Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 10.09.1998, Az.: XI 202/95

Veranlagung in "aktenlosen Verfahren"; Einstufung einer Tatsache, die bisher unbekannt geblieben war, als neu; Berücksichtigung des doppelten Kinderfreibetrags und des vollen Körperbehindertenpauschbetrages bei einem Kind, das in einer Behindertenstätte betreut wird und volljährig ist

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
10.09.1998
Aktenzeichen
XI 202/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1998, 18633
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1998:0910.XI202.95.0A

Fundstellen

  • NWB DokSt 2000, 241
  • NWB DokSt 1999, 583
  • NWB DokSt 1999, 1172

Verfahrensgegenstand

Einkommensteuer 1993

Amtlicher Leitsatz

Bei einer Veranlagung in "aktenlosen Verfahren" gilt eine unbekannt gebliebene Tatsache im Hinblick auf die Änderungsbefugnis nach§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dann nicht als "neu", wenn zu einer (fiktiven) Einkommensteuerakte mit den Vorgängen der beiden Vorjahre vor der Schlußzeichnng der Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Schriftstück gelangt wäre, durch dessen Inhalt sich Ermittlungen zu der Tatsache aufgedrängt hätten.

Der XI. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts hat
ohne mündliche Verhandlung
in der Sitzung vom 10. September 1998,
an der mitgewirkt haben:
Vorsitzender Richter ... am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
ehrenamtlicher Richter ...
ehrenamtlicher Richter ...
fürRecht erkannt:

Tenor:

Der Einkommensteuerbescheid vom 06.03.1995 und der Einspruchsbescheid vom 27.04.1995 werden aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der an die Kläger und die Beigeladene zu erstattenden Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger und die Beigeladene vor der Vollstreckung Sicherheit leisten.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob den Klägern ein weiterer Kinderfreibetrag und der volle Behindertenpauschbetrag für den Sohn O zustehen.

2

Der Kläger und die Beigeladene sind die leiblichen Eltern ihres 1965 geborenen Sohnes O. O ist körperbehindert und völlig hilflos. Er lebt in einer Behindertentagesstätte. Seit O volljährig ist (1983), werden die durch die Unterbringung entstehenden Kosten durch den Sozialhilfeträger übernommen. Ein Rückgriff bei den Eltern erfolgt nicht.

3

Bis 1991 und zunächst auch für 1992 und 1993 (Streitjahr) wurden der doppelte Kinderfreibetrag und der - dem Grunde nach unstreitige - volle Körperbehindertenpauschbetrag für O bei der Veranlagung der Kläger berücksichtigt. Die Veranlagungen erfolgten ausweislich der auf den Steuererklärungen angebrachten Eingangsnummern im sogenannten "aktenlosen Verfahren", bei dem dem Bearbeiter nur die eingereichte Steuererklärung vorliegt und er durch Verwaltungsanweisungen gehalten ist, im Regelfall auf die Einsicht in die weggelegten Vorgänge der Vorjahre zu verzichten.

4

Die Beigeladene legte gegen die Versagung der hälftigen kindbedingten Entlastungen in ihrem Einkommensteuerbescheid 1992 erfolgreich Einspruch ein. Die Kläger waren zu diesem Rechtsbehelfsverfahren durch Verwaltungsakt vom 05.05.1994 (Bl. 15 Einkommensteuerakte - EStA) hinzugezogen. Der Beklagte änderte die Veranlagung 1992 der Kläger wegen widerstreitender Steuerfestsetzung gem. § 174 Abs. 4 AO. Der Änderungsbescheid wurde bestandskräftig.

5

Mit Bescheid vom 06.03.1995 (Bl. 57 EStA) änderte der Beklagte auch den Einkommensteuerbescheid 1993 vom 05.07.1994 und berücksichtigte auch hier nur noch die hälftigen kindbedingten Entlastungen. Die Änderung wurde auf die Vorschrift des § 173 Abs. 1 AO gestützt, wonach Steuerbescheide zu ändern sind, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Das Einspruchsverfahrenblieb erfolglos (Einspruchsbescheid vom 27.04.1995 - Bl. 73 EStA). Hiergegen richtet sich die Klage.

6

Die Kläger sind der Auffassung, ihnen stehe der doppelte Kinderfreibetrag und der ungekürzte Körperbehindertenpauschbetrag zu. Mit Beschluß vom 23.01.1976 (Amtsgericht - Bl. 20 EStA) sei die elterliche Gewalt für O dem Kläger übertragen worden. Dadurch seien der Beigeladenen "alle Rechte an meinem Sohn O aberkannt" worden. Durch weiteren Beschluß des Amtsgerichts vom 03.09.1993 (Amtsgericht) sei die Unterbringung von O in dem Heim angeordnet und gleichzeitig eine Betreuung eingerichtet worden. Betreuer sei der Kläger, und zwar mit dem Wirkungskreis der Bestimmung des Aufenthalts, der Regelung der Vermögensangelegenheiten und der Gesundheitsfürsorge einschließlich der Zustimmung zu ärztlichen Behandlungsmaßnahmen und sonstigen therapeutischen Maßnahmen. Die Beigeladene pflege im Gegensatz zum Kläger keinerlei persönliche Kontakte mehr zu O. Die streitigen Freibeträge dienten begrifflich und von ihrer gesetzlichen Intention her der Entlastung eines Steuerpflichtigen wegen bestehender außergewöhnlicher Aufwendungen und Belastungen, die vorliegend allein den klagenden Ehemann treffen.

