Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.03.2024, Az.: 14 PA 94/23

Versagung von Prozesskostenhilfe für die Klage einer Mutter gegen die Inobhutnahme ihrer Tochter aufgrund Kindeswohlgefährdung durch Ausübung von körperlicher Gewalt und psychischem Druck; Möglichkeit einer milderen Maßnahme

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.03.2024
Aktenzeichen
14 PA 94/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 12063
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2024:0318.14PA94.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Göttingen - 20.07.2023 - AZ: 2 A 115/22

Redaktioneller Leitsatz

§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII berechtigt und verpflichtet das Jugendamt, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Kindeswohl oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erforderlich macht und die Personenberechtigten entweder nicht widersprechen oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig nachgeholt werden kann. Soweit eine Inobhutnahme erfolgt, ist das Jugendamt zur unverzüglichen Unterrichtung der Erziehungsberechtigten und deren Aufklärung über die getroffene Maßnahme verpflichtet.

Tenor:

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 2. Kammer - vom 20. Juli 2023 wird zurückgewiesen.

Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

I. Die Klägerin wendet sich gegen die mit Bescheid vom 22. April 2022 angeordnete Inobhutnahme ihrer Tochter. Am 17. Mai 2022 hat die Klägerin Klage gegen den Bescheid erhoben und geltend gemacht, dass die Beklagte gesetzlich vorgeschriebene Verfahrensregeln nicht eingehalten, mildere Maßnahmen weder erwogen noch durchgeführt und Grundrechte der Klägerin aus Art. 6 GG verletzt habe.

Mit Beschluss vom 20. Juli 2023 hat das Verwaltungsgericht den gleichzeitig mit Klageerhebung gestellten Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, es könne offen bleiben, ob die nach Beendigung der Inobhutnahme statthafte Fortsetzungsfeststellungklage zulässig sei. Sie sei jedenfalls unbegründet. Die Inobhutnahme der Tochter der Klägerin sei im gesamten Zeitraum rechtmäßig gewesen. Eine nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII erforderliche dringende Gefahr für das Wohl der Tochter der Klägerin habe sowohl zum Zeitpunkt ihrer Inobhutnahme als auch noch bis zu deren Beendigung vorgelegen. Aufgrund der Angaben der Tochter der Klägerin habe die Beklagte davon ausgehen dürfen, dass für sie eine dringende Gefahr bestanden habe, erneut körperliche Gewalt zu erfahren und psychischem Druck ausgesetzt zu werden. Das habe sich durch ihre Anhörung vor dem Amtsgericht A-Stadt am 2. Mai 2022 bestätigt. Daran habe sich auch im Verlauf der Inobhutnahme nichts geändert. Zudem werde dies durch die Angaben in dem psychologischen Sachverständigengutachten vom 15. Dezember 2022 bestätigt, dem die Klägerin nicht entgegengetreten sei. Die Inobhutnahme sei auch erforderlich gewesen, da weniger einschneidende Maßnahmen nicht zum Wegfall der Gefahr oder zumindest deren Dringlichkeit geführt hätten. Auch die Voraussetzungen des § 42 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB VIII hätten vorgelegen.

Gegen den am 20. Juli 2023 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 1. August 2023 Beschwerde eingelegt und begründet diese im Wesentlichen damit, dass sie dem Gutachten entgegengetreten sei. Nach dem Bericht der ambulanten sozialpädagogischen Diagnostik der evangelischen Jugendhilfe C. vom 30. April 2021 habe es keinerlei Hinweise auf Situationen gegeben, die eine Inobhutnahme rechtfertigen könnten. Überdies sei die Inobhutnahme nicht das mildeste Mittel gewesen.

II. Die zulässige Beschwerde der Klägerin gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des erstinstanzlichen Klageverfahrens hat keinen Erfolg.

Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Es bestehen keine hinreichenden Erfolgsaussichten für die am 17. Mai 2022 erhobene Klage. Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 -, juris Rn. 26; Senatsbeschl. v. 19.7.2022 - 14 PA 247/22 -, juris Rn. 3). Ein bei summarischer Prüfung offener Ausgang der Rechtsverfolgung genügt (Senatsbeschl. v. 21.2.2022 - 14 PA 97/22 -, juris Rn. 4; BayVGH, Beschl. v. 14.1.2021 - 10 C 21.65 -, juris Rn. 4). Dabei soll die Prüfung der Erfolgsaussicht nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlegen und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (BVerfG, Beschl. v. 22.8.2018 - 2 BvR 2647/17 -, juris Rn. 14). Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den das Rechtsstaatsprinzip erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen (BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 -, juris Rn. 29 m.w.N.).

Nach diesem Maßstab ist das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass keine hinreichenden Erfolgsaussichten gegeben sind.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (HambOVG, Beschl. v. 1.4.2020 - 6 So 168/19 -, juris Rn. 3; NdsOVG, Beschl. v. 29.6.2012 - 12 PA 69/12 -, juris Rn. 2; offengelassen: BVerwG, Beschl. v. 26.9.2007 - 10 C 37/07 -, juris Rn. 1). Entscheidungsreife tritt dabei regelmäßig nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie nach Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme ein (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 19.1.2021 - 8 PA 6/21 -, juris Rn. 6; BVerwG, Beschl. v. 21.1.2019 - 1 PKH 49/18 -, juris Rn. 6). Ein späterer Zeitpunkt kann jedoch in Betracht kommen, wenn durch eine spätere Veränderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse erstmals hinreichende Erfolgsaussichten entstanden sind (NdsOVG, Beschl. v. 12.1.2023 - 13 PA 279/22 -, juris Rn. 5; OVG HH, Beschl. v. 1.4.2020 - 6 So 168/19 -, juris Rn. 3; OVG Berlin, Beschl. v. 13.5.2019 - OVG 11 M 27.18 -, juris Rn. 3; BayVGH, Beschl. v. 10.4.2019 - 8 ZB 18.30660 -, juris Rn. 7; Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 77 m.w.N). Hingegen dürfen dem entscheidenden Gericht zuzurechnende Verzögerungen bei der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag nicht zu Lasten des Rechtsschutzsuchenden berücksichtigt werden (BVerfG, Beschl. v. 12.5.2020 - 2 BvR 2151/17 -, juris Rn. 20; Beschl. v. 5.12.2018 - 2 BvR 2257/17 -, juris Rn. 15; NdsOVG, Beschl. v. 19.1.2021 - 8 PA 6/21 -, juris Rn. 5). Denn durch die Gewährung von Prozesskostenhilfe soll die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend angeglichen werden (BVerfG, Beschl. v. 18.14.2001 -1 BvR 391/01 -, juris Rn. 7).

Danach ist maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage am 30. Juni 2022 abzustellen. Die Klägerin hat bereits mit der Klageschrift vom 17. Mai 2022 Prozesskostenhilfe beantragt sowie eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen an das Verwaltungsgericht übersandt. Nach Eingang der Klagebegründung mit Schriftsatz vom 22. Juni 2022 hat die Beklagte auf Aufforderung des Gerichts am 30. Juni 2022 erwidert. Demnach sind danach eingetretene Umstände, insbesondere das dem Verwaltungsgericht am 10. Februar 2023 vorgelegte psychologische Sachverständigengutachten vom 15. Dezember 2022 zur Erziehungsfähigkeit der Klägerin, welches durch das Amtsgericht eingeholt worden war, bei der Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht zulasten der Klägerin zu berücksichtigen. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob die Klägerin dem Gutachten entgegengetreten ist und diese Einwendungen, die die Klägerin lediglich im familiengerichtlichen Verfahren geltend gemacht hat und die dem Verwaltungsgericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht einmal bekannt waren, auch durchgreifen.

