Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 05.09.2002, Az.: 1 ME 183/02

Abstand; Aufstockung; Baugenehmigungsverfahren; Flachdach; Gebäude; Mehrfamilienhaus; Neuberechnung; Prüfungsumfang; Spitzdach; Statik

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
05.09.2002
Aktenzeichen
1 ME 183/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 43785
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 25.06.2002 - AZ: 4 B 2512/02

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Wird einem bislang flach gedeckten Mehrfamilienhaus teilweise ein Spitzdach aufgesetzt, ist bei der Prüfung der Abstandsvorschriften jedenfalls dann nicht das gesamte Gebäude, sondern nur die Aufstockung zu betrachten, wenn diese Aufstockung eine Neuberechnung der Statik nicht erforderlich macht.

Gründe

1

Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Beschwerde nur noch dagegen, dass die Beigeladene auf den Flachdächern der Gebäude E. straße 7 und 9 in einem Abstand von 3,20 m zur nördlichen Dachkante etwa 3 m hohe Spitzdächer errichten darf. Sie meint, diese Maßnahme sei rücksichtslos, weil sie sie gleichsam einmauere. Außerdem und vor allem verstoße sie gegen das Grenzabstandsrecht. Der vorhandene Baukörper, der den nunmehr erforderlichen Abstand insbesondere zu Lasten ihres Grundstückes nicht (vollständig) einhalte, sei nämlich in die Betrachtung mit einzubeziehen, da die Baumaßnahme eine Beurteilung des gesamten Baukörpers erforderlich mache.

2

Die Beigeladene ist Eigentümerin von vier westöstlich aufgestellten, dreigeschossigen, bislang flach gedeckten Mehrfamilienhäusern, welche südlich der E. straße stehen. Die Gebäude Nrn. 3 und 5 stehen bündig, die Gebäude Nrn. 7 und 9 weichen versetzt nach Süden zurück. Mit in der Parallelsache 1 ME 182/02 angegriffenen Bescheiden genehmigte die Antragsgegnerin die Aufstockung der Gebäude Nrn. 3 und 5 um ein Satteldach, das in voller Gebäudebreite errichtet werden und die Unterbringung je einer Wohnung ermöglichen soll. Unter anderem zur optischen Angleichung, aber auch zwecks Flachdachsanierung will die Beigeladene auf den östlich anschließenden Gebäuden Nrn. 7 und 9 die oben beschriebenen Maßnahmen durchführen und zudem fast an der gesamten Länge der Nordkante des Gebäudes Nr. 7 eine Regenrinne anbringen.

3

Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag, der sich auch gegen die Genehmigungen für die Gebäude Nrn. 3 und 5 gerichtet hatte, mit der angegriffenen Entscheidung, auf deren Einzelheiten verwiesen wird, abgelehnt.

4

Die rechtzeitig erhobene und begründete Beschwerde hat keinen Erfolg.

5

Dem Verwaltungsgericht ist darin zuzustimmen, dass ein Nachbareilantrag in der Regel nur dann Erfolg haben kann, wenn sich bei der in diesen Verfahren in der Regel nur summarisch möglichen Überprüfung ergibt, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg haben wird. Stellte man geringere Anforderungen an den Nachbareilantrag, wäre der öffentlich-rechtliche Nachbarschutz nicht ausgewogen. Denn der Antragsteller bleibt in diesen Verfahren von den Folgen des § 945 ZPO verschont. Dementsprechend verstärkte Bedeutung kommt den Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs zu.

6

Diese hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint. Es lässt sich bereits jetzt absehen, dass der Rechtsbehelf der Antragstellerin, soweit sie ihn mit der Beschwerde, das heißt mit Rücksicht auf die Gebäude Nrn. 7 und 9 weiterverfolgt, voraussichtlich ohne Erfolg bleiben wird. Sie wird danach insbesondere nicht geltend machen können, bei den abstandsrechtlichen Beurteilungen sei der gesamten Baukörper der Gebäude Nrn. 7 und 9 in die Betrachtung einzubeziehen. Das ergibt sich aus § 99 Abs. 3 NBauO. Dieser Vorschrift ist zu entnehmen, dass bei einer Erweiterung eines Gebäudes der Prüfungsgegenstand im Baugenehmigungsverfahren begrenzt ist. Nach § 99 Abs. 3 NBauO kann die Bauaufsichtsbehörde bei Änderungen einer bestehenden baulichen Anlage nur unter bestimmten Voraussetzungen verlangen, dass auch von den Änderungen nicht betroffene Teile dieser Anlage an das Niedersächsische Bauordnungsrecht angepasst werden. § 99 Abs. 3 NBauO liegt damit die Vorstellung zugrunde, dass die Anforderungen der Niedersächsischen Bauordnung grundsätzlich nicht für die Teile der bereits bestehenden baulichen Anlagen gelten, die von einer Änderung nicht berührt werden. Die Erweiterung des Gebäudes lässt damit den alten Baubestand unberührt, so dass die Abstandsanforderungen der Niedersächsischen Bauordnung nur für den Anbau gelten (vgl. Senatsbeschl. v. 28.9.1999 - 1 M 3416/99 -, V.n.b.). Der vorhandene Baubestand der Gebäude Nrn. 7 und 9 wäre danach abstandsrechtlich nur dann in die Betrachtung einzubeziehen, wenn die "Änderung" den vorhandenen Baubestand gleichsam nur benutzte und durch den Umbau ein neues Vorhaben entstünde, das heißt wenn der "Umbau" einem Neubau gleichkäme (vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO, 7. Aufl., § 99 Rdn. 5). Davon kann keine Rede sei. Das Aufbringen der beiden Satteldächer auf dem südlichen Flachdachteil macht ebenso wenig wie die Anbringung einer Regenrinne eine statistische Neuberechnung beider Gebäude erforderlich. Auch optisch kann keine Rede davon sein, dass durch die Aufstellung beider Dächer ein Neubau entsteht, der den baulichen Altbestand seiner Identität beraubt und in einem qualitativ neuen Bauwerk aufgehen lässt. Vielmehr wird der vorhandene Baubestand optisch und funktionell lediglich ergänzt.

