Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 20.09.2023, Az.: 10 LA 94/23

besonderes elektronisches Anwaltspostfach; Beweiswirkung; elektronisches Empfangsbekenntnis; elektronischer Rechtsverkehr; Zustellung; Zur Beweiswirkung und Zurechnung elektronischer Empfangsbekenntnisse

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
20.09.2023
Aktenzeichen
10 LA 94/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 41792
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0920.10LA94.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 06.06.2023 - AZ: 5 A 662/21

Fundstellen

  • DÖV 2024, 208
  • NJW 2024, 305
  • NVwZ 2024, 82-83
  • NordÖR 2024, 96

Amtlicher Leitsatz

Der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs kann sich nicht auf die fehlende Beweiswirkung eines elektronischen Empfangsbekenntnisses berufen, dessen Abgabe er unter Verstoß gegen die Sicherheitsanforderungen des elektronischen Rechtsverkehrs selbst ermöglicht hat, sondern hat sich das in einem solchen Fall von seiner Kanzlei versandte elektronische Empfangsbekenntnis so zurechnen zu lassen, als habe er es selbst abgegeben.

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 6. Juni 2023 wird verworfen.

Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens; außergerichtliche Kosten des Verfahrens zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden nicht erstattet.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, durch den sein Asylantrag als unzulässig abgelehnt und ihm die Abschiebung nach Bulgarien angedroht worden ist.

Das klagabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts vom 6. Juni 2023 ist dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers mit (zutreffender) Rechtsmittelbelehrung ausweislich des elektronischen Empfangsbekenntnisses von Rechtsanwalt F. am 9. Juni 2023 zugestellt worden.

Mit Schriftsatz vom 11. Juli 2023 - eingegangen bei dem Verwaltungsgericht am gleichen Tag - hat der Kläger Anträge auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts "vom 6.6.2023, zugestellt am 12.6.2023" sowie Gewährung von Prozesskostenhilfe gestellt. Nach dem Hinweis des Senats auf eine mögliche Verfristung teilte der Kläger mit, dass das über das besondere elektronische Postfach am Freitag, den 9. Juni 2023, in der Kanzlei eingegangene Urteil, nachdem es ausgedruckt und mit einem Posteingangsstempel versehen worden sei, Rechtsanwalt F. erst am Montag, den 12. Juni 2023, vorgelegt worden sei. Da es maßgeblich auf die Kenntnisnahme durch den bearbeitenden Rechtsanwalt ankomme, sei die Frist zur Beantragung der Zulassung der Berufung erst hierdurch in Gang gesetzt worden und habe dementsprechend am 12. Juli 2023 geendet.

II.

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 6. Juni 2023 ist unzulässig, da er nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 AsylG entspricht. Gemäß § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG ist die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu beantragen. Der Antrag muss gemäß § 78 Abs. 4 Satz 3 AsylG das angefochtene Urteil bezeichnen. Zudem sind nach § 78 Abs. 3 Satz 5 AsylG in dem Antrag die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.

Vorliegend ist der Antrag auf Zulassung der Berufung erst am 11. Juli 2023 und damit nach Ablauf der durch die Zustellung des Urteils am 9. Juni 2023 in Gang gesetzten Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG am 10. Juli 2023 24:00 Uhr (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 und 2 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB) gestellt worden und damit unzulässig. Die Angaben des früheren Prozessbevollmächtigten des Klägers zur Kenntnisnahme des Urteils am 12. Juni 2023 entkräften weder die Beweiswirkung des durch seine Kanzlei übermittelten Empfangsbekenntnisses noch bieten sie einen hinreichenden Grund für eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand in Bezug auf die Versäumung der Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG.