Obgleich das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung offensichtlich nicht auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife abgestellt hat und das erwähnte psychologische Sachverständigengutachten vom 15. Dezember 2022 bei der Beurteilung einer dringenden Gefahr für das Wohl der Tochter zulasten der Klägerin berücksichtigt hat, dürfte nach summarischer Prüfung die von der Klägerin erhobene Anfechtungsklage im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife am 30. Juni 2022 zwar zulässig, aber unbegründet gewesen sein.

Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt nicht klagebefugt gewesen ist. Vor diesem Hintergrund, dass ihr erst mit Beschluss des Amtsgerichts vom 17. Oktober 2022 u.a. das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Tochter entzogen wurde, bedarf die Frage, wie sich eine familiengerichtliche Entscheidung über den vorläufigen Entzug der elterlichen Sorge und eine vorherige verwaltungsrechtliche Entscheidung über die Inobhutnahme durch das Jugendamt im Einzelnen zueinander verhalten, keiner näheren Betrachtung (vgl. zu Fragen der Wirksamkeit bzw. Beendigung einer Inobhutnahme sowie zur Klagebefugnis in diversen Konstellationen etwa NdsOVG, Beschl. v. 18.9.2009 - 4 LA 706/07 -, juris Rn. 9; OVG NRW, Beschl. v. 28.3.2017 - 12 B 1474/16 -, juris Rn. 5 sowie Beschl. v. 5.8.2022 - 12 B 817/22 -, juris Rn. 4; BayVGH, Beschluss vom 9.1.2017 - 12 CS 16.2181 -, juris Rn. 5 m.w.N.; VG Hannover, Beschl. v. 26.5.2020 - 3 B 2032/20 -, juris Rn. 33 ff. m.w.N.; VG Göttingen, Beschlüsse vom 30.4.2014 - 2 B 146/14 - sowie vom 15.2.2017 - 2 B 42/17 -, V.n.b.; Lange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2023, § 87 SGB VIII Rn. 30 m.w.N.). Ebenso kommt es nicht darauf an, ob die nunmehr als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführte Klage zulässig ist.

Der Bescheid der Beklagten über die Inobhutnahme der Tochter vom 22. April 2022 dürfte in dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife rechtmäßig sein und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Gemäß der hier allein in Betracht kommenden Regelung in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und a) entweder die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Ist hiernach die Inobhutnahme erfolgt, hat das Jugendamt gemäß § 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten unverzüglich von der Inobhutnahme zu unterrichten, sie in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form umfassend über diese Maßnahme aufzuklären und mit ihnen das Gefährdungsrisiko abzuschätzen. Widersprechen die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme, so hat das Jugendamt nach § 42 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu übergeben, sofern nach der Einschätzung des Jugendamts eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden (1.) oder eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen (2.). Widersprechen die Personensorgeberechtigten der Inobhutnahme nicht, so ist unverzüglich ein Hilfeplanverfahren zur Gewährung einer Hilfe einzuleiten (§ 42 Abs. 3 Satz 5 SGB VIII).

Diese Voraussetzungen dürften für den hier maßgeblichen Zeitraum vom 22. April 2022 bis zum 30. Juni 2022 vorgelegen haben.

Der Senat hat keine Zweifel daran, dass eine dringende Gefahr für das Wohl der Tochter der Klägerin zum Zeitpunkt der Inobhutnahme und bis zu dem o. g. Zeitpunkt vorlag. Insofern verweist der Senat gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts, soweit auf die Schilderungen der Tochter der Klägerin gegenüber der Beklagten und in ihrer Anhörung vor dem Amtsgericht am 2. Mai 2022 Bezug genommen wurde. Soweit die Klägerin sich auf einen Bericht der ambulanten sozialpädagogischen Diagnostik der evangelischen Jugendhilfe C. vom 30. April 2021 bezieht, wonach es keinerlei Hinweise auf Situationen gegeben habe, die eine Inobhutnahme rechtfertigen könnten, vermag dieser damals über ein Jahr alte Bericht die wiederholten Schilderungen der Tochter der Klägerin nicht hinreichend in Zweifel zu ziehen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Gefahr durch andere, weniger einschneidende und gleich effektive Hilfemaßnahmen rechtzeitig hätte begegnet werden können.

