Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 01.09.2023, Az.: 13 ME 131/23

Ausweisung; Begleiten; eheliche Lebensgemeinschaft; Feststellung des Nichtbestehens Freizügigkeitsrecht; Scheinehe; ständig rechtmäßiger Aufenthalt; vorläufiger Rechtsschutz; Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung wegen einer sog. Scheinehe

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
01.09.2023
Aktenzeichen
13 ME 131/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 33066
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0901.13ME131.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 29.06.2023 - AZ: 4 B 46/23

Fundstelle

  • NordÖR 2023, 673

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Der Vorwurf, nur eine sog. "Scheinehe" zu führen, berührt nicht die Frage, ob der Anwendungsbereich nach § 1 FreizügG/EU eröffnet ist, sondern nur die Frage, ob die materiellen Voraussetzungen für eine Freizügigkeitsberechtigung nach §§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 6, 3 FreizügG/EU gegeben sind, und kann (typischerweise) Gegenstand einer Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 4 FreizügG/EU sein.

  2. 2.

    Es besteht kein Anlass, das Ermessen bei der Entscheidung über die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 4 Satz 1 oder 2 FreizügG/EU anhand des Maßstabs des § 6 Abs. 2 FreizügG/EU zu betätigen.

Tenor:

  1. I.

    13 ME 131/23

    Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 4. Kammer - vom 29. Juni 2023 wird zurückgewiesen.

    Der Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

    Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.

    Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 7.500 EUR festgesetzt.

  2. II.

    13 PA 132/23

    Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 4. Kammer - vom 29. Juni 2023 wird zurückgewiesen.

    Die Antragstellerin trägt die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

I. 13 ME 131/23

1. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 4. Kammer -vom 29. Juni 2023 bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den mit der Beschwerde unverändert weiter verfolgten Antrag der Antragstellerin (vgl. die Beschwerdeschrift v. 11.7.2023, S. 2 = Blatt 64 der Gerichtsakte), die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 3. April 2023 (Blatt 12 ff. der Gerichtsakte) über die für sofort vollziehbar erklärte Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung, Einziehung der Aufenthaltskarte und Ausweisung (Verfügungen in Nrn. 1, 2, 4 und 8 des Bescheids v. 3.4.2023) wiederherzustellen und über die Ablehnung des Antrags auf Ausstellung eines elektronischen Aufenthaltstitels, das Einreise- und Aufenthaltsverbot, die Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebungsandrohung (Verfügungen in Nrn. 3 und 5 bis 7 des Bescheids v. 3.4.2023) anzuordnen, zutreffend abgelehnt. Die hiergegen von der Antragstellerin mit der Beschwerde geltend gemachten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO im Beschwerdeverfahren zu beschränken hat, gebieten eine Änderung der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung nicht. Soweit die Antragstellerin zur Begründung der Beschwerde auf ihr erstinstanzliches Vorbringen verweist, genügt dies bereits den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht (vgl. zu den Darlegungsanforderungen im Einzelnen: Senatsbeschl. v. 25.7.2014 - 13 ME 97/14 -, NordÖR 2014, 502 f. - juris Rn. 4 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Im Übrigen greifen die von ihr geltend gemachten Gründe in der Sache nicht durch.

a. Die Antragstellerin macht mit ihrer Beschwerde geltend, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts genüge die Anordnung des Sofortvollzugs den Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht. Der Antragsgegner habe nur unsubstantiierte Floskeln verwendet und ohne jeden Anhalt und ins Blaue hinein angenommen, dass bei einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet mit erneuten Rechtsverletzungen durch sie - die Antragstellerin - gerechnet werden müsse. Der Hinweis des Antragsgegners darauf, dass auch ihre persönlichen Verhältnisse es nicht gebieten würden, von der Anordnung der sofortigen Vollziehung abzusehen, zeige, dass dieser den Ausnahmefall der sofortigen Vollziehung und den Bedarf zur Begründung dieses Ausnahmefalls verkannt habe.

Diese Einwände greifen nicht durch. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Antragsgegner die Anordnung des Sofortvollzugs in einer den formalen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet hat (Beschl. v. 29.6.2023, S. 6).

Gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist in den Fällen der Anordnung der sofortigen Vollziehung das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Dazu bedarf es einer konkreten und substantiierten Darstellung der wesentlichen Erwägungen, aus denen sich aus der Sicht der Behörde ergibt, dass im vorliegenden Fall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht und dass das Interesse des Betroffenen, von der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts vorerst verschont zu bleiben, hinter diesem öffentlichen Interesse zurückzutreten hat (Senatsbeschl. v. 15.5.2021 - 13 ME 243/21 -, juris Rn. 22; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 745 ff. m.w.N.).

Gemessen daran genügt die Anordnung der sofortigen Vollziehung (Bescheid v. 3.4.2023, S. 7) durch den Antragsgegner den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Er hat die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht nur floskelhaft, sondern anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls mit dem besonderen öffentlichen Interesse an der "Beendigung des unerlaubten Aufenthalts eines Straftäters" und der Verhinderung weiterer Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begründet. Auch die widerstreitenden privaten Interessen der Antragstellerin ("Aufnahme der Ausbildung") hat der Antragsgegner berücksichtigt, diesen aber kein solches Gewicht zugemessen, dass eine Anordnung der sofortigen Vollziehung unterbleiben müsste. Dieser Begründung ist entgegen der Auffassung der Antragstellerin auch hinreichend klar zu entnehmen, dass sich der Antragsgegner des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst gewesen ist.

Das Verwaltungsgericht ist auch zu Recht davon ausgegangen (Beschl. v. 29.6.2023, S. 6), dass die Frage, ob die gegebene Begründung inhaltlich trägt, nicht Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung der Einhaltung des Formerfordernisses des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist (vgl. Senatsbeschl. v. 15.5.2021 - 13 ME 243/21 -, juris Rn. 23).

b. Der weitergehende Einwand der Antragstellerin, mit Blick auf das Anhörungserfordernis nach § 28 VwVfG verstoße es gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz, wenn das erstinstanzliche Gericht in einer vorausgegangenen Entscheidung dem Antragsgegner aufgezeigt habe, "wie es seinen Bescheid zu erlassen hätte", genügt ersichtlich schon den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht. Der Kontrollfunktion der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist es immanent, unter Anwendung von Recht und Gesetz konkrete Fehler im Verwaltungshandeln aufzuzeigen. Der zuständigen Behörde obliegt es, solche Fehler in dem gesetzlich gezogenen Rahmen zu beheben oder/und das zukünftige Verwaltungshandeln rechtmäßig zu gestalten.

c. Die Antragstellerin macht mit ihrer Beschwerde weiter geltend, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU a.F. schon deshalb rechtswidrig, weil - jedenfalls nach den Behauptungen des Antragsgegners - der Anwendungsbereich des FreizügG/EU nicht eröffnet sei. "Vor dem Hintergrund der Normenkette in §§ 11 Abs. 8S. 1, Nr. 2S. 2; 3 Abs. 4; 6; 7 FreizügG/EU" dürfe dann eine Feststellung nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU a.F. nicht getroffen werden.

Dieser Einwand verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg.

Auch der Senat hegt zwar Zweifel an der Richtigkeit der vom Verwaltungsgericht in der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung geäußerten Auffassung (Beschl. v. 29.6.2023, S. 7), eine Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 4 FreizügG/EU in der seit dem 25. April 2023 geltenden Fassung des Gesetzes zur Durchführung der Verordnung (EU) 2017/2226 und der Verordnung (EU) 2018/1240 sowie zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes, des Freizügigkeitsgesetzes/EU, des Gesetzes über das Ausländerzentralregister und der Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister vom 20. April 2023 (BGBl. I 2023, Nr. 106), der inhaltsgleich mit § 2 Abs. 7 FreizügG/EU a.F. ist, dürfe auch dann zur Herstellung von Rechtsklarheit erfolgen, wenn der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU gar nicht eröffnet sei (vgl. dahingehend allerdings auch: BVerwG, Urt. v. 25.10.2017 - BVerwG 1 C 34.16 -, BVerwGE 160, 147, 156 - juris Rn. 31; Hessischer VGH, Beschl. v. 4.5.2020 - 3 B 2587/19 -, juris Rn. 10 f.). Denn die Eröffnung des Anwendungsbereichs eines Gesetzes ist zwingende Voraussetzung für dessen Anwendung. Auch wenn eine Ausländerbehörde bei Unsicherheiten über die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Freizügigkeitsgesetzes/EU aus verfahrens- oder prozesstaktischen Erwägungen eine Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung (neben Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz) in Betracht ziehen mag, kann diese nur rechtmäßig sein, wenn auch der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU eröffnet ist. Täuscht mithin ein Ausländer die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Freizügigkeitsgesetzes/EU nach dessen § 1 vor, darf eine Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 4 FreizügG/EU nicht ergehen (vgl. zur mangelnden Erforderlichkeit einer Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung bei Nichteröffnung des Anwendungsbereichs des Freizügigkeitsgesetzes/EU: Senatsbeschl. v. 29.7.2020 - 13 ME 277/20 -, juris Leitsatz und Rn. 4 ff.; Senatsbeschl. v. 16.6.2020 - 13 ME 46/20 -, V.n.b. Umdruck S. 3 f.). Nur dann, wenn der Anwendungsbereich nach § 1 Abs. 1 FreizügG/EU eröffnet ist und ein Ausländer das Vorliegen einer materiellen Voraussetzung für die Freizügigkeitsberechtigung nach §§ 2 ff. FreizügG/EU vortäuscht oder ein ausländischer Familienangehöriger, der nicht Unionsbürger ist, dem Unionsbürger nicht im Sinne der §§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 6, 3 FreizügG/EU zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft nachzieht oder ihn nicht zu diesem Zweck begleitet, kommt eine Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 4 FreizügG/EU in Betracht.