7

Die Kläger beantragen sinngemäß,

den Einkommensteuerbescheid vom 06.03.1995 und den Einspruchsbescheid vom 27.04.1995 aufzuheben.

8

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Er meint, die Voraussetzungen für eine Übertragung des hälftigen Kinderfreibetrags und hälftigen Körperbehindertenpauschbetragsvon der Beigeladenen auf die Kläger seien nicht gegeben. Wenn, wie im Streitfall, der leibliche Elternteil einer Übertragung des ihm zustehenden Kinderfreibetrags nicht zustimme, könnten nach der gesetzlichen Regelung auf Antrag eines Elternteils die kindbedingten Entlastungen des anderen Elternteils nur dann auf ihn übertragen werden, wenn er, nicht jedoch der andere Elternteil, seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind für das Kalenderjahr im wesentlichen nachgekommen sei (§ 32 Abs. 6 Satz 4 Einkommensteuergesetz - EStG). Unterhaltsleistungen für seinen Sohn habe der Kläger jedoch nicht erbracht. Die Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids vom 05.07.1994 durch den angefochtenen Bescheid sei rechtmäßig. Es sei erst nachträglich, nämlich nach der insoweit maßgeblichen Schlußzeichnung des Eingabewertbogens für die Veranlagung 1993 am 08.06.1994, im Juli 1994 bekanntgeworden, daß der Kläger keine Unterhaltszahlungen mehr für O zu erbringen hatte.

10

Frau ... wurde mit Beschluß vom 11.01.1996 (Bl. 16 Gerichtsakte - GA) zu dem Verfahren beigeladen. Sachanträge hat die Beigeladene nicht gestellt. Ihrem Wissen nach habe der Kläger selbst sich auch nicht um O gekümmert, nur die Mutter des Klägers hätte gelegentlich O zu sich genommen.

11

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 27.11.1995, 26.05.1998 und mit einem undatierten, am 10.01.1996 eingegangenen Schriftsatz (Bl. 9, 45, 13 GA) auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Entscheidungsgründe

12

Die Klage ist begründet. Unabhängig von der zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsfrage sind der angefochtene Bescheid und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung aufzuheben, weil die Voraussetzungen für eine Änderung der mit dem Erstbescheid vom 05.07.1994 bestandskräftig erfolgten Steuerfestsetzung nicht vorliegen.

13

Die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden und auch vom Beklagten herangezogenen Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift sind Steuerbescheide u.a. dann aufzuheben oder zu ändern, wenn "neue Tatsachen" vorliegen, die zu einer höheren Steuer führen. Eine Tatsache ist "neu", wenn sie das Finanzamt bei Erlaß des ursprünglichen Steuerbescheides - nach gefestigter Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 18.03.1987 II R 226/84 Bundessteuerblatt II R226/84 Bundessteuerblatt II 1987, 416) wird auf die abschließende Zeichnung des entsprechenden Eingabewertbogens abgestellt - noch nicht kannte. Eine Tatsache gilt allerdings dann nicht als "neu", wenn sie dem Finanzamt bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre, sofern der Steuerpflichtige seinerseits seiner Mitwirkungspflicht voll genügt hat (BFH-Urteil vom 13.11.1985 II R 208/82 Bundessteuerblatt II 1986, 241). Für die Frage der Neuheit einer Tatsache kommt es auf die Kenntnis der zur Bearbeitung des Steuerfalles organisatorisch berufenen Dienststelle an. Bekannt ist der zuständigen Dienststelle der Inhalt der dort geführten Akten, ohne daß es insoweit auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters ankommt (vgl. BFH-Urteil vom 20.06.1985 IV R 114/82 Bundessteuerblatt II 1985, 492 m.w.N.). Nicht ohne weiteres als bekannt gilt freilich der Inhaltälterer bereits im Keller oder in vergleichbaren Räumen abgelegter Akten. Deren Inhalt muß die zuständige Dienststelle nur dann als bekannt gegen sich gelten lassen, wenn zur Hinzuziehung dieser Vorgänge nach den Umständen des Falles, insbesondere nach dem Inhalt der zu bearbeitenden Steuererklärung oder der präsenten Akten eine besondere Veranlassung bestand mit der Folge, daß das Unterlassen der Beiziehung eine Verletzung der Ermittlungspflicht nach sich zöge (BFH-Urteil vom 27.09.1963 III 165/61 Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1964, 89).

14

Nach diesen Grundsätzen gilt die Tatsache, daß der Kläger keine Unterhaltszahlungen mehr leisten mußte, nicht als "neu". Die Kläger sind so zu behandeln, als ob das Finanzamt Anlaß gehabt hätte, vor Erlaß des ursprünglichen Einkommensteuerbescheids weitere Ermittlungen zur Frage der Kindergeldberechtigung anzustellen. Zwar ergab sich aus den dem Bearbeiter vorliegenden Unterlagen selbst kein Grund für weitere Ermittlungen. Dies ist jedoch darauf zurückzuführen, daß der Steuerfall in dem sogenannten "aktenlosen Verfahren" abgewickelt wurde. Nach den Verwaltungsvorschriften sind die Bearbeiter in diesem Verfahren gehalten, die Vorgänge der Vorjahre nach Bearbeitung im Keller abzulegen und bei der Bearbeitung späterer Einkommensteuerveranlagungen grundsätzlich nicht heranzuziehen. Diese Verwaltungsanweisungen entfalten jedoch lediglich eine innerbehördliche Wirkung; sie richten sich allein an die Verwaltungsangehörigenund begrenzen - im Interesse einer praktikablen Handhabung der Massenverfahren im Arbeitnehmerbereich - deren Ermittlungspflichten. Diesen Verwaltungsvorschriften kommt indessen nicht eine darüber hinausgehende Bedeutung in dem Sinne zu, daß sie den von§ 173 Abs. 1 AO vorgegebenen Begriff der "neuen Tatsache" zu Lasten des in besonderer Weise der Rechtssicherheit dienenden Instituts der Bestandskraft erweitern können. Die gegenteilige Annahme würde es der Verwaltung ermöglichen, durch einseitige Beschränkung ihrer steuerlichen Ermittlungspflichten das Bekanntwerden bestimmter Tatsachen zu vermeiden und damit den gesetzlich geregelten Umfang der Bestandskraft nach eigenem Belieben zu verändern. Eine solche Verschiebung der Gewichte innerhalb des von den Vorschriften über die Bestandskraft (§§ 172 ff AO) regulierten Spannungsverhältnisses zwischen materieller Rechtsrichtigkeit und Rechtssicherheit muß dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Verzichtet daher die Verwaltung aufgrund innerdienstlicher Regelungen durch Ablage von Vorgängen der beiden vorangegangenen Jahre auf die Nutzung ihr leicht zugänglicher Erkenntnisquellen, so fällt dies in ihren eigenen Risikobereich. Ein solcher Verzicht kann grundsätzlich nicht zur Folge haben, daß diese Erkenntnisquellen auch im Außenverhältnis zum Steuerpflichtigen als nicht vorhanden anzusehen wären (BFH- Urteil vom 13.07.1990 VI R 109/86 Bundessteuerblatt II 1990, 1047).

15

Daß die Tatsache, daß der Kläger keinen Unterhalt für O leisten mußte, unbekannt geblieben ist, gilt danach als durch einen die Änderungsbefugnis nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ausschließenden Ermittlungsfehler der Finanzbehörde verursacht. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, der sich der Senat anschließt. Denn auch aus den bei der Akte befindlichen Unterlagen des Vorjahres 1992 ergibt sich die hier entscheidungserhebliche Tatsache nicht. Für die Vorgänge des Jahres 1991 dürfte Gleiches gelten. Die Unterlagen des Jahres 1991 fehlen zwar. Der Kläger behauptet aber auch selbst nicht, er habe in den für 1991 eingereichten Unterlagen darauf hingewiesen, daß er keinen Unterhalt erbringe. Der Senat kommt gleichwohl zur Stattgabe der Klage, weil er die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs dahin versteht, daß die im "aktenlosen Verfahren" veranlagten Steuerpflichtigen im Hinblick auf die Änderungsmöglichkeit bestandskräftiger Steuerfestsetzungen den übrigen veranlagten Steuerpflichtigen gleichgestellt werden müssen. Wäre aber im Streitfall eine Einkommensteuerakte geführt worden, in der die Vorgänge der beiden Vorjahre abgeheftet gewesen wären, wäre über die Steuererklärungen und -bescheide hinaus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch die unter der Steuernummer der Kläger erfolgte Hinzuziehung vom 05.05.1994 zum Einspruchsverfahren der Beigeladenen zumindest als Abschrift in dieser Akte abgelegt worden und hätte dem Bearbeiter zum Zeitpunkt der Schlußzeichnung der Veranlagung 1993 am 08.06.1994 zur Verfügung gestanden. Da in dem Hinzuziehungsbescheid die Bekundung der Beigeladenen wiedergegeben wird, für den Kläger habe keine Verpflichtung zur Unterhaltszahlung bestanden, hätten sich weitere Ermittlungen in dieser Frage aufgedrängt. Eine gleichwohl durchgeführte Veranlagung wäre unter Verletzung der Ermittlungspflicht der Finanzbehörde zustande gekommen mit der Folge, daß die so unbekannt gebliebene Tatsache nicht als "neu" gegolten hätte. Aus dem Gebot, die im "aktenlosen Verfahren" veranlagten Kläger mit den übrigen Steuerpflichtigen gleichzustellen, folgt mithin, daß die Tatsache auch den Klägern gegenüber nicht als "neu" gilt.

16

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 u.3 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. § 708 Nr. 10, 711 ZPO.