Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.07.2016, Az.: 5 Sa 185/16

Abgeltung tariflicher Bereitschaftszeiten im Rettungsdienst als mit dem Mindestlohn zu vergütende Arbeitsleistung

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
28.07.2016
Aktenzeichen
5 Sa 185/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 24902
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2016:0728.5SA185.16.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BAG - 11.10.2017 - AZ: 5 AZR 594/16

Amtlicher Leitsatz

Die Ableistung von Bereitschaftszeiten ist nach der Vergütungsstruktur des DRK RTV abgegolten. Diese Abgeltung ist zulässig und verstößt nicht gegen die Vorschrift des MiLog.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Celle vom 06.01.2016 - 2 Ca 428/15 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Vergütung Bereitschaftszeiten, wobei als Vorfrage problematisch ist, ob das anwendbare Vergütungssystem in zulässiger Weise eine Abgeltung auch vor dem Hintergrund des Mindestlohngesetzes vorgenommen hat.

Der Kläger ist bei dem Beklagten in dessen Rettungsdienst tätig. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Reformtarifvertrag des Deutschen Roten Kreuzes (DRK-RTV) in seiner jeweilig gültigen Fassung Anwendung. Der Kläger erhält Vergütung nach der Entgeltgruppe VIII Stufe 5 des DRK-RTV in Höhe von derzeit monatlich 3.007,15 € brutto als Grundgehalt.

In den Monaten Januar bis September 2015 leistete er insgesamt 339,95 Stunden Arbeitsbereitschaft, für die er eine Vergütung in Höhe von jeweils 8,50 € entsprechend dem MiLoG begehrt. Er machte diesen Anspruch mit Schreiben vom 11.03 und 25.09.2015 gegenüber dem Beklagten geltend.

Nach § 12 Abs. 1 DRK-RTV beträgt die wöchentliche regelmäßige Arbeitszeit 38,5 Stunden wöchentlich und kann nach § 12 Abs. 6 b dieses Tarifvertrages auch bis zu 12 Stunden täglich und 48 Stunden wöchentlich verlängert werden, wenn in diese Arbeitszeit regelmäßig eine Arbeitsbereitschaft von durchschnittlich mindestens drei Stunden täglich fällt. Der Beklagte macht von dieser Verlängerungsoption regelmäßig Gebrauch, wobei im Streitzeitraum die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden der Kläger niemals überschritten hat.

Im Übrigen lauten die einschlägigen Bestimmungen des DRK-RTV auszugweise wie folgt:

§ 14 Abs. 2.

Der Mitarbeiter erhält neben seinem Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung bzw. deren Bewertung als Arbeitszeit gemäß Abs. 10 und 11 Zeitzuschläge. Sie betragen:

a.) für nicht durch Freizeit gemäß Abs. 1 ausgeglichene Überstunden

50 v. H.,

b.) für Sonntagsarbeit

25 v. H.,

c.) für Feiertagsarbeit

35 v. H.,

d.) für Arbeit am 24. Dezember und 31. Dezember jeweils ab 14.00 Uhr

35 v. H.,

e.) für Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaftsdienst

25 v. H.

des auf eine Stunde entfallenden Anteils des monatlichen Entgelts der Stufe 1 der jeweiligen Entgeltgruppe bzw. bei Entgeltgruppe 1 der Stufe 2. abweichend von Satz 2 wird zur Berechnung der Zeitzuschläge in den Entgeltgruppen EG9b, EG7, EG6a und EG4 mit Erreichen der Stufe 3, sowie 7a und 6b mit Erreichen der Stufe 4 wie folgt verfahren:

- Basis für die Berechnung der Zeitzuschläge für die EG9b ist das Stundenentgelt der EG 9a Stufe 1.

- Basis für die Berechnung der Zeitzuschläge für die EG7 ist das Stundenentgelt der EG 8 Stufe 1.

- Basis für die Berechnung der Zeitzuschläge für die EG6a ist das Stundenentgelt der EG 6 Stufe 1.

- Basis für die Berechnung der Zeitzuschläge für die EG4 ist das Stundenentgelt der EG 5 Stufe 1.

- Basis für die Berechnung der Zeitzuschläge für die EG7a ist das Stundenentgelt der EG 8 Stufe 1.

- Basis für die Berechnung der Zeitzuschläge für die EG6b ist das Stundenentgelt der EG 6 Stufe 1.

- Pro geleistete Stunde wird für

§ 19 Tabellenentgelt

(1)

Der Mitarbeiter erhält ein monatliches Tabellenentgelt. Die Höhe bestimmt sich nach der Entgeltgruppe, in die er eingruppiert ist, und nach der für ihn geltenden Stufe.

§ 29 Berechnung und Auszahlung des Entgelts

(1)

Bemessungszeitraum für das Tabellenentgelt und die sonstigen Entgeltbestandteil ist der Kalendermonat, soweit tarifvertraglich nicht ausdrücklich etwas abweichendes geregelt ist.

