein Überholen bei freier Gegenfahrbahn möglich war. Zwar ist durch die starke Verlangsamung des Verkehrs in dieser Fahrtrichtung ein Rückstau entstanden. Die genaue Zahl der beeinträchtigten Verkehrsteilnehmer konnte aber nicht festgestellt werden. Es war auch nicht festzustellen, dass Rettungsfahrzeuge oder sonstige wichtige Transporte behindert worden sind, zumal mehrere Ausweichmöglichkeiten für betroffene Fahrer - z.B. über die F. und die B. Straße zur J. - bestanden. Zudem konnten Rettungswagen - abgesehen vom Überholen des Demonstrationszugs - das A. K. C. vom Bahnhof aus ohne erhebliche Verzögerung auch über die B. und den A. B. Weg erreichen. Schließlich war die Dauer der Verkehrsbeeinträchtigung vom Beginn des Demonstrationszuges gegen 11:00 Uhr bis zum endgültigen Räumen der Straße durch die Polizei gegen 11:20 Uhr vergleichsweise kurz. Insgesamt bewegten sich die Auswirkungen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats in einem Ausmaß, das im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen noch als hinnehmbar einzustufen ist.

Ein Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand bestand nicht unmittelbar. Denn anders als die vorherigen Sitzblockaden hatte der Demonstrationszug nicht die Klimaschutzziele direkt zum Gegenstand, sondern richtete sich gegen die Anordnungen von Präventivgewahrsam gegen Klimaaktivisten. Allerdings bestand damit - auch für Außenstehende erkennbar - ein zumindest mittelbarer Zusammenhang mit den Klimaprotesten als Anlass der Ingewahrsamnahmen. Die Klimaproteste ihrerseits weisen einen Sachbezug zu den betroffenen Verkehrsteilnehmern auf. Denn sie richten sich gegen den motorisierten Straßenverkehr, welcher in Deutschland an dritter Stelle der Verursacher von Treibhausgasemissionen steht, wobei auf dem weltweiten Anstieg der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre die stark beschleunigte Erderwärmung beruht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. März 2021 - 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, BVerfGE 157, 30-177).

Der nur mittelbare Sachbezug des Protestgegenstands zu den Betroffenen ändert angesichts der moderaten Beeinträchtigungen durch den Protestzug in der Gesamtschau aber nichts daran, dass die verursachte Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit noch als sozial-adäquate (Neben-)Folge der Ausübung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit und damit nicht als "verwerflich" im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB einzustufen ist. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Aktion zunächst auch nach Auflösung der Versammlung fortgesetzt wurde. Der Umstand, dass mit der rechtmäßigen Auflösung einer Versammlung das Grundrecht aus Art. 8 GG unanwendbar wird, führt nämlich nicht dazu, dass die Betroffenen sich im Hinblick auf eine mögliche Strafbarkeit ihres Handelns nicht mehr auf den Schutz des Grundrechts berufen können, wenn die strafrechtliche Würdigung jedenfalls auch an ein Verhalten anknüpft, das zeitlich vor der Auflösung lag (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, BVerfGE 104, 92). Die rein hypothetische Überlegung, dass die Versammlung unter Umständen von Anfang an hätte rechtmäßiger Weise aufgelöst werden können, bedeutet ebenfalls nicht, dass Versammlungsteilnehmer allein deshalb den Grundrechtsschutz von vornherein verlieren (BVerfG aaO).

Ein strafbares Vorverhalten der Beschwerdeführerin scheidet hiernach als Grundlage der Gefahrprognose aus.

(2) Zwar umfasst der Schutz der "öffentlichen Sicherheit" im Sinne von § 2 Nr. 1 NPOG neben der gesamten Rechtsordnung einschließlich der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften auch die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs als eigenständiges Schutzgut (vgl. BeckOK PolR Nds/Ullrich, NPOG § 2 Rn. 18 mwN). Darüber hinaus kommt auch der Schutz der Individualrechtsgüter Leben und Gesundheit in Betracht. Denn ein für die Verkehrsteilnehmer überraschendes Betreten der Fahrbahn kann zu Unfällen mit Gesundheits- und Lebensgefahr sowohl für die Versammlungs- als auch die Verkehrsteilnehmer führen (vgl. Niedersächs. OVG, Urteil vom 20. Juni 2023 - 10 LB 5/23, juris).