7

Der damit für die Betrachtung allein maßgebliche Dachaufbau hält den Grenzabstand ein. Die Beigeladene darf für den östlichen Teil der hier allein noch interessierenden Baumaßnahme das Schmalseitenprivileg des § 7 a Abs. 1 NBauO in Anspruch nehmen. Die Niedersächsische Bauordnung gestattet es dem Bauherrn mit dieser Vorschrift, gegenüber zwei von ihm frei zu wählenden Grenzabschnitten nur ½ H einhalten zu müssen. Das gilt selbst dann, wenn das Gebäude/die Baumaßnahme insgesamt länger ist als 17 m. Es ist dann Aufgabe des Bauherrn sicherzustellen, dass die Baumaßnahme auch im Übrigen in Einklang mit den Grenzabstandsvorschriften steht. Ein Kumulierungs-, das heißt ein Verbot, dazu andere abstandsrechtliche Vergünstigungen in Anspruch zu nehmen, enthält die Niedersächsische Bauordnung nicht. Dementsprechend ist das angegriffene Vorhaben - was mit der Beschwerde ernstlich auch nicht in Abrede genommen wird - mit dem Abstandsrecht in Einklang.

8

Eine Grenze bildet insoweit nur das Gebot der Rücksichtnahme. Auch dieses wird aller Voraussicht nach durch die hier allein maßgebliche Baumaßnahme nicht verletzt sein. Ein Bauvorhaben kann "erdrückende Wirkung" haben und damit nachbarliche Rechte verletzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.3.1981 - 4 C 1.78 -, DVBl. 1981, 928; Urt. v. 30.9.1983 - 4 C 18.80 -, NJW 1984, 250; Urt. v. 23.5.1986 - 4 C 34.85 -, DVBl. 1986, 1271). Diese erdrückende Wirkung kann nicht nur durch die Höhe der Gebäude auftreten, sondern auch durch die Baumasse beziehungsweise ihre Länge. Das anzunehmen kommt in Betracht, wenn durch die genehmigte Anlage Nachbargrundstücke regelrecht "abgeriegelt werden" (siehe dazu Senatsurt. v. 29.9.1988 - 1 A 75/87 -, BRS 48 Nr. 164) oder das Gefühl des "Eingemauertseins", das heißt eine Art "Gefängnishof-Situation" entsteht (vgl. dazu Senatsurt. v. 11.4.1997 - 1 L 7286/95 -, ZMR 1997, 493 = DWW 1998, 151 = BRS 59 Nr. 164).

9

Nach den sowohl von der Antragsteller- als auch der Beigeladenenseite in der Parallelsache 1 ME 182/02 vorgelegten Fotografien kommt die Annahme nicht ernstlich in Betracht, diese Maßnahme könne bei der Antragstellerin das Gefühl des Eingemauertseins hervorrufen oder gar verstärken. Für die Regenrinne - sofern diese noch Teil der Beschwerde sein sollte - liegt dies so offen auf der Hand, dass sich Ausführungen erübrigen. Das gilt aber auch hinsichtlich der Dachaufbauten. Diese sollen im südlichen und damit dem Grundstück der Antragstellerin abgewandten Teil des Flachdachs errichtet werden. Das Lichteinfallsprofil werden die Dächer zu Lasten der Antragstellerin allenfalls geringfügig verringern. Es mag sein, dass die Antragstellerin sie als Einbuße wahrnehmen wird. Maßgeblich ist indes nicht ihr persönlicher, subjektiver Eindruck, sondern eine objektive Betrachtung der Frage, ob das Freiluftprofil damit in unverhältnismäßiger Weise verkürzt wird und die Mehrfamilienhäuser dem Grundstück der Antragstellerin nunmehr in unverhältnismäßiger Vergrößerung, das heißt unter grober Verkennung der nach der Lage der Dinge zu beachtenden Maßstäbe gegenübertreten. Davon kann keine Rede sein.