Das vom Kläger angefochtene Urteil ist ihm gemäß § 173 ZPO i.V.m. § 56 Abs. 2 VwGO am 9. Juni 2023 wirksam zugestellt worden. Dies ist durch das dem Gericht am 9. Juni 2023 übersandte elektronische Empfangsbekenntnis (Bl. 94 der GA) seines damaligen Prozessbevollmächtigten belegt. Wie das herkömmliche papiergebundene Empfangsbekenntnis erbringt auch das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis gegenüber dem Gericht den vollen Beweis für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme (BVerwG, Beschluss vom 19.9.2022 - 9 B 2.22 -, juris Leitsatz 1 und Rn. 11 f.). Dies ergibt sich aus der gesetzlichen Beweisregelung in § 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO i.V.m. § 56 Abs. 2 VwGO. Diese ist Ausdruck des besonderen Vertrauens, das der Gesetzgeber u.a. der Berufsgruppe der Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege entgegenbringt, und stützt sich nach der gesetzlichen Konzeption maßgeblich auf die Erwartung, dass der sichere Übermittlungsweg i.S.d. § 173 Abs. 1 ZPO von den Inhabern des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs ausschließlich selbst genutzt wird und demzufolge die das Dokument signierende und damit verantwortende Person mit der des tatsächlichen Versenders übereinstimmt (vgl. BSG, Urteil vom 14.7.2022 - B 3 KR 2/21 R - juris Rn. 12; BAG, Beschluss vom 5.6.2020 - 10 AZN 53/20 -, juris Rn. 14).

Zur rechtlichen Absicherung dieser Erwartung bestimmt § 26 Abs. 1 der Verordnung über die Rechtsanwaltsverzeichnisse und die besonderen elektronischen Anwaltspostfächer (Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung - RAVPV), dass die Postfachinhaber das für den Zugang zu ihrem besonderen elektronischen Anwaltspostfach erzeugte Zertifikat keiner weiteren Person überlassen dürfen und die dem Zertifikat zugehörige Zertifikats-PIN geheim zu halten haben. Dem korrespondierend darf anderen Personen Zugang zu einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach nur über deren eigenes besonderes elektronisches Anwaltspostfach oder ein vom Postfachinhaber gesondert anzulegendes Zugangskonto (§ 23 Abs. 2 Satz 2 RAVPV) unter Verwendung des der anderen Person zugeordneten (eigenen) Zertifikats und der zugehörigen Zertifikats-PIN (§ 23 Abs. 2 Satz 3 RAVPV) gewährt werden. Entsprechend ermöglicht daher technisch der Webclient des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs die Abgabe eines elektronischen Empfangsbekenntnisses ohne qualifizierte elektronische Signatur nur dem, der sich als Inhaber des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs angemeldet hat, an das die Aufforderung zur Abgabe des (elektronischen) Empfangsbekenntnisses gerichtet war (BSG, Urteil vom 14.7.2022 - B 3 KR 2/21 R - juris Rn. 14 m.w.N.).

Setzt sich ein Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs über die Verpflichtung zur ausschließlich eigenen - höchstpersönlichen - Nutzung durch Überlassung des nur für seinen Zugang erzeugten Zertifikats und der dazugehörigen Zertifikats-PIN an Dritte (beispielsweise sein Sekretariat) oder auf andere Weise bewusst hinweg, muss er sich in diesem Regelungszusammenhang das von einem Dritten abgegebene elektronische Empfangsbekenntnis auch dann wie ein eigenes zurechnen lassen, wenn die Abgabe ohne seine Kenntnis erfolgt ist (BSG, Urteil vom 14.7.2022 - B 3 KR 2/21 R - juris Rn. 15).

