Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.09.2023, Az.: 14 ME 91/23

Anordnungsgrund; Schmerzensgeld; Unterhaltspflicht; Kostenübernahme für den Besuch einer Webschule

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.09.2023
Aktenzeichen
14 ME 91/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 35165
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0921.14ME91.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 27.07.2023 - AZ: 4 B 989/23

Fundstelle

  • NVwZ-RR 2024, 109-110

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Ein Anordnungsgrund besteht nicht, wenn der Antragsteller jedenfalls gegenwärtig auf eigene Mittel oder zumutbare Hilfe Dritter zurückgreifen kann. Bei Minderjährigen ist dabei auch zu prüfen, ob die nach § 1601 BGB unterhaltspflichtigen Eltern die Kosten der beantragten Versorgung nicht vorzuleisten in der Lage wären.

  2. 2.

    Im Rahmen der gesteigerten Unterhaltspflicht ist auch Schmerzensgeld einzusetzen.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 27. Juli 2023 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt. Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 VwGO kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der diesen vorläufigen Rechtsschutz Begehrende muss gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft machen, dass ihm der geltend gemachte materiell-rechtliche Anspruch zusteht (Anordnungsanspruch) und dass ein Grund für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht (Anordnungsgrund). Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass die Antragstellerin jedenfalls einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht hat. Offenbleiben kann daher, ob ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist.

Ein Anordnungsgrund ist gleichzusetzen mit einem spezifischen Interesse gerade an der begehrten vorläufigen Regelung. Dieses Interesse ergibt sich regelmäßig aus einer besonderen Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (vgl. Senatsbeschl. v. 23.6.2022 - 14 ME 243/22 - juris Rn. 12; Nds. OVG, Beschl. v. 19.10.2010 - 8 ME 221/10 -, juris Rn. 4; Schoch/Schneider, VwGO, Stand: 43. EL August 2022, § 123 Rn. 81). Dabei ist einem die Hauptsache vorwegnehmenden Antrag im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nur ausnahmsweise (vgl. zum grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes: BVerwG, Beschl. v. 27.5.2004 - 1 WDS-VR 2/04 -, juris Rn. 3) dann stattzugeben, wenn durch das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes ist Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2008 - 2 BvR 338/08 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 -, juris Rn. 17; BVerwG, Beschl. v. 10.2.2011 - 7 VR 6/11 -, juris Rn. 6; Senatsbeschl. v. 23.6.2022 - 14 ME 243/22 - juris Rn. 12; Nds. OVG, Beschl. v. 12.5.2010 - 8 ME 109/10 -, juris Rn. 14).

Die Antragstellerin erstrebt mit der begehrten Kostenübernahme für einen Besuch der Web-Individualschule eine solche Vorwegnahme der Hauptsache. Denn selbst wenn theoretisch die Möglichkeit einer Rückzahlung der verauslagten Kosten besteht, würde der Antragstellerin letztlich die Eingliederungshilfe zuteil, deren Gewährung sie auch in der Hauptsache begehrt. Auch die bloße vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache vermittelt dem jeweiligen Antragsteller die mit dem Klageverfahren verfolgte Rechtsposition und stellt ihn - ohne dass diese Rechtsstellung rückwirkend wieder beseitigt werden könnte - vorweg so, als wenn er im Klageverfahren bereits obsiegt hätte (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.12.1989 - 2 ER 301/89 -, juris Rn. 3; Senatsbeschl. v. 23.6.2022 - 14 ME 243/22 - juris Rn. 13; Nds. OVG, Beschl. v. 8.10.2003 - 13 ME 342/03 -, juris Rn. 29; Beschl. v. 12.3.2012 - 8 ME 159/11 - juris Rn. 13; SächsOVG, Beschl. v. 21.3.2023 - 3 B 319/22 -, juris Rn. 13 m.w.N.).

Der danach nur ausnahmsweise mögliche Erlass einer solchen, die Hauptsache vorwegnehmenden Regelungsanordnung kommt hier nicht in Betracht. Denn die Antragstellerin hat nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihr ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.

1. Das Verwaltungsgericht hat einen Anordnungsgrund verneint, weil es den Eltern der Antragstellerin möglich sei, die Kosten für die begehrte Web-Beschulung aus ihrem Vermögen in Höhe von 20.000,00 Euro vorläufig selbst zu tragen, ohne in eine existenzielle finanzielle Notlage zu geraten. Bei Auslegung des streitgegenständlichen Bescheides des Antragsgegners vom 5. April 2023 ergebe sich, dass sich dieser in zeitlicher Hinsicht auf den Rest des Schuljahres 2022/2023 sowie das erste Schulhalbjahr 2023/2024 erstrecke. Denn zum einen habe die Antragstellerin im Januar 2022 die Übernahme der Kosten für die Web-Beschulung für ein Jahr beantragt. Zum anderen sei angesichts des Umstands, dass der Antragsgegner seine Ablehnung in der Mitte des zweiten Halbjahres des Schuljahres 2022/2023 getroffen habe und aus der Begründung des Bescheids deutlich werde, dass andere Maßnahmen zur Eingliederungshilfe in Anspruch genommen werden könnten, davon auszugehen, dass der angegriffene Bescheid damit nicht nur den Rest des Schuljahres 2022/2023, sondern auch das erste Halbjahr des Schuljahres 2023/2024 erfasse. Die Höhe der hier begehrten vorläufigen Kostenübernahme belaufe sich daher auf maximal 6.274,00 Euro und mache somit nur einen Teil ihres Vermögens aus. Dieser Betrag berechne sich aus den monatlichen Kosten in Höhe von 1.004,00 Euro für den Zeitraum von August 2023 bis einschließlich Januar 2024 (Ende des ersten Schulhalbjahres 2023/2024) sowie den einmaligen Kosten für den Einstufungstest in Höhe von 250,00 Euro.

2. Soweit die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde geltend macht, dass bei einer ambulanten Hilfemaßnahme, für welche eine Heranziehung zu den Kosten gemäß §§ 90, 91 Abs. 2 Nr. 3 ff. SGB VIII nicht erfolge, die Eilbedürftigkeit (der Anordnungsgrund) nicht an ihren persönlichen wirtschaftlichen Verhältnissen zu messen sei, vermag sie die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht in Frage zu stellen.

Zutreffend besteht ein Anordnungsgrund nicht, wenn die Antragstellerin jedenfalls gegenwärtig auf eigene Mittel oder zumutbare Hilfe Dritter zurückgreifen kann. Dies ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG, Beschl. v. 21.9.2016 - 1 BvR 1825/16 -, juris Rn. 4). Bei Minderjährigen ist dabei auch zu prüfen, ob die nach § 1601 BGB unterhaltspflichtigen Eltern die Kosten der beantragten Versorgung nicht vorzuleisten in der Lage wären (BVerfG, Beschl. v. 21.9.2016 - 1 BvR 1825/16 -, juris Rn. 5). Dass bei einer ambulanten Hilfeleistung i.S.d. § 35a Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII eine Heranziehung zu den Kosten gemäß §§ 90, 91 Abs. 2 Nr. 3 ff. SGB VIII nicht erfolge, steht dem nicht entgegen. Auch in der jugendhilferechtlichen Rechtsprechung wird vertreten, dass ein Anordnungsgrund jedenfalls nicht vorliegt, wenn ein Abbruch der Maßnahme aufgrund der ungeklärten Kostentragung nicht droht. Das ist dann der Fall, wenn der Leistungserbringer nicht auf den Ersatz der Kosten drängt oder die Eltern des Kindes in der Lage sind, die Kosten der Maßnahme einstweilen vorzuschießen (vgl. Senatsbeschl. v. 23.6.2022 - 14 ME 243/22 - juris Rn. 15 f.; OVG NRW, Beschluss vom 12. August 2001 - 12 B 582/01 -, juris Rn. 16 m.w.N.; BayVGH, Beschl. v. 21.2.2013 - 12 CE 12.2136 -, juris Rn. 25 f. m.w.N.).

3. Auch die Auffassung der Antragstellerin, das ihrem Vater gezahlte Schmerzensgeld (§ 847 BGB) i.H.v. 20.000,00 Euro dürfe bei der Frage, ob sie die begehrte Leistung vorläufig aus eigenen Mitteln zahlen könne, keine Berücksichtigung finden, greift nicht durch. Das Verwaltungsgericht ist vielmehr zutreffend davon ausgegangen, dass die spezifische schadensersatzrechtliche Funktion des Schmerzensgeldes - Ausgleich immaterieller Beeinträchtigungen des Betroffenen und Genugtuung - einer Berücksichtigung im Rahmen des Anordnungsgrundes nicht entgegensteht. Zwar weist die Antragstellerin zutreffend darauf hin, dass Schmerzensgeld bei der Frage, ob ein Anspruch auf die Gewährung von Sozialleistungen besteht, bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit nicht anzurechnen sei (vgl. Hacks/Wellner/Häcker/Offenloch, Schmerzensgeld-Beträge, 41. Aufl. 2023, A. I. 8. [Anrechenbarkeit des Schmerzensrechts] a) [Sozialrecht] m.w.N. aus der Rechtsprechung). Vorliegend geht es jedoch nicht um den Bezug von Sozialleistungen, sondern um die Frage, ob der Vater der Antragstellerin im Rahmen seiner ihr gegenüber bestehenden Unterhaltspflicht, auch das Schmerzensgeld einzusetzen hat. Jedenfalls bei gesteigerten Unterhaltsverpflichtungen gegenüber minderjährigen, unverheirateten Kindern (vgl. § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB) ist grundsätzlich auch Schmerzensgeld relevantes und damit einzusetzendes Vermögen des Unterhaltspflichtigen. Gerade die erweiterte Unterhaltspflicht, die auf der besonderen familienrechtlichen Verantwortung der Eltern für ihre minderjährigen unverheirateten Kinder beruht, gebietet es, die Leistungsfähigkeit im Grundsatz unabhängig davon zu beurteilen, woher die zur Verfügung stehenden Mittel stammen und worauf ihre Zuwendung beruht. Das rechtfertigt es, auch das Schmerzensgeld zu den Mitteln zu rechnen, deren Einsatz dem Elternteil in § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB zugemutet wird (vgl. BGH, Urt. v. 2.11.1988 - IVb ZR 7/88 -, juris Rn. 13 f.; Dose, in: Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 10. Aufl. 2019, § 1 Rn. 726 m.w.N.; Hacks/Wellner/Häcker/Offenloch, Schmerzensgeld-Beträge, 41. Aufl. 2023, A. I. 8. [Anrechenbarkeit des Schmerzensrechts] b) [Bürgerliches Recht]). Etwas anderes ergibt sich hier auch nicht daraus, dass der besonderen Ausgleichsfunktion, die dem Schmerzensgeld für den Empfänger zukommt, bei der Bestimmung der ihm zumutbaren unterhaltsrechtlichen Opfergrenze in billiger Weise Rechnung zu tragen ist (vgl. BGH, Urt. v. 2.11.1988 - IVb ZR 7/88 -, juris Rn. 13 f.; Dose, in: Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 10. Aufl. 2019, § 1 Rn. 726 m.w.N.). Die Antragstellerin hat nicht substantiiert vorgetragen, unter welchen andauernden schwerwiegenden Behinderungen ihr Vater zu leiden hat. Davon abgesehen beläuft sich die Höhe der begehrten Kostenübernahme nur auf ein knappes Drittel des Schmerzensgeldes. Dem Vater der Antragstellerin verbleibt daher noch ein erheblicher Teil davon (vgl. nachfolgend unter 4.).

4. Der Einwand der Antragstellerin, es stehe nicht lediglich die Kostenübernahme bis einschließlich Januar 2024 (Ende des ersten Schulhalbjahres 2023/2024) in Streit, vielmehr begehre sie die Kostenübernahme für den Besuch der Web-Individualschule bis zum Ende des gesamten Schuljahres 2023/2024, geht ins Leere. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf abgestellt, dass die Antragstellerin die Kostenübernahme im Januar 2023 für ein Jahr beantragt habe (vgl. Bl. 14 des Verwaltungsvorgangs). Lediglich darauf bezieht sich daher auch der ablehnende Bescheid des Antragsgegners vom 5. April 2023. Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Antragstellung. Dabei spielt keine Rolle, aus welchen Gründen die Antragstellerin die Leistung für ein Jahr beantragt hat und ob der Antragsgegner den Antrag auf "Kostenübernahme für ein Jahr" erbeten hatte. Der Antragstellerin war es unbenommen, die Leistung auch für das gesamte Schuljahr 2023/2024 zu beantragen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).