Dies zugrunde gelegt, ist die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung im Bescheid des Antragsgegners vom 3. April 2023 aber nicht deshalb rechtswidrig, weil der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU nicht eröffnet gewesen ist. Denn auch dann, wenn im Februar 2018 zwischen der Antragstellerin und dem bulgarischen Staatsangehörigen E. F. die Ehe nur aus aufenthaltsrechtlichen Zwecken, nicht aber zur tatsächlichen Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft geschlossen worden ist (sog. "Scheinehe"; vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.1.1991 - BVerwG 1 A 102.90 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 25.6.1984 - BVerwG 1 B 41.84 -, juris Rn. 3; Hessischer VGH, Urt. v. 27.2.2018 - 6 A 2148/16 -, juris Rn. 26), war die Antragstellerin (bis zur Scheidung im Mai 2022) Familienangehörige eines Unionsbürgers im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a FreizügG/EU und war mithin der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU eröffnet. Denn auch die sog. "Scheinehe" ist eine formal wirksame Ehe, die nach deutschem Recht gemäß §§ 1313, 1314 Abs. 2 Nr. 5 BGB lediglich auf Antrag durch richterliche Entscheidung aufgehoben werden kann (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 10.8.2021 - 19 ZB 21.1142 -, juris Rn. 17; Grünberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 1314 Rn. 14 m.w.N.). Der Vorwurf, nur eine sog. "Scheinehe" zu führen, berührt mithin nicht die Frage, ob der Anwendungsbereich nach § 1 FreizügG/EU eröffnet ist, sondern nur die Frage, ob die materiellen Voraussetzungen für eine Freizügigkeitsberechtigung nach §§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 6, 3 FreizügG/EU gegeben sind, und kann (typischerweise) Gegenstand einer Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 4 FreizügG/EU sein. Die Befugnis zu dieser Feststellung wird durch eine Scheidung nicht berührt; § 11 Abs. 8 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU schließt für diesen Fall nur die Anwendung der §§ 6 und 7 FreizügG/EU, nicht aber die Anwendung des § 2 Abs. 4 FreizügG/EU aus (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, FreizügG/EU, § 11 Rn. 69 ff. (Stand: März 2021); Kurzidem, in: BeckOK Ausländerrecht, FreizügG/EU, § 11 Rn. 4f (Stand: 1.7.2023)).

d. Die Antragstellerin rügt auch, dass es an den materiellen Voraussetzungen für eine Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU a.F. fehle. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, weshalb es sich bei der Ehe mit Herrn E. F. um eine Scheinehe gehandelt haben solle, verfingen nicht, jedenfalls aber nicht in der Weise abschließend, um einen für sie - die Antragstellerin - derart gravierenden Rechtsverlust im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes zu rechtfertigen. Das Verwaltungsgericht habe sich nicht damit auseinandergesetzt, was "begleiten" in § 2 Abs. 7 Satz 2 FreizügG/EU a.F. bedeute und ob und wie der Strafbefehl zustande gekommen sei. Es verweigere sich einer tatsächlichen Aufklärung des Sachverhalts und beziehe sich allein auf akteninhaltliche Aussagen des Herrn F. und des Herrn G. im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, obwohl bekanntermaßen schriftliche Aussagen vor der Polizei nicht zuletzt wegen eines Erfolgsinteresses der Ermittlungsbehörden mit großer Vorsicht zu genießen seien. Sie dürften jedenfalls nicht dafür herhalten, eine so lebenseinschneidende Entscheidung wie die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung vorläufig zu rechtfertigen.