Bis zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs waren die beteiligten Rechtsanwälte sowie der Rechtsverkehr durch das Schriftformerfordernis und die daraus folgenden Anforderungen an die höchstpersönliche und eigenhändige Unterschriftsleistung geschützt. Im elektronischen Rechtsverkehr ist dies durch die Sicherungen entweder der qualifizierten elektronischen Signatur oder - wie hier - der vom Gesetzgeber im Interesse einer gesteigerten Akzeptanz der elektronischen Kommunikation begründeten Möglichkeit der Übermittlung von Dokumenten aus besonderen elektronischen Anwaltspostfächern abgelöst worden. Im Interesse des Rechtsverkehrs an der strikten Verlässlichkeit der mit einem elektronischen Empfangsbekenntnis abgegebenen Erklärung kann sich ein Postfachinhaber deshalb nicht auf die Unbeachtlichkeit von Erklärungen berufen, die er unter Verstoß gegen die Sicherheitsanforderungen des elektronischen Rechtsverkehrs selbst ermöglicht hat. Verhält es sich so, hat er sich eine von Dritten abgegebene Erklärung vielmehr so zurechnen zu lassen, als habe er sie selbst abgegeben und im Vorhinein - durch die nicht vorgesehene Eröffnung der Nutzungsmöglichkeit für den Dritten - autorisiert.

Demzufolge ist der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben zwar zulässig, setzt aber voraus, dass die Beweiswirkung vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben richtig sein können. Der Gegenbeweis ist nicht schon geführt, wenn lediglich die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.10.2017 - 1 WNB 3.17 - juris Rn. 6; BGH, Beschluss vom 19.4.2012 - IX ZB 303/11 -, juris Rn. 6). In diesem Sinne kann die Richtigkeit der Angaben, die in einem über ein besonderes elektronisches Anwaltspostfach abgegebenen elektronischen Empfangsbekenntnis angeführt sind, nur dann hinreichend sicher ausgeschlossen werden, wenn nach den Umständen des Falles keine Zweifel daran bestehen, dass der Postfachinhaber keine Verantwortung für die unberechtigte Nutzung seines Postfachs zu tragen hat (BSG, Urteil vom 14.7.2022 - B 3 KR 2/21 R - juris Rn. 16). Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Der Kläger hat sich allein darauf berufen, dass das am 9. Juni 2023 in der Kanzlei seines damaligen Prozessbevollmächtigten eingegangene Urteil von diesem erst am 12. Juni 2023 zur Kenntnis genommen worden sei. Zum einen wird schon der Zeitpunkt der Zustellung, der durch das vom Sekretariat des Prozessbevollmächtigten des Klägers ohne dessen Kenntnis versandte elektronische Empfangsbekenntnis belegt wird, durch diesen Vortrag nicht in Frage gestellt. Denn für die Wirksamkeit der Zustellung kommt es allein darauf an, dass der Zustellungsadressat vom Zugang des Schriftstücks persönlich Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegennimmt. Auf die Frage, ob der Rechtsanwalt das Schriftstück auch inhaltlich zur Kenntnis genommen hat, kommt es dagegen nicht an (BGH, Beschluss vom 20.7.2006 - I ZB 39/05 -, juris Rn. 7). Zum anderen muss sich der vorherige Prozessbevollmächtigte des Klägers die möglicherweise von seiner Kanzleikraft abgegebene Erklärung nach dem oben Gesagten ohnehin so zurechnen lassen, als habe er sie selbst abgegeben, er also selbst die Entgegennahme des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 6. Juni 2023 am 9. Juni 2023 bestätigt hat. Der Annahmewille des Prozessbevollmächtigten am Tag der Zustellung wird nach außen durch die Abgabe des elektronischen Empfangsbekenntnisses dokumentiert. Ist dies entgegen den oben dargestellten Bestimmungen in der Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung durch das Sekretariat des früheren Prozessbevollmächtigten des Klägers und nicht durch diesen persönlich erfolgt, so muss sich dies der Kläger zurechnen lassen.

Gründe für eine Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG sind hiernach ebenfalls nicht zu erkennen. Muss sich der (ehemalige) Prozessbevollmächtigte des Klägers die in dem elektronischen Empfangsbekenntnis enthaltene Erklärung zurechnen lassen, ist die Versäumung der Frist für die Stellung des Zulassungsantrags nicht unverschuldet.

Mangels Erfolgsaussichten des Zulassungsantrags ist auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO abzulehnen.

Die Kostenentscheidungen beruhen auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.