Auch die weiteren Voraussetzungen dürften vorgelegen haben. Es spricht zunächst einiges dafür, dass die Klägerin der Inobhutnahme, über die sie am 22. April 2022 telefonisch von der Beklagten informiert worden war, zunächst nicht im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a) SGB VIII widersprochen hat. Ausweislich der vorliegenden Akten hat die Klägerin der Inobhutnahme zu diesem Zeitpunkt weder zugestimmt noch ihr widersprochen. Schweigen die Personensorgeberechtigten zu der Inobhutnahme bzw. dulden sie sie stillschweigend, ist die Durchführung der Inobhutnahme - bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen - nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a) SGB VIII zulässig (Kepert in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 31), zumal eine Zustimmung nach dem Wortlaut der Norm gerade nicht gefordert wird. Insofern kommt es nicht darauf an, ob am 22. April 2022 die Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) SGB VIII hätten vorliegen müssen, wonach eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig hätte eingeholt werden können (hierzu ausführlich: OVG NRW, Beschl. v. 7.2.2022 - 12 A 1402/18 -, juris Rn. 134; OVG SH, Beschl. vom 25.9.2023 - 3 LB 7/23 -, juris Rn. 67; Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 22.6.2023, § 42 SGB VIII, Rn. 118 m.w.N.).

Nachdem die Klägerin der Inobhutnahme mit eigenem und anwaltlichem Schreiben vom 25. April 2022 ausdrücklich widersprochen und die Herausgabe ihrer Tochter gefordert hatte, hat die Beklagte, wie von § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII gefordert, eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes herbeigeführt. Sie hat mit Schreiben vom 25. April 2022 einen Antrag nach § 1666 BGB gestellt. Darüber hinaus fordert § 42 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII eine eigene Entscheidung des Jugendamtes über die Beendigung der Inobhutnahme oder deren Aufrechterhaltung bis zu einer sich anschließenden Entscheidung des nach Nr. 2 anzurufenden Familiengerichts und ist gleichzeitig Rechtsgrundlage für eine vorläufige Unterbringung und damit verbundene Bestimmung des Aufenthalts des Kindes oder Jugendlichen durch das Jugendamt. Diese Entscheidung des Jugendamtes, die Inobhutnahme bis zu einer familiengerichtlichen Entscheidung aufrecht zu erhalten, ist dann rechtmäßig, wenn ohne die Inobhutnahme die Gefahr einer Beeinträchtigung des Wohles des Kindes besteht und die Eltern zur Abwehr dieser Gefährdung nicht bereit oder in der Lage sind (OVG NRW, Beschl. v. 7.2.2022 - 12 A 1402/18 -, juris Rn. 100; NdsOVG, Beschl. v. 18.9.2009 - 4 LA 706/07 -, juris Rn. 9 m.w.N.; Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 22.6.2023, § 42 SGB VIII, Rn. 233). Anhaltspunkte dafür, dass diese Voraussetzungen ab dem 25. April 2022 nicht (mehr) vorgelegen haben, sind nicht ersichtlich. An der tatsächlichen Situation der Tochter der Klägerin hatte sich zu diesem Zeitpunkt nichts geändert. Insofern führt auch der Einwand der Klägerin, sie habe sich am 25. April 2022 mit einer Familienhilfe einverstanden erklärt, nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn das bloße Einverständnis mit einer (noch nicht beantragten bzw. gewährten) Hilfe, führt im vorliegenden Fall nicht zwangsläufig zum Wegfall der von der Beklagten festgestellten dringenden Gefahr für das Wohl der Tochter.