Die in der erstinstanzlichen Entscheidung (Beschl. v. 29.6.2023, S. 8 ff.) getroffenen Feststellungen, zwischen der Antragstellerin und Herrn E. F. sei nur eine sog. Scheinehe begründet worden, diese sei im konkreten Einzelfall als Rechtsmissbrauch der Freizügigkeitsberechtigung zu werten (vgl. im Allgemeinen zu dieser Wertung: Art. 35 Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl. EU 2004 Nr. L 229 S. 35, - Freizügigkeits-Richtlinie -: "Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z.B. durch Eingehung von Scheinehen - zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen.") und deshalb stehe fest, dass die Antragstellerin ihren früheren Ehemann im Sinne des § 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU nicht zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft begleitet habe, gründen auf einem zutreffenden rechtlichen Maßstab (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 28.3.2019 - BVerwG 1 C 9.18 -, BVerwGE 165, 128, 132 f. - juris Rn. 19 ff., unter Anschluss an EuGH, Urt. v. 8.11.2012 - Rs. C-40/11 -, juris Rn. 58 f.; Senatsbeschl. v. 9.1.2020 - 13 ME 399/19 -, V.n.b. Umdruck S. 2 f.; und zu den Anforderungen an die gerichtliche Feststellung einer Scheinehe: Senatsbeschl. v. 5.4.2022 - 13 LA 73/22 -, V.n.b. Umdruck S. 2 f.) und sind durch das Beschwerdevorbringen der Antragstellerin keinen vernünftigen Zweifeln ausgesetzt.

Die Feststellungen erschöpfen sich entgegen der Antragstellerin nicht in Mutmaßungen, sondern beruhen auf den Aussagen des früheren Ehemanns der Antragstellerin (vgl. die Vernehmungsniederschrift v. 19.12.2019, Blatt 135 ff. der Beiakte 1: "Daraufhin haben wir im März 2018 geheiratet. Nach der Hochzeit habe ich sie (Anmerkung: A., ) nie wieder gesehen. Ich bin völlig verarscht worden von dieser Frau (Anmerkung: A., ).") und des Zeugen H. G. (vgl. die Niederschrift der Zeugenvernehmung v. 30.4.2019, Blatt 130 ff. der Beiakte 1) sowie den im rechtskräftig gewordenen, gegen die Antragstellerin erlassenen Strafbefehl des Amtsgerichts I. vom 23. September 2021 (Blatt 148 ff. der Beiakte 1) dokumentierten Ermittlungsergebnissen. Danach haben die Antragstellerin und ihr früherer Ehemann zu keinem Zeitpunkt nach der Eheschließung im Bundesgebiet in einer ehelichen Lebensgemeinschaft gelebt, vielmehr brach der Kontakt zwischen beiden nach der Beantragung der Aufenthaltskarte ab. Zur Vortäuschung einer ehelichen Lebensgemeinschaft hat die Antragstellerin zudem im Januar 2019 gegenüber dem Einwohnermeldeamt der Stadt I. die Kopie eines gefälschten bulgarischen Reisepasses vorgelegt. Die demgegenüber von der Antragstellerin erhobenen Vorwürfe, die Aussagen seien vermutlich durch Suggestivfragen der Ermittlungsbehörden provoziert worden und die Ermittlungsergebnisse seien wegen eines Erfolgsinteresses der Ermittlungsbehörden mit Vorsicht zu genießen, sind ersichtlich aus der Luft gegriffen und durch nichts belegt. Den unter Berücksichtigung der Beweislastverteilung zwar rechtlich nicht zwingenden, aber praktisch naheliegenden Weg, die Aussagen inhaltlich durch eine eigene Darstellung des behaupteten ehelichen Zusammenlebens im Bundesgebiet zu entkräften, hat die Antragstellerin nicht ansatzweise genutzt.

e. Die Antragstellerin macht weiter geltend, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe der Antragsgegner auch das ihm zukommende Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt. Der Maßstab des § 6 Abs. 2 FreizügG/EU gelte auch für die Feststellung nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU a.F. Jede andere Sichtweise wäre wertungswidersprüchlich. Eine danach erforderliche schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liege nicht vor, jedenfalls aber sei sie nicht mit einer kriminellen Energie außerhalb der Thematik des Aufenthalts belegt.