...

(7)

Mit dem Entgelt ist die regelmäßige Arbeitszeit, auch wenn sie nach § 12 verlängert ist, abgegolten.

Die Tabellenentgelte sind in einer sogenannten "Tabelle Entgeltgruppe ab 01.04.2015 "entsprechend der Entgeltgruppe und der zugrunde liegenden Stufe als Monatsbetrag ausgewiesen.

Daneben sieht der Tarifvertrag in der Anlage B2 für den Rettungsdienst Stundenentgelte vor, die entsprechend den Entgeltgruppen und den Stufen zugewiesen sind. Diese Stundenentgelte sind auf der Basis einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden berechnet worden. Für die Vergütung des Klägers ist ein Stundenentgelt (Entgeltgruppe VIII, Stufe 5) in Höhe von 17,11 € brutto ausgewiesen.

Mit seiner Klage hat der Kläger 2.889,58 € brutto auf der Basis von 339,95 Stunden geleisteter Bereitschaftszeiten zu je 8,50 € brutto geltend gemacht. Er hat die Auffassung vertreten, die Pauschalabgeltung des Tarifvertrages sei unzulässig. Der Tarifvertrag müsse so ausgelegt werden, dass die Bereitschaftszeiten nicht mit dem Mindestlohn des Mindestlohngesetzes von 8,50 € bewertet worden und deswegen extra zu vergüten seien.

Er hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an ihn 2.889,58 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten seit dem 13.11.2015 zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat das von ihm angewendete tarifvertragliche Vergütungssystem als rechtmäßig verteidigt sowie die Auffassung vertreten, er habe sämtliche vom Kläger geleistete Arbeitszeit ordnungsgemäß erfüllt.

Mit Urteil vom 06.01.2016 hat das Arbeitsgericht Celle die Klage abgewiesen. Wegen der genauen Einzelheiten der rechtlichen Würdigung wird auf die Entscheidungsgründe dieses Urteils (dort Bl. 3 bis 5 desselben, Bl. 42 bis 44 der Gerichtsakte) verwiesen.

Dieses Urteil ist dem Kläger am 25.01.2016 zugestellt worden. Mit einem am 19.02.2016 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz hat er Berufung eingelegt und diese mit einem am 28.04.2016 eingegangenen Schriftsatz begründet, nachdem zuvor das Landesarbeitsgericht mit Beschluss vom 21.03.2016 die Rechtsmittelbegründungsfrist bis zum 29.04.2016 verlängert hatte.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger in vollem Umfang das erstinstanzliche Ziel der Vergütung seiner geleisteten Bereitschaftsdienste weiter. Er vertritt die Auffassung, die Tarifvertragsparteien hätten in der Anlage B2 verbindlich festgelegt, welchen Wert sie einer im Rettungsdienst zu leisteten Arbeitsstunde in der jeweiligen Entgeltgruppe- und Stufe (im Hinblick auf die Vergütungshöhe) beigemessen hätten. Daraus ergebe sich, dass die über 38,5 hinaus geleisteten Arbeitsstunden nicht besonders bezahlt würden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Celle vom 06.01.2016 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an ihn einen Betrag in Höhe von 2.889,58 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 13.11.2015 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufung wird auf ihre Schriftsätze vom 27.04., 30.06., 04.07., 26.07.2016 verwiesen.

Entscheidungsgründe

A.

Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 64, 66 ArbGG und 519, 520 ZPO).

B.

Die Berufung ist unbegründet. Dem Kläger steht keine weitere Arbeitsvergütung für die von ihm geleisteten 339,95 Bereitschaftsstunden gemäß §§ 611 ff. BGB, 1, 2, 3 MiLoG zu. Denn der Beklagte hat diese Bereitschaftsstunden gemäß § 362 BGB erfüllt.

I.

Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht macht sich zunächst einmal die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils zu Eigen, verweist auf diese und stellt dies fest (§ 69 Abs. 2 ArbGG).

II.

Das Vorbringen des Klägers in der Berufung und der Sach- und Streitstand im Übrigen veranlassen folgende ergänzende Anmerkungen:

1.

Ausgehend von § 29 Abs. 7 DRK-RTV ist jedwede Arbeitszeit, einschließlich die Zeit der Bereitschaftszeiten abgegolten. Zu diesen Zeiten gehören ausweislich der klaren Regelung des § 12 Abs. 6 DRK-RTV auch die zulässiger Weise bis zu 48 Stunden wöchentlich verlängerten Arbeitszeiten, wenn sie - wie im vorliegenden Streitfall gegeben - in der tarifvertraglich vorgesehenen Art und Weise Arbeitsbereitschaft aufweisen.

Die Auslegung der Tilgungsbestimmung in § 29 Abs. 7 DRK-RTV ist klar und eindeutig. Insoweit tritt das Berufungsgericht nicht nur dem Ergebnis und der Begründung des erstinstanzlichen Urteils, sondern auch dessen klarer und prägnanter Diktion bei: Abgolten heißt soviel wie "bezahlt" nicht aber "unbezahlt".