Allerdings ist auch bei hinreichender Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts im Rahmen des Ermessens der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Denn wie bereits ausgeführt ist die zulässige Reichweite der Platzverweisung auf die Reichweite der Gefahr beschränkt. Die abzuwehrende Gefahr bestand hier in der erneuten Durchführung einer vergleichbaren Demonstration auf einer Fahrbahn. Die Platzverweisung wurde aber nicht auf Fahrbahnen beschränkt, sondern auf das gesamte Stadtgebiet erstreckt. Damit wurden auch solche Versammlungen im Stadtgebiet unterbunden, die nicht auf Fahrbahnen durchgeführt werden und deshalb im Hinblick auf die genannten Schutzgüter völlig ungefährlich wären (vgl. BayVGH, Beschluss vom 13. September 2023 - 10 CS 23.1650, juris). Zudem bestanden keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin und die Mitdemonstrierenden eine vergleichbare Aktion etwa in einem der Randbezirke mit reinen Wohngebieten und dementsprechend weniger befahrenen Straßen durchführen würden. Denn dies hätte nicht die von ihnen angestrebte (mediale) Aufmerksamkeit erregt. Abgesehen davon wäre selbst im Falle der Durchführung einer solchen Versammlung auf weniger stark befahrenen Straßen deren Gefahrenpotential wesentlich geringer gewesen (vgl. BayVGH aaO).

Allerdings haben die Beschwerdeführerin und die übrigen teilnehmenden Personen sich nach Auflösung der Versammlung durch die Polizei entgegen § 8 Abs. 2 Satz 3 NVersG nicht entfernt, obwohl die Auflösungsverfügung als unaufschiebbare Anordnung einer Polizeivollzugsbeamtin kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sofort vollziehbar war. Die Nichtbefolgung dieser gesetzlichen Pflicht stellt nach § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 NVersG zudem eine Ordnungswidrigkeit dar. Soll nach Auflösung einer Versammlung die Entfernungspflicht zwangsweise durchgesetzt werden, so muss zunächst eine entsprechende Verfügung, nämlich eine Platzverweisung nach § 17 Abs. 1 NPOG, ergehen (vgl. VG Hannover, Urteil vom 19. Mai 2014 - 10 A 6312/13, juris; Wefelmeier in: Wefelmeier/Miller, NVersG 2. Aufl., § 8 Rn. 60; Dietel/Gintzel/Kniesel, VersG 13. Aufl., § 18 Rn. 14). Allerdings rechtfertigt auch dies hier nicht, die Platzverweisung auf das gesamte Stadtgebiet auszudehnen. Denn das Sichentfernen der teilnehmenden Personen nach Auflösung bedeutet Verlassen des Versammlungsortes; es muss sich räumlich ausdrücken, dass die teilnehmenden Personen die sie einigende Beziehung aufgeben (Dietel/Gintzel/Kniesel aaO Rn. 15). Eine Pflicht zum Verlassen des Stadtgebiets ist davon regelmäßig nicht umfasst.

Aus den vorstehenden Gründen war sowohl die räumliche Ausdehnung der Platzverweisung auf das gesamte Stadtgebiet als auch deren Dauer bis 23:59 Uhr von der Gefahrprognose nicht gedeckt. Allein der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit kann einen derartig weitreichenden Eingriff nicht rechtfertigen, zumal nicht erkennbar ist, dass eine Kontrolle der Einhaltung der Platzverweisung nur bei Ausdehnung auf das gesamte Stadtgebiet effektiv möglich war.

3. Schließlich war die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin auch deshalb rechtswidrig, weil sie zur Durchsetzung der Platzverweisung - ungeachtet deren Rechtswidrigkeit - nicht unerlässlich war.

Unerlässlich ist eine Ingewahrsamnahme als äußerstes Mittel der Gefahrenabwehr nicht bereits dann, wenn sie mangels milderer Mittel mit gleicher Eignung erforderlich ist, sondern nur dann, wenn die Durchsetzung der Platzverweisung nur auf diese Weise möglich ist (vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10. August 2022 - 17 K 4838/20 -, Rn. 39 - 40, juris; BeckOK PolR NRW/Basteck PolG NRW § 35 Rn. 51). Auch insoweit gilt als Beurteilungsmaßstab zwar die Ex-ante-Betrachtung auf der Basis der Verhältnisse und des Erkenntnisstandes zum Zeitpunkt der Anordnung (vgl. Senatsbeschluss vom 14. September 2011 - 22 W 2/11, Nds. Rpfl. 2012, 10; ebenso BVerwG, Urteil vom 1. Juli 1975 - 1 C 35.70, BVerwGE 49, 36; Niedersächs. OVG, Urteil vom 10. Oktober 2019 - 11 LB 108/18, juris). Da es sich bei der Ingewahrsamnahme aber um eine die Freiheit der Person nicht nur beschränkende, sondern aufhebende Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG handelt, die zugleich einen Eingriff in die Freiheit der Person im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und damit in ein Grundrecht von hohem Rang darstellt, ist hier ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. Senat aaO; Niedersächs. OVG aaO).

Dementsprechend durfte nicht allein darauf abgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin und die Mitdemonstrierenden zunächst die beschränkende Verfügung der Polizei, die Versammlung auf dem Gehweg fortzusetzen, sowie die anschließende Auflösung der Versammlung und Platzverweisung von der Fahrbahn missachtet haben und wiederholt nach dem Abdrängen wieder auf die Fahrbahn zurückgekehrt sind. Die Pflicht zur Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände schließt vielmehr auch das Verhalten der Beschwerdeführerin nach Erteilung der Platzverweisung aus dem gesamten Stadtgebiet ein. Denn unmittelbar nach dieser Anordnung hat die Beschwerdeführerin zur Überzeugung des Senats deutlich zu erkennen gegeben, dass sie diese Platzverweisung befolgen will, indem sie ihre Warnweste ablegte, ihr Protestbanner einrollte und den Polizeibeamten mitteilte, dass sie nunmehr zusammen mit ihrer Mutter und der Zeugin K. nach O. zurückkehren werde, was die Mutter ebenfalls erklärte. Es gab keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass es sich hierbei um eine nur vorgetäuschte Kooperationsbereitschaft handelte. Insbesondere der Umstand, dass die Mutter das Anliegen ihrer Tochter unterstützte und den Demonstrationszug filmend begleitete, stellt nach dem hier anzulegenden strengen Beurteilungsmaßstab keine tragfähige Grundlage für eine solche Annahme dar. Die Beschwerdeführerin hat weder verbal geäußert noch durch ihr Verhalten angedeutet, dass sie die Platzverweisung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht befolgen werde.

Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass die Polizei der Beschwerdeführerin nach der Anordnung überhaupt keine Möglichkeit mehr gegeben hat, die Platzverweisung zu befolgen. Die Gruppe der Demonstrierenden war im Zeitpunkt der Anordnung der Platzverweisung bereits von Polizeibeamten umstellt und wurde auch nach Feststellung ihrer Personalien nicht mehr entlassen, sondern weiter festgehalten und schließlich zur Polizeidienststelle transportiert, wo sie in Gewahrsam genommen wurde. Das begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Bereits nach vollstreckungsrechtlichen Grundsätzen muss vor der Anordnung des Durchsetzungsgewahrsams eine Ankündigung erfolgen, das für den Fall der Nichtbefolgung der Platzverweisung zu deren Durchsetzung eine Ingewahrsamnahme in Betracht gezogen wird, und eine - je nach Gefahrenlage kürzere oder längere - Frist zur Befolgung der Platzverweisung gewährt werden (vgl. BeckOK PolR Nds/Waechter NPOG § 18 Rn. 52; BeckOK PolR NRW/Basteck PolG NRW § 35 Rn.50; Kuch in: Barczak, BKAG, § 57 Rn. 46; Lesting in: Marschner/Lesting/Stahmann, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 6. Aufl. Kap. E Rn. 71). Nur auf diese Weise werden auch die Anforderungen des Art. 5 EMRK erfüllt, der hier - im Range eines Bundesgesetzes stehend - ebenfalls zu beachten ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. April 2016 - 2 BvR 1833/12, EuGRZ 2016, 311 mwN). Eine Rechtfertigung des Gewahrsams zur Durchsetzung einer Platzverweisung kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b EMRK in Betracht (vgl. EGMR, Epple v. Deutschland, Entscheidung vom 24. März 2005, Nr. 77909/01, §§ 35 ff.). Danach ist die Freiheitsentziehung zulässig zur "Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung". Eine Freiheitsentziehung nach dieser Regelung ist aber nur gerechtfertigt, wenn die Verpflichtung, um die es geht, genau und konkret ist, wenn die betroffene Person auf diese konkrete Verpflichtung hingewiesen worden ist und wenn die Person danach eindeutige und aktive Schritte unternommen hat, die darauf hindeuten, dass sie der konkretisierten Verpflichtung nicht nachkommen wird (EMGR aaO; BVerfG aaO). Das Gegenteil war hier der Fall.

4. Eine Umdeutung des Durchsetzungsgewahrsams in eine Ingewahrsamnahme nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 NPOG scheidet aus. Denn wie bereits ausgeführt war im Falle der Beschwerdeführerin nicht davon auszugehen, dass die Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit unmittelbar bevorstand. Der Gewahrsam war auch nicht gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 NPOG zum Schutz der Beschwerdeführerin gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich. Insbesondere befand die Beschwerdeführerin sich nicht in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage. Soweit der Beschluss des Amtsgerichts eine "Gefahr für Leib oder Leben der Betroffenen" anführt, die "aus einer Herabsetzung der Steuerungsfähigkeit und Verhaltensauffälligkeiten resultiert", handelt es sich ersichtlich um ein Schreibversehen. Ursache hierfür war offenbar die Verwendung eines Vordrucks, in dem Textbausteine bereits maschinell vorangekreuzt waren, wobei übersehen wurde, dass nicht alle auf den vorliegenden Sachverhalt zutrafen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 19 Abs. 4 Satz 1 NPOG i.V.m. § 81 FamFG.

Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 19 Abs. 4 Satz 5 NPOG i.V.m. § 36 Abs. 3 GNotKG.

IV.

Diese Entscheidung ist nach § 19 Abs. 4 Satz 4 NPOG unanfechtbar.