Diese Auffassung der Antragstellerin trifft nicht zu. Es besteht kein Anlass, das Ermessen bei der Entscheidung über die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 4 Satz 1 oder 2 FreizügG/EU anhand des Maßstabs des § 6 Abs. 2 FreizügG/EU zu betätigen. Denn - anders als die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit nach § 6 FreizügG/EU - erfordert die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 4 Satz 1 oder 2 FreizügG/EU nur, dass ein Ausländer das Vorliegen einer materiellen Voraussetzung für die Freizügigkeitsberechtigung nach §§ 2 ff. FreizügG/EU vortäuscht oder ein ausländischer Familienangehöriger, der nicht Unionsbürger ist, dem Unionsbürger nicht im Sinne der §§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 6, 3 FreizügG/EU zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft nachzieht oder ihn nicht zu diesem Zweck begleitet. Dieser gesetzgeberischen Wertung widerspricht die Forderung der Antragstellerin, bei der Ermessensentscheidung nach § 2 Abs. 4 Satz 1 oder 2 FreizügG/EU zu berücksichtigen, ob von dem persönlichen Verhalten des Ausländers eine schwere Gefährdung im Sinne des § 6 Abs. 2 FreizügG/EU ausgeht, die auch ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

f. Die Beschwerde beanstandet zudem, dass die verfügte Ausweisung in der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung unzutreffend für rechtmäßig erachtet worden sei. Das Verwaltungsgericht habe im Ansatz zwar zutreffend angenommen, dass die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung keine Rückwirkung entfalte. Die vorgenommene Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen sei aber fehlerhaft erfolgt. Ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG liege nicht vor, da die im Strafbefehl vorgeworfene Tat ein Einzelfall und keine Wiederholungstat sei und die mutmaßlichen Rechtsverletzungen alleine das Ziel verfolgten, ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland zu legalisieren. Im Übrigen müsse das Bleibeinteresse überwiegen. Sie - die Antragstellerin - halte sich seit mehr als fünf Jahren im Bundesgebiet und seit mehr als acht Jahren in der Europäischen Union auf. Hier sei sie sozialisiert, führe ein ordentliches Leben, gehe einer Arbeit nach und habe eine Ausbildung begonnen. Die Gefahr von Rechtsverletzungen durch den weiteren Aufenthalt bestehe nicht, dessen sofortige Beendigung sei unverhältnismäßig.

Auch diese Einwände verhelfen der Beschwerde nicht zum Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis (vgl. zum Maßstab der Ergebnisrichtigkeit: Senatsbeschl. v. 25.7.2014 - 13 ME 97/14 -, NordÖR 2014, 502 f.- juris Rn. 4) zutreffend angenommen, dass die im Bescheid des Antragsgegners vom 3. April 2023 verfügte Ausweisung voraussichtlich rechtmäßig ist (Beschl. v. 29.6.2023, S. 11 ff.).

Es besteht ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG("Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften ... begangen ... hat"; vgl. zum Regelungsgehalt dieser Bestimmung: Senatsurt. v. 14.11.2018 - 13 LB 160/17 -, juris Rn. 40 f. m.w.N.). Die Antragstellerin ist mit rechtskräftig gewordenem Strafbefehl des Amtsgerichts I. vom 23. September 2021 (Blatt 148 ff. der Beiakte 1) wegen unrichtiger Angaben zur Erlangung einer Aufenthaltskarte nach § 9 FreizügG/EU und wegen Gebrauchs einer unechten Urkunde zur Täuschung im Rechtsverkehr nach § 267 Abs. 1 StGB zu einer Gesamtgeldstrafe von 70 Tagessätzen verurteilt worden. Diese beiden vorsätzlichen Straftaten stellen einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften dar. Das danach bestehende Ausweisungsinteresse ist entgegen der Beschwerde auch noch hinreichend aktuell, um der Antragstellerin entgegen gehalten werden zu können (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerwG, Urt. v. 12.7.2018 - BVerwG 1 C 16.17 -, juris Rn. 23; Senatsbeschl. v. 11.4.2019 - 13 PA 48/19 -, V.n.b. Umdruck S. 4).