Weiterhin begegnet es nach summarischer Prüfung keinen (materiell-)rechtlichen Bedenken, dass die Beklagte die Inobhutnahme auch nach dem Termin zur mündlichen Verhandlung in den familiengerichtlichen Verfahren am 5. Mai 2022 - nunmehr - mit Zustimmung der Klägerin zunächst aufrechterhalten hat, weil eine familiengerichtliche Entscheidung noch nicht getroffen worden war und das Amtsgericht durch Beschluss vom 9. Mai 2022 (in dem Verfahren 45 F 48/22 SO) beschlossen hat, ein Sachverständigengutachten zur Erziehungsfähigkeit der Klägerin einzuholen. Insofern kommt es nicht darauf an, ob die Klage ab dem Zeitpunkt der Zustimmung der Klägerin zur Inobhutnahme noch zulässig war (vgl. VG München, Beschl. v. 14.12.2022 - M 18 K 18.1351 -, juris Rn. 61). Zwar rechtfertigt sich eine weitere Inobhutnahme nicht allein mit der Verzögerung des familiengerichtlichen Verfahrens aufgrund der Einholung eines Sachverständigengutachtens (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 24.5.2011 - 12 A 2844/10 -, juris Rn. 4). Gleichwohl kommt der Inobhutnahme, die grundsätzlich dazu dient, durch die sofortige Aufnahme des Minderjährigen und weiterer Maßnahmen eine aktuelle Notlage zu beseitigen und daher grundsätzlich nur einen vorübergehenden Charakter hat, auch eine "Clearing-Funktion" zu (VGH BW Beschl. v. 4.11.2021 - 12 S 3125/21 -, juris Rn. 25). So können nach Beginn der Inobhutnahme weiterführende Hilfen festgestellt und in Gang gesetzt werden, die für das künftige Wohl des Minderjährigen geeignet und notwendig sind, weshalb sie neben einer vorübergehenden Schutzgewährung auch weitere Klärungshilfe beinhalten bzw. solche vorbereiten kann (VGH BW, Beschl. v. 4.11.2021 - 12 S 3125/21 -, juris Rn. 25 m.w.N). Vor diesem Hintergrund ist die Aufrechterhaltung der Inobhutnahme bis zur Klärung der Erziehungsfähigkeit der Klägerin voraussichtlich nicht zu beanstanden. Überdies ist die Beklagte, ohne dass die Klägerin dem entgegengetreten wäre, weiterhin davon ausgegangen, dass die Gefahr einer Beeinträchtigung für das Wohl der Tochter der Klägerin (fort-)bestand und die Klägerin zur Abwehr dieser Gefährdung nicht bereit oder in der Lage war (s.o.). So hat eine Mitarbeiterin des Jugendamtes der Beklagten in dem Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht am 5. Mai 2022 erklärt, dass aus Sicht des Jugendamtes eine ambulante Maßnahme nicht ausreichend sei. Es empfehle sich, die Tochter der Klägerin bis zum Abschluss der gutachterlichen Überprüfung in der Pflegefamilie zu lassen. Es liege auch für den Sohn der Klägerin eine Empfehlung vor, dass er aus der Familie rauskomme. Sie habe nicht den Eindruck, dass die Klägerin verstanden habe, welche Probleme vorlägen. Sie denke, die Klägerin habe auf Vordringen des Gerichts nur nachgeredet. Sie sehe keine Veränderungsbereitschaft bei der Klägerin. Diese habe wenig Empathie gezeigt und keine Kontrolle über die Situation. Aus ihrer Sicht sei die Einholung eines Erziehungsfähigkeitsgutachtens unumgänglich (Anlage zum Protokoll vom 5.5.2022 in den Verfahren 45 F 43/22 EASO u. 45 F 48/22 SO, S. 9.). Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung nicht zutreffend gewesen sein könnte, liegen nicht vor.

Überdies hat die Beklagte nach Antrag der Klägerin vom 11. Mai 2022 das nach erforderliche § 42 Abs. 3 Satz 5 SGB VIII Hilfeplanverfahren eingeleitet.

Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO nicht erhoben. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO werden die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).