Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 01.09.1998, Az.: VII 474/97
Gewährung vollen Rechtsschutzes trotz finanzamtlicher Ausschlussfrist; Schutz der Rechte des Bürgers gegenüber Behörden durch das Gericht
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 01.09.1998
- Aktenzeichen
- VII 474/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 18630
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1998:0901.VII474.97.0A
Rechtsgrundlage
- § 76 Abs. 3 S. 1 FGO
Fundstellen
- DStRE 1999, 412-413 (Volltext mit amtl. LS)
- NWB DokSt 1999, 1233
Verfahrensgegenstand
Einkommensteuer 1994
Amtlicher Leitsatz
Trotz finanzamtlicher Ausschlußfristsetzung im Vorverfahren darf das Finanzgericht Rechtsschutz vollumfänglich gewähren.
In dem Rechtsstreit
hat der VII. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
nach mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 1. September 1998
für Recht erkannt:
Tenor:
Unter Änderung des Bescheids 1994 vom 27. November 1996 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 18. Juli 1997 wird die Einkommensteuer auf 20.064,00 DM herabgesetzt.
Die Kosten des Rechtsstreits haben die Kl zu tragen.
Tatbestand
Streitig ist die Höhe der Einkünfte des Kl aus nichtselbständiger Arbeit für das Steuerjahr 1994.
Die Kl sind Eheleute. Sie werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kl ist Lehrer. Im Vorverfahren machte der Kl für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sowie sonstige Werbungskosten unter Hinweis auf die Gegebenheiten des (vorangegangenen) Steuerjahres 1993 geltend. Das beklagte Finanzamt (FA) erkannte mit dem Einkommensteuerbescheid vom 27. November 1996 jenseits des Werbungskosten-Pauschbetrags inHöhe von 2.000,00 DM mangels Nachweises keine weiteren Werbungskosten an. Nachdem die Kl ihren Einspruch nicht begründet hatten, setzte ihnen das beklagte FA eine Ausschlußfrist gemäß § 364 b Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO). Innerhalb der Frist sollten die Kl Tatsachen angeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung sie sich beschwert fühlten; insbesondere sollten Sie die Belege und Aufstellungen zu den Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit des Kl einreichen. Bis zum Ergehen der Einspruchsentscheidung vom 18. Juli 1997 sind weder Einspruchsbegründung, Werbungskostenaufstellung oder Belege nachgereicht worden.
Gegen den ablehenden Einspruchsbescheid erheben die Kl Klage und bemängeln, daß die Schätzung der Werbungskosten durch das beklagte FA die Aktenlage nicht berücksichtige. Klägerseits werden zusätzliche Werbungskosten wegen des häuslichen Arbeitszimmers sowie wegen beruflicher Telefonate geltend gemacht unddabei auf eine aktualisierte Kostenaufstellung hingewiesen.
Die Kl beantragen,
die Einkommensteuer auf 20.064,00 DM herabzusetzen.
Das beklagte FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es ist der Ansicht, daß die Kl ihrer Nachweispflicht trotz der nachgereichten Kostenaufstellung nicht hinreichend nachgekommen sind. Im übrigen seien - mit Blick auf § 364 b Abs. 2 AO - Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der vom beklagten FA gesetzten Ausschlußfrist vorgebracht bzw. vorgelegt werden, nicht mehr zu berücksichtigen.
Der Prozeßbevollmächtigte der Kl hat in der mündlichen Verhandlung eine Kopie des an die Kl ergangenen Steuerbescheids für das Steuerjahr 1995 vom 22. Juni 1998 vorgelegt. Aus diesem Bescheid ergibt sich, daß bei den Werbungskosten des Kl aus nichtselbständiger Arbeit neben Fahrtaufwendungen in Höhe von 1.546,00 DM Aufwendungen für Arbeitsmittel in Höhe von 3.448,00 DM und weitere Werbungskosten in Höhe von 4.381,00 DM Berücksichtigung gefunden haben. Der Kläger-Vertreter hat außerdem eine Aufstellung über die Kosten des häuslichen Arbeitszimmers für 1995 überreicht, die Kosten in Höhe von 4.236,00 DM ausweist. Der Vorsitzende hat daraufhin die Beteiligten darauf hingewiesen, daß nach seiner Einschätzung die Zulassung eines weiteren Werbungskostenabzugs nicht zu einer Verzögerung des Rechtsstreits führen würde und hat gegenüber dem Vertreter des beklagten FA - erfolglos - angeregt, die Steuerfestsetzung zu ändern.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg.
Der Senat ist davon überzeugt, daß die zusätzlich geltend gemachten Werbungskosten auch tatsächlich angefallen sind. Deren Anerkennung als Abzugsposten steht die Ausschlußfristsetzung durch das beklagte FA nicht entgegen.
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Verbindung mit §§ 9, 19 EStG unterliegen der Einkommensteuer u.a. die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit; dabei sind von den Einnahmen die Werbungskosten abzuziehen. Trotz finanzamtlicher Ausschlußfristsetzung nach § 364 b Abs. 1 Nr. 1 AO im Vorverfahren darf das Finanzgericht Rechtsschutz vollumfänglich gewähren (vgl. § 76 Abs. 3 FGO; BFHBStBl. II 1998, S. 269; II 1998, S. 399). Das Gericht darf lediglich über das Klagebegehren nicht hinausgehen (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO).
Entsprechend diesen Rechsgrundsätzen folgt der erkennende Senat den von der Klägerseite vorgetragenen bzw. vorgelegten Grundlagen für die geltend gemachten Werbungskosten, deren Höhe die beantragte Herabsetzung der Einkommensteuer rechtfertigen. Die geltend gemachten Werbungskosten (insgesamt etwa 5.200,00 DM) fügen sich in die - auch vom beklagten FA anerkannten - Einkünfteberechnungen der Steuerjahre vor und nach dem Streitjahr (Werbungskosten 1993: 9.560,00 DM; Werbungskosten 1995: 9.375,00 DM). Die Kl haben die verschiedenen Werbungskosten insgesamt schlüssig dargelegt und fundiert erläutert, so daß der Senat keinen Zweifel an der Richtigkeit der Aussagen der Klägerseite hatte, zumal die geltend gemachten Abzugsbeträge nicht über denen der Steuerjahre 1993 und 1995, sondern deutlich unter denen der anderen Jahre lagen.
Dagegen war die Schätzung des beklagten FA mit dem Ergebnis der alleinigen Berücksichtigung des Werbungskosten-Pauschbetrags in Höhe von 2.000,00 DM schon nach Aktenlage im Vorverfahren deutlich zu niedrig. Schon wegen dieser fehlerhaften Schätzung war es für den Senat angezeigt, sein in § 76 Abs. 3 Satz 1 FGO eingeräumtes Ermessen zugunsten der Kl zu gebrauchen. Denn bei allen Bestrebungen, das steuerliche Verfahrensrecht zu straffen (vgl. Bundestags-Drucksache 12/7427, S. 37 f.), geht es - jedenfalls im gerichtlichen Verfahren - in erster Linie um Wahrheitsfindung (dazu § 76 Abs. 1 FGO), nicht um einen möglichst kurzen Prozeß. Mit Recht weist Michael Zärban darauf hin, daß es nicht Aufgabeder Finanzgerichtsbarkeit ist, Probleme der Steuerverwaltung abzufedern oder die Steuerpflichtigen dem Wohlwollen der Behörden anzuempfehlen; vielmehr haben die Gerichte die Rechte der Bürger gegenüber der Verwaltung zu schützen, ihre Grundrechte auch gegenüber dem Gesetzgeber (BB 1995, S. 2627, 2628; KÖSDI 1996, S. 10907). So dient diese gerichtliche Ermessensentscheidung auf der Grundlage des § 76 Abs. 3 FGO der Effizienz des gerichtlichen Verfahrens, welches der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes in besonderem Maße verpflichtet ist (vgl. Art. 20 Abs. 2 Satz 2,Abs. 3 und 19 Abs. 4 des Grundgesetzes). Daß diese Entscheidung den Interessen des beklagten FA, welches im Vorverfahren gegen die Kl eine Ausschlußfrist gesetzt hatte, entgegensteht, ändert darin nichts (dazu auch BFH BStBl. II 1998, S. 269, 270).
Nach alledem war der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 137 FGO.