Eines der vertypten, in den Katalogen des § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG beispielhaft beschriebenen Bleibeinteressen besteht nicht. Die hier in Betracht zu ziehenden Bleibeinteressen nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG in Verbindung mit § 11 Abs. 5 Freizüg/EU bestehen schon deshalb nicht, weil die Antragstellerin jedenfalls aufgrund der für sofort vollziehbar erklärten Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung in der Verfügung in den Nrn. 1 und 8 des Bescheids vom 3. April 2023 nicht mehr im "Besitz" einer als Niederlassungserlaubnis bzw. Aufenthaltserlaubnis geltenden Freizügigkeitsberechtigung ist.

Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 und Abs. 2 AufenthG vorzunehmende Abwägung der öffentlichen Interessen an der Ausreise mit den widerstreitenden privaten Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt auch, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Der von der Antragstellerin geltend gemachten mehrjährigen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet und in der Europäischen Union sowie der währenddessen erreichten tatsächlichen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse kommt ersichtlich kein solches Gewicht zu, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise dahinter zurücktreten müsste. Denn bereits das Verwaltungsgericht hat in der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung (Beschl. v. 29.6.2023, S. 13) zutreffend darauf hingewiesen, dass der Aufenthalt im Bundesgebiet nur durch den der Antragstellerin vorwerfbaren Rechtsmissbrauch (siehe oben I.1.d.) begründet und aufrechterhalten wurde, es mithin an einem schutzwürdigen Vertrauen in die Fortdauer dieses Aufenthalts fehlt. Zudem bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass es der Antragstellerin unmöglich oder unzumutbar sein könnte, in ihr Herkunftsland zurückzukehren und dort ein Privatleben zu führen.

g. Die Antragstellerin wendet gegen die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung weiter ein, das Verwaltungsgericht habe die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a Abs. 1 AufenthG unzutreffend verneint. Da kein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bestehe, könne dieses auch nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG der Titelerteilung entgegenstehen. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, nur ein nach italienischem Recht sogenannter Daueraufenthaltsvermerk "soggiornante di lungo periodo-CE" sei ein langfristiger Aufenthaltstitel, finde im Gesetz keine Grundlage und sei mit Blick auf Ausländer, die tatsächlich einen langfristigen Aufenthalt vorzuweisen hätten, gleichheitssatzwidrig.

Entgegen diesem Beschwerdevorbringen steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a Abs. 1 AufenthG bereits das Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen. Es besteht ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (siehe oben I.1.f.).

Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht auch das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 38a Abs. 1 AufenthG zu Recht verneint (Beschl. v. 29.6.2023, S. 15). Nach dieser Bestimmung wird einem Ausländer, der in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten innehat, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn er sich länger als 90 Tage im Bundesgebiet aufhalten will. Langfristig Aufenthaltsberechtigter ist nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 7 AufenthG ein Ausländer, dem in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union die Rechtsstellung nach Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. EU 2004 Nr. L 16 S. 44), zuletzt geändert durch die Richtlinie 2011/51/EU (ABl. EU 2011 Nr. L 132 S. 1), verliehen und nicht entzogen wurde. Langfristige Aufenthaltsberechtigung-EU ist nach § 2 Abs. 8 AufenthG der einem langfristig Aufenthaltsberechtigten durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgestellte Aufenthaltstitel nach Art. 8 der Richtlinie 2003/109/EG. In Italien ist dies die "Permesso di soggiorno per soggiornanti di lungo periodo UE" bzw. CE (vgl. Decreto Legislativo 8 gennaio 2007, n.3, Art. 9, veröffentlicht unter https://integrazionemigranti.gov.it, Stand: 30.8.2023; vgl. auch Senatsbeschl. v. 24.6.2021 - 13 ME 527/20 -, InfAuslR 2021, 335 - juris Rn. 6), welche der Antragstellerin ersichtlich nicht verliehen worden ist. Wenn die Antragstellerin insoweit eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber sich nur tatsächlich langfristig aufhaltenden Ausländern beanstandet, vermag der Senat dies nicht ansatzweise nachzuvollziehen. Die sachliche Rechtfertigung liegt ersichtlich in der rechtlichen Gestattung des Aufenthalts durch den Mitgliedstaat.

h. Der weitere Einwand der Antragstellerin, das Verwaltungsgericht habe auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16a AufenthG unzutreffend verneint, die Vorschrift sei nicht nur für neu einreisende Ausländer, sondern auch bei einem Zweckwechsel anwendbar, anderenfalls sei eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gegeben, greift schon deshalb nicht durch, da auch der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16a AufenthG bereits das Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen steht. Es besteht ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (siehe oben I.1.f.).

