Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 05.09.2002, Az.: 1 ME 182/02
Abstand; Abstandfläche; Abstandsfläche; Aufstockung; Baulast; Flachdach; Gebot der Rücksichtnahme; Gebäude; Rücksichtnahme; Rücksichtnahmegebot; Spitzdach; Straßenfläche; Verkehrsfläche; Verzicht
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 05.09.2002
- Aktenzeichen
- 1 ME 182/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 43909
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 25.06.2002 - AZ: 4 B 2509/02
Rechtsgrundlagen
- § 9 Abs 1 S 1 BauO ND
- § 9 Abs 1 S 2 BauO ND
- § 9 Abs 2 BauO ND
- § 7a Abs 1 BauO ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Der Bauherr kann gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbs. iVm Abs. 2 NBauO durch Baulast abstandsrechtlich die volle Straßenbreite für sein Vorhaben gewinnen, wenn derjenige, dem das Grundstück auf der gegenüberliegenden Straßenseite gehört, durch Baulast auf die Inanspruchnahme "seiner Straßenhälfte" verzichtet; das gilt selbst dann, wenn dieses gegenüberliegende Grundstück baulich nicht genutzt werden kann. Der Eigentümer des Grundstücks, das "dahinterliegt" und von dem anderen von der öffentlichen Verkehrsfläche getrennt ist, kann ihn in diesem Fall nicht auf die Anwendung von § 9 Abs. 1 Satz 2 NBauO verweisen.
Gründe
Mit den angegriffenen Bescheiden vom 26. und 29. April 2002 genehmigte die Antragsgegnerin die Aufstockung der westöstlich in Reihe aufgestellten, dreigeschossigen und bislang flach gedeckten Mehrfamilienhäuser F. straße 3 und 5 (Flurstücke 286/22 und 286/23), um dort jeweils eine Wohnung zu schaffen, sowie die Errichtung von Spitzdächern auf den südlichen Teilen der Flachdächer der Gebäude F. straße 7 und 9. Die Antragsteller, deren Einfamilienhausgrundstück (Flurstück 78/32) nördlich davon liegt, machen mit der rechtzeitig eingelegten und begründeten Beschwerde im Wesentlichen die Verletzung von Grenzabstandsvorschriften und des Gebots der Rücksichtnahme (erdrückende Wirkung) geltend und führen dazu aus: Zwar schiebe sich das halbmondförmige, im streitigen Bereich sich keilförmig nach Osten zuspitzende Flurstück 286/47 der Antragsgegnerin zwischen die nördlich der Baugrundstücke verlaufende, 2,5 m breite öffentliche Gemeindestraße (Flurstück 286/11) und die Südgrenze ihres Grundstücks. Auch wenn dieses Flurstück 286/47 zugunsten des Baugrundstücks mit einer Baulast belegt sei, ändere das nichts daran, dass die Hälfte des öffentlichen Weges abstandsrechtlich ihnen zustehe. Das nach ihrer Behauptung als öffentliche Grünfläche festgesetzte Flurstück 286/47 könne nur unter den hier nicht erfüllten Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 2 NBauO berücksichtigt werden.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO n.F. ist die Prüfung des Senats auf die rechtzeitig, das heißt innerhalb der ab Zustellung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung laufenden Monatsfrist vorgebrachten Gesichtspunkte beschränkt. Diese rechtfertigen keine den Antragstellern günstigere Entscheidung.
Ausgangspunkt der Überlegung hat - wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat - zu sein, dass ein Eilantrag des Nachbarn nur dann Erfolg haben kann, wenn sich bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in der Regel nur summarisch möglichen und nötigen Prüfung ergibt, dass der nachbarliche Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg haben wird. Denn im öffentlich-rechtlichen Nachbarschutz bleibt der antragstellende Nachbar von den nachteiligen Folgen des § 945 ZPO verschont. Ausgewogen wäre der einstweilige Rechtsschutz daher nicht, wenn er dem Nachbarinteresse, dem Bauherrn die Ausnutzung des Bauscheins einstweilen zu versagen, bereits dann den Vorrang gäbe, wenn die Erfolgsaussichten lediglich offen sind.
Es wird aller Voraussicht nach nicht zu beanstanden sein, dass die Beigeladene abstandsrechtlich die Verkehrsfläche auf dem als öffentliche Straße gewidmeten Flurstück 286/11 vollen Umfangs für sich in Anspruch nimmt und damit den Antragstellern abstandsrechtlich "nichts übrig lässt". Richtig ist zwar, dass nach § 9 Abs. 1 Satz 1 NBauO diese Flächen den "benachbarten" Grundstücken grundsätzlich nur zur Hälfte, das heißt bis zur Mittellinie zustehen. Das gilt gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbs. NBauO jedoch dann nicht, wenn und soweit der andere, gegenüberliegende Anlieger in der Form des § 9 Abs. 2 NBauO auf "seine", das heißt die ihm zustehende abstandsrechtliche Inanspruchnahme der anderen Straßenverkehrsflächenhälfte verzichtet (vgl. Barth/Mühler, Abstandsvorschriften der NBauO, 2. Aufl. 2000, § 9 Rdn. 9). Das ist hier durch die nach Erteilung der angegriffenen Bescheide von der Antragsgegnerin bestellte Baulast Nr. 32/02 geschehen, mit der die Antragsgegnerin als Eigentümerin des Flurstücks 286/47 auf "die halbe Breite der angrenzenden öffentlichen Verkehrsfläche (Flst. 286/11) für die Bemessung der Abstände von Gebäuden auf seinem Grundstück in Anspruch zu nehmen" zugunsten der Beigeladenen verzichtet hat. Diese dem beigeladenen Bauherrn günstige Veränderung der Sachlage ist zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.9.1969 - IV C 18.67 -, DÖV 1970, 135, LS 3; Urt. v. 14.4.1978 - 4 C 96 + 97.76 -, DVBl. 1978, 614, 615 m.w.N.).
Unter Berufung auf § 9 Abs. 1 Satz 2 NBauO können die Antragsteller diese Rechtswirkungen nicht leugnen. Dabei kann der Senat hier unentschieden lassen, ob diese Vorschrift schon von der Systematik her § 9 Abs. 1 Satz 1 NBauO nicht vorgehen kann. Denn § 9 Abs. 1 Satz 2 NBauO greift aus einem anderen Grund nicht ein. Das Flurstück 286/47 stellt nach dem von der Beigeladenen vorgelegten Auszug aus dem Bebauungsplan der Antragsgegnerin Nr. 1 "G." weder in der Ur- noch in der Fassung seiner 1. Änderung eine öffentliche Grünfläche dar; vielmehr ist für das Flurstück 286/47 lediglich Fläche für Anpflanzungen festgesetzt. So stellt dies im Übrigen in ihrer Beschwerdeerwiderung vom 13. August 2002 auch die Antragsgegnerin selbst dar.
Ein Allgemeingebrauch an dem Flurstück 286/47 dürfte ausweislich der mit Beigeladenenschriftsatz vom 13. August 2002 eingereichten Fotos im Übrigen auch deshalb ausgeschlossen sein, weil das Grundstück so stark bewachsen ist, dass eine Nutzung durch die Allgemeinheit ausscheidet.
Voraussichtlich ohne Erfolg werden sich die Antragsteller gegen die Anwendung des § 7 a Abs. 1 NBauO wenden. Der Senat verweist auf die Beschwerdeangriffe zunächst gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die zutreffenden Gründe der angegriffenen Entscheidung. Der Bauherr kann es sich aussuchen, gegenüber welchen beiden Grenzabschnitten er das Schmalseitenprivileg in Anspruch nimmt/nehmen will. Das Gesetz lässt es nach seinem eindeutigen Wortlaut des Weiteren zu, dass der Baukörper dort länger als 17 m ist. Es ist dann Sache des Bauherrn dafür zu sorgen, wie er im Übrigen sein Vorhaben in Einklang mit den Grenzvorschriften bringt. Dazu darf er andere Vergünstigungen in Anspruch nehmen. Ein Kumulationsverbot ist den §§ 7 ff. NBauO nicht zu entnehmen. Es ist der Beigeladenen - wie vorstehend zu § 9 NBauO ausgeführt - aller Voraussicht nach gelungen, diesen Einklang mit dem Abstandsrecht herzustellen.
Eine Korrektur ist nicht über die Niedersächsischen Abstandsrechtsvorschriften, sondern nur über das Gebot der Rücksichtnahme möglich. Dieses ist entgegen dem Beschwerdeangriff aller Voraussicht nach indes nicht verletzt. Von dem Gebäudekomplex werden nach Verwirklichung der angegriffenen Baumaßnahme insbesondere keine erdrückenden Wirkungen ausgehen. Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, welcher der Senat folgt, zwar geklärt, dass ein Vorhaben in Fällen einer "erdrückenden Wirkung" nachbarliche Rechte verletzt/verletzen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.3.1981 - 4 C 1.78 -, DVBl. 1981, 928; Urt. v. 30.9.1983 - 4 C 18.80 -, NJW 1984, 250; Urt. v. 23.5.1986 - 4 C 34.85 -, DVBl. 1986, 1271). Eine erdrückende Wirkung kann nicht nur durch die Höhe der Gebäude auftreten, sondern auch durch die Baumasse beziehungsweise die Länge von Gebäuden. Das anzunehmen kommt in Betracht, wenn durch die genehmigte Anlage Nachbargrundstücke regelrecht "abgeriegelt" werden (siehe dazu OVG Lüneburg, Urt. v. 29.9.1988 - 1 A 75/87 -, BRS 48 Nr. 164) oder das Gefühl des "Eingemauertseins", das heißt eine "Gefängnishof-Situation" entsteht (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 11.4.1997 - 1 L 7286/95 -, ZMR 1997, 493 = GWW 1998, 151 = BRS 59 Nr. 164).
Nach den Fotos, welche sowohl die Antragstellerseite als auch die Beigeladenenseite zu diesem Verfahren eingereicht haben, kann von einer erdrückenden Wirkung ernstlich keine Rede sein. Die Antragsteller haben ihr Wohngebäude von der Südgrenze ihres Grundstücks deutlich abgerückt. Zudem sind sie von den dreigeschossigen Wohngebäuden durch den ausgedehnten Grüngürtel auf dem Flurstück 286/47 optisch und von der Entfernung her getrennt. Selbst wenn die Flachdächer in der genehmigten Weise aufgestockt werden, treten die südlich ihres Grundstücks gelegenen Mehrfamiliengebäude dem Grundstück der Antragsteller bei objektiver Betrachtung nicht mit einer Ausdehnung gegenüber, welche jedes Verhältnis vermissen lässt und bei ihnen berechtigterweise den Eindruck aufkommen lassen könnte, nach Art eines Gefängnishofes eingemauert, das heißt gleichsam von jeder Luft zum Atmen abgeschnürt oder nachgerade mit Scheuklappen versehen zu sein. Dass die Antragsteller, die sich an die gegenwärtige Situation gewöhnt und das vom Bebauungsplan der Antragsgegnerin Nr. 1 "G." gewollte Nebeneinander von zweigeschossigen Einfamilienhäusern und dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern nur widerwillig hingenommen haben mögen, das anders sehen, ändert daran nichts. Die Anfügung der streitigen Baumaßnahme wird den Lichteinfallswinkel zu ihrem Grundstück - wenn überhaupt - dann nur in sehr untergeordnetem Umfang zusätzlich einschränken. Von einer rücksichtslosen Einschränkung kann deswegen keine Rede sein.
Rücksichtslos ist es auch nicht, dass die Beigeladene auch auf den Flachdächern der Gebäude Nrn. 7 und 9 Spitzdächer errichten will. Es mag zwar sein, dass ein Unterlassen dieser Maßnahme die Situation zugunsten der Antragsteller geringfügig verbesserte. Ein Nachbar hat jedoch auch unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Rücksichtnahme keinen Anspruch darauf, dass die nachbarverträglichste Lösung gewählt wird. Ist die vom Bauherrn gewählte und von der Bauaufsichtsbehörde genehmigte Variante - und sei es "noch" - in Einklang mit dem Gebot der Rücksichtnahme, so muss der Nachbar dies hinnehmen. Einen Anspruch auf eine noch bessere Lösung hat er nicht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.6.1997 - 4 B 97.97 -, NVwZ-RR 1998, 357).
Auf die - im Übrigen nur ausgesprochen geringfügige - Überschreitung der Baugrenze an der Nordostecke des Gebäudes F. straße 7 können sich die Antragsteller nicht berufen. Die Festsetzungen zum Nutzungsmaß haben grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.6.1995 - 4 B 52.95 -, BRS 57 Nr. 209; Beschl. v. 19.10.1995 - 4 B 215/95 -, BRS 57 Nr. 219). Dafür, dass dies hier ausnahmsweise anders sein soll, ist kein Anhaltspunkt ersichtlich und in der Beschwerde auch nicht geltend gemacht worden (vgl. nochmals § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO n.F.).
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO.
Der vom Verwaltungsgericht gefundene Streitwert ist gemäß § 25 Abs. 2 Satz 2 GKG zu korrigieren. Zur gleichmäßigen Ausübung des für die Streitwertfestsetzung gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG ausschlaggebenden Ermessens haben sich der 1. und der 9. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts einen Streitwertkatalog gegeben, der in NdsVBl. 2002, 192 = NordÖR 2002, 197 veröffentlicht worden ist. Nach dessen Nr. 8 a reicht der Streitwertrahmen bei der Beeinträchtigung eines Einfamilienhauses von 4.000,-- € bis 30.000,-- €. Angesichts der Einbußen, denen sich die Antragsteller nach ihrem Vortrag bei Verwirklichung des angegriffenen Vorhabens ausgesetzt sehen, reicht es nicht aus, deren Interesse an einem ihnen günstigen Verfahrensausgang lediglich mit 10.000,-- € für das Hauptsacheverfahren zu bemessen. Vielmehr wird es (mindestens) erforderlich sein, dieses Interesse mit 15.000,-- € zu beziffern. Dieser Betrag ist gemäß § 20 Abs. 3 GKG (vgl. auch Nr. 18 b der zitierten Streitwertannahmen) für das Eilverfahren zu halbieren.