10

Ohne rechtliches Interesse ist dabei, ob die Beigeladene zur Erreichung des Ziels "Verbesserung der Situation am Flachdach" auch eine andere, noch nachbarverträglichere Lösung hätte finden können - etwa indem sie ein flaches, nach Süden ansteigendes Pultdach gewählt hätte. Denn ist die vom Bauherrn gefundene Lösung (und sei es "noch") nicht rücksichtslos, hat der Nachbar keine Rechtsmacht, vom Bauherrn zu verlangen, er möge gleichwohl einer ihm noch mehr konvenierenden Lösung den Vorzug geben (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.6.1997 - 4 B 97.97 -, NVwZ-RR 1998, 357 = BRS 59 Nr. 176). Dementsprechend kommt es auch nicht auf die Behauptung der Antragstellerin an, die angegriffene Maßnahme sei "vollkommen überflüssig". Diese Einschätzung trifft im Übrigen auch nicht zu. Es ist ein billigenswertes Anliegen eines Bauherrn verhindern zu wollen, dass die Baumaßnahme an zwei von vier Mehrfamilienhäusern deren Gesamt-Erscheinungsbild auseinander reißt und damit beeinträchtigt. Es bewirkte in der Tat ein etwas absonderliches Bild, zwei Gebäuden ein Satteldach anfügen zu können, beiden Nachbargebäuden, deren Mauerwerk die Zugehörigkeit zu ihnen verdeutlicht, dabei aber ein Flachdach zu belassen. Zudem wird durch diese Maßnahme der allgemein bekannten Anfälligkeit von Flachdächern zumindest zum Teil begegnet. Dass beide Ziele wegen der Grenzabstandsvorschriften nicht vollständig, das heißt in voller Dachbreite erreicht werden können, berechtigt die Antragstellerin nun nicht auch noch dazu, die Maßnahme mit der Begründung abwehren zu können, das Ziel der Flachdachsanierung könne insgesamt ja nicht mit der Aufbringung eines Satteldaches erreicht werden.

11

Aus der in der Beschwerdebegründung eher behaupteten denn im Einzelnen nachgewiesenen, nach Lage der Dinge allenfalls geringfügigen Überschreitung der Baugrenze, welche die Antragsgegnerin in ihrem Bebauungsplan Nr. 1 "F." festgesetzt hat (Nordostecke des Gebäudes Nr. 7) kann die Antragstellerin aus mehreren Gründen keine ihr positiven Rechtsfolgen herleiten. Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung haben in der Regel keine nachbarschützende Wirkung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.6.1995 - 4 B 52.95 -, BRS 57 Nr. 209; Beschl. v. 19.10.1995 - 4 B 215/95 -, BRS 57 Nr. 219).  Die Beschwerdebegründung enthält keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass dies hier ausnahmsweise anders sein soll (vgl. nochmals § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO n.F.). Zudem tangiert die hier angegriffene Baumaßnahme diesen Teil des Gebäudes nicht. Die beiden Satteldächer sollen eindeutig im überbaubaren Teil der Grundstücke errichtet werden.

12

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.

13

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren ist in der vom Verwaltungsgericht festgesetzten Höhe anzunehmen, obwohl sich der Streitgegenstand gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren verringert hat. Denn das Verwaltungsgericht hat den Streitwert für das Verfahren im ersten Rechtszug mit der Folge zu gering festgesetzt, dass dies gemäß § 25 Abs. 2 Satz 2 GKG zu korrigieren ist. Die Antragstellerin hat nicht nur die Verletzung von Grenzabstandsvorschriften geltend gemacht und dabei gemeint, auch der vorhandene Baubestand müsse dazu in die Betrachtung einbezogen werden. Sie hat zudem gemeint, von dem Vorhaben gingen zu ihren Lasten erdrückende Wirkungen aus. Wenn ein Nachbar mit dem angegriffenen Vorhaben derartige Wirkungen verbindet, kann sein Interesse an einem ihm vorteilhaften Verfahrensausgang in Anwendung des § 13 Abs. 1 Satz 1 und der Nr. 8 lit. a der Streitwertannahmen des 1. und 9. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (NordÖR 2002, 197 = NdsVBl. 2002, 192) für das Hauptsacheverfahren nur mit (mindestens) 15.000,-- € angenommen werden. Dieser Wert ist für das Eilverfahren nach § 20 Abs. 3 GKG zu halbieren.