i. Die Antragstellerin meint, sie könne jedenfalls ein Aufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 5 FreizügG/EU beanspruchen. Danach sei Familienangehörigen nach § 3 Abs. 2 bis 4 FreizügG/EU der Erwerb eines Daueraufenthaltsrechtes zuzusprechen, wenn sie sich fünf Jahre ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten. Diese Voraussetzungen erfülle sie. Nach der Argumentation des Verwaltungsgerichts in der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung sei ihr Aufenthalt bis zur Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung als rechtmäßig zu betrachten. Hierfür spreche auch die Fiktionswirkung in § 11 Abs. 15 FreizügG/EU.

Entgegen der Auffassung der Antragstellerin sind die Voraussetzungen für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 5 FreizügG/EU nicht erfüllt. Die Antragstellerin hat sich nicht, wie es nach dieser Bestimmung erforderlich ist, mindestens "fünf Jahre ständig rechtmäßig im Bundesgebiet auf(ge)halten". Neben dem tatsächlichen Aufenthalt ist insoweit das Bestehen einer materiellen Freizügigkeitsberechtigung entscheidend (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.7.2013 - 8 LA 148/12 -, juris Rn. 12 ff. m.w.N.). Der Antragstellerin fehlte indes für die gesamte Dauer ihres Aufenthalts im Bundesgebiet die materielle Freizügigkeitsberechtigung. Sie hat das Bestehen der einzig in Betracht kommenden Berechtigung nach §§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 6, 3 FreizügG/EU nur vorgetäuscht (siehe oben I.1.c. und d.). Deshalb verweist sie auch ohne Erfolg auf die Freizügigkeitsvermutung. Denn diese ist durch die vom Antragsgegner und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren getroffenen Feststellungen widerlegt (vgl. im Übrigen zur Beweislast für das Bestehen der Freizügigkeitsvermutung: Senatsbeschl. v. 9.9.2022 - 13 PA 226/22 -, juris Rn. 4 m.w.N.).

j. Das schließlich auf die Nebenentscheidungen (Einziehung der Aufenthaltskarte, Ablehnung des Antrags auf Ausstellung eines elektronischen Aufenthaltstitels, Abschiebungsandrohung sowie Einreise- und Aufenthaltsverbot) im Bescheid des Antragsgegners vom 3. April 2023 bezogene Beschwerdevorbringen greift schon deshalb nicht durch, weil es allein von dem Beschwerdevorbringen betreffend die Hauptentscheidungen (Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung, Ausweisung, Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) abgeleitet ist, das nach den vorstehenden Ausführungen eine Änderung der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung nicht gebietet.

2. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen. Der Beschwerde kommt auch nach der im Prozesskostenhilfeverfahren nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, 362 [BVerfG 26.02.2007 - 1 BvR 474/05] - juris Rn. 11) unter Berücksichtigung des Zwecks der Prozesskostenhilfebewilligung die gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht nicht zu (vgl. zu im Hauptsacheverfahren einerseits und im Prozesskostenhilfeverfahren andererseits anzulegenden unterschiedlichen Maßstäben: BVerfG, Beschl. v. 8.7.2016 - 2 BvR 2231/13 -, juris Rn. 10 ff. m.w.N.). Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf die Ausführungen in diesem Beschluss zu I.1.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens ergibt sich aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

4. Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 39 Abs. 1 GKG.

II. 13 PA 132/23

1. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 4. Kammer - vom 29. Juni 2023 bleibt ohne Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt. Denn dem erstinstanzlichen Rechtsschutzbegehren kommt auch nach dem im Prozesskostenhilfeverfahren anzulegenden Maßstab (siehe hierzu oben I.2.) die gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht nicht zu. Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf die Ausführungen in diesem Beschluss zu I.1. und auf die zutreffenden Erwägungen des angefochtenen Beschlusses, die er sich zu Eigen macht (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

2. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO. Ein Streitwert ist nicht festzusetzen. Für die Höhe der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens gilt der streitwertunabhängige Kostentatbestand in Nr. 5502 der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) zum Gerichtskostengesetz (vgl. zur Entstehung von Gerichtskosten bei Zurückweisung einer PKH-Beschwerde: Senatsbeschl. v. 28.3.2019 - 13 PA 65/19 -, juris Rn. 3).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).