2.

Die gesamte Vergütungsstruktur des DRK-Tarifwerkes entspricht dem zum 01.01.2015 in Kraft getretenen Mindestlohngesetz, an dem es sich als niederrangiger Gestaltungsfaktor messen lassen muss. Insoweit legt die Berufungskammer die vom Landesarbeitsgericht Köln (15. Oktober 2015, 8 Sa 540/15 - ) ergangenen und vom BAG (Urt. vom 29.06.2016 - 5 AZR 716/13) bestätigten Rechtsgrundsätze zugrunde, die auf den vorliegenden Streitfall unmittelbar zu übertragen sind. Danach ist die Erbringung von Bereitschaftszeiten grundsätzlich eine mit dem Mindestlohn zu vergütende Arbeitsleistung im Sinne von § 611 Abs. 1 BGB. Die Bereitschaftszeiten werden mit der regelmäßigen Vergütung abgegolten. Die innerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit liegenden Bereitschaftszeiten werden nicht unentgeltlich erbracht, sondern stehen mit der Vollarbeit in einem synallagmatischen Verhältnis zur Vergütung. Sie sind Teil der vom Kläger nach § 611 Abs. 1 BGB vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung. Der nach Monaten vereinbarte Zeitlohn des Klägers muss umgerechnet werden, indem die vereinbarte Bruttomonatsvergütung einschließlich aller Berücksichtigungsfähigen Vergütungsbestandteile durch die individuelle regelmäßige monatliche Arbeitszeit geteilt wird. Der Kläger schuldet eine Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche und nicht eine solche von lediglich 38,5 Stunden. Bezogen auf sein monatliches Tabellenentgelt ist jede einzelne Stunde mit mindestens 8,50 € brutto abgegolten und vergütet worden.

3.

Die Argumentation des Klägers, aus der Regelung eines Stundenentgeltes in der Anlage B2 zum DRK-RTV könne geschlossen werden, dass Bereitschaftsstunden, jenseits der 38,5 Stunden Woche, nicht bzw. nicht ausreichend vergütet würden, wird nicht geteilt. Denn die Auslegung des Gesamtwerkes DRK-RTV ergibt, dass maßgebend für die Beurteilung der Zulässigkeit der Pauschalvergütung vor dem Hintergrund des Mindestlohngesetzes die Festlegung der monatlichen Vergütung und nicht die Festlegung der Stundenvergütung ist.

a.

Nach ständiger und allgemein anerkannter Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und der Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies ein zweifelsfreies Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien, wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG, 21. August 2003, Az.: 8 AZR 430/02 - AP Nr. 185 zu § 1 TVG Tarifverträge Metallindustrie; BAG, 22. Oktober 2003, Az.: 10 AZR 152/03 - BAGE 108, 176 - 184; BAG, 24. Oktober 2007, Az.: 10 AZR 878/06 - ).

b.

Unter Berücksichtigung vorstehender Grundsätze folgt, dass die Aufnahme des Stundenentgeltes lediglich dazu dient, in bestimmten Fällen eine Berechnungsgröße zu haben. Erkennbar wird - ausgehend von dem Wortlaut des Gesamtwerkes des Tarifvertrages im Zusammenhang mit seiner Systematik - die Problematik der Stundenvergütung lediglich in der Regelung des § 14 Abs. 2 DRK-RTV aufgegriffen, wo ausgehend von der Stundenvergütung ein Zuschlag geregelt wird. Die übrigen Vergütungsregelungen dieses Tarifvertrages stellen klar und eindeutig auf den Vorrang einer monatlichen Gesamtvergütung ab (so § 19 oder auch § 29 Abs. 2 DRK-RTV).

Der nach dem Wortlaut vermittelte Sinn und Zweck der Tarifvertragsparteien, eine monatliche Gesamtvergütung festzulegen, bei der die Festsetzung einer Stundenvergütung nur eine Rechengröße ist, kommt in dem Wortlaut und der Gesamtsystematik des Tarifwerkes hinreichend klar zum Ausdruck.

Sollten dann noch Zweifel bestehen, greift jedenfalls das Hilfskriterium der Tarifauslegung ein. Dann ist nämlich eine Tarifauslegung zu wählen, die das erkennbare Vergütungssystem des Tarifvertrages als rechtmäßig und mit dem Mindestlohngesetz vereinbar erscheinen lässt. Mit dem Mindestlohngesetz vereinbar ist jedoch nur eine Auslegung, die mit einer monatlichen Gesamtvergütung die gesamte zu leistende Arbeitszeit von bis zu 48 Stunden pro Woche als abgegolten ansieht, nicht hingegen die Vereinbarung einer Arbeitsvergütung auf der Basis einer Arbeitszeit von 38,5 Stunden.

C.

Der Kläger hat als unterlegende Partei vollständig die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen. Gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache die Revision zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen.