Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 05.09.2023, Az.: 10 OA 103/23

Kommunalwahl; Streitwert; Wahlanfechtung; Wahlbewerber; Zur Bemessung des Streitwertes in kommunalwahlrechtlichen Streitigkeiten

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
05.09.2023
Aktenzeichen
10 OA 103/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 33342
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0905.10OA103.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 19.10.2022 - AZ: 1 A 6/22

Fundstellen

  • JurBüro 2023, 532-533
  • NVwZ-RR 2023, 1015-1016
  • NordÖR 2023, 674

Amtlicher Leitsatz

In kommunalwahlrechtlichen Streitfällen, in denen sich ein Wahlbewerber gegen die Ungültigkeitserklärung der von ihm gewonnenen Wahl wendet, ist es angemessen und ermessensgerecht, den Streitwert in Orientierung an § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG auf die Hälfte der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge festzusetzen.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Prozessbevollmächtigten des Klägers wird der Streitwertbeschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 19. Oktober 2022 geändert.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 47.786,64 EUR festgesetzt.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

Die mit Schriftsatz vom 9. August 2023 gegen den Streitwertbeschluss des Verwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2022 erhobene Streitwertbeschwerde ist zulässig, insbesondere nach § 68 Abs. 1 Satz 1 GKG statthaft und gemäß § 68 Abs. 1 Satz 3 Halbsätze 1 und 2 sowie Satz 5 in Verbindung mit § 63 Abs. 3 Satz 2 und § 66 Abs. 5 Satz 5 GKG fristgerecht beim Verwaltungsgericht von dem Prozessbevollmächtigten des Klägers im eigenen Namen (§ 32 Abs. 2 Satz 1 RVG) eingelegt worden.

Sie ist auch überwiegend begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Streitwert um 40.286,64 EUR niedriger festgesetzt, als sich das wirtschaftliche Interesse des Klägers objektiv beurteilen lässt.

Gemäß § 52 Abs. 1 GKG ist der Streitwert, soweit nichts anderes bestimmt ist, nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Maßgebend ist dabei das sich bei objektiver Beurteilung aus der Antragsbegründung ergebende wirtschaftliche und gegebenenfalls auch ideelle (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 15.9.2015 - 9 KSt 2.15 -, juris Rn. 2 m.w.N.) Interesse an der angestrebten gerichtlichen Entscheidung, nicht die Bedeutung, die ihr subjektiv beigemessen wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7.9.2016 - 5 KSt 6.16 -, juris Rn. 2; Senatsbeschluss vom 30. 5. 2018 - 10 OA 194/18 -, juris Rn. 3). Mit der Befugnis, den Streitwert gemäß § 52 Abs. 1 GKG "nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen, soweit nichts anderes bestimmt ist", ist dem Gericht im Interesse der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung die Möglichkeit eingeräumt, den Wert des Streitgegenstands zu schätzen, sich einer weitgehenden Schematisierung und Typisierung für gleichartige Streitigkeiten zu bedienen und zu pauschalieren (Senatsbeschlüsse vom 15.11.2019 - 10 OA 217/19 -, juris Rn. 6, und vom 24.3.2015 - 10 OA 9/15 -, juris Rn. 4; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 15.9.2015 - 9 KSt 2.15 -, BeckRS 2015, 54083 Rn. 4). Dazu enthält der Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit - zuletzt in der Fassung der am 31. Mai/1. Juni 2012 und am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen - Empfehlungen, d.h. ihm kommt keine normative Verbindlichkeit zu. Er ist nur eine Handreichung für die Praxis, keine anwendbare oder auslegungsfähige Rechtsnorm. An der Aufgabe des Gerichts, im jeweiligen Einzelfall das Gesetz anzuwenden und das ihm eingeräumte Ermessen danach auszuüben, ändert das Vorhandensein des Streitwertkatalogs nichts (Senatsbeschluss vom 24.5.2015 - 10 OA 9/15 -, juris Rn. 4).

Ausgehend hiervon orientiert sich die Streitwertpraxis des Senats in Verfahren, in denen es um die Gültigkeit einer Kommunalwahl geht, grundsätzlich an den Nr. 22.1.1 bis 22.1.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. So ist nach Nr. 22.1.1 des Streitwertkatalogs bei einer Anfechtung einer Kommunalwahl durch einen Bürger der Auffangwert festzusetzen, im Falle einer Anfechtung der Kommunalwahl durch eine Partei oder Wählgemeinschaft nach Nr. 22.1.2 ein Wert von mindestens 15.000 EUR und bei der Anfechtung durch einen Wahlbewerber nach Nr. 22.1.3 ein Wert von mindestens 7.500 EUR. Dem vorliegenden Klageverfahren ging zwar zunächst eine Anfechtung durch einen Bürger (hier des Beigeladenen) voraus, maßgeblich für die Wertberechnung ist jedoch der Zeitpunkt der den jeweiligen Streitgegenstand betreffenden Antragstellung, die den Rechtszug einleitet (§ 40 GKG). Abzustellen ist insoweit auf den Eingang der Klage- oder Antragsschrift, gegebenenfalls auch von Klageerweiterungen (Senatsbeschluss vom 30.5.2018 - 10 OA 194/18 -, juris Rn. 4 m.w.N.). Daraus folgt, dass sich die Wertberechnung im vorliegenden Fall nicht an Nr. 22.1.1, sondern eher an Nr. 22.1.3 des Streitwertkatalogs zu orientieren hätte, da die Klage des Klägers, der die Wahl zwar nicht im Sinne der Nr. 22.1.3 angefochten hat, gegen die für ihn negative Wahlprüfungsentscheidung und nicht die ursprüngliche Wahlanfechtung durch den Beigeladenen den Rechtszug eingeleitet hat.

Vorliegend besteht darüber hinaus die Besonderheit, dass es sich nicht um die auf eine Ungültigerklärung der Wahl gerichtete Klage eines unterlegenen Wahlbewerbers, für die in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung regelmäßig ein Streitwert von 7.500 EUR als angemessen angesehen wird (vgl. VGH Bayern, Beschluss vom 22.2.2021 - 4 ZB 20.3109 -, juris Rn. 25; OVG Sachsen, Beschluss vom 9.5.2016 - 4 A 26/15 -, juris Rn. 11; VGH Hessen, Urteil vom 12.11.2009 - 8 A 1621/08 -, juris Rn. 72 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.8.2009 - 15 A 1372/09 -, juris R. 78; VG Karlsruhe, Urteil vom 26.1.2012 - 2 K 2293/11 -, juris Rn. 23; VG Weimar, Urteil vom 10.6.2020 - 3 K 1568/19 -, juris Rn. 187; a.A.: VGH Baden-Württemberg, dieser nimmt auch bei Wahlanfechtungsklagen eines unterlegenen Wahlbewerbers in ständiger Rechtsprechung lediglich den Auffangwert nach § 52 Abs. 2 GKG an, vgl. Urteil vom 24.1.2023 - 1 S 359/22 -, juris Rn. 129; Beschlüsse vom 2.5.2019 - 1 S 581/19 -, juris Rn. 45, und vom 9.5.2007 - 1 S 984/07 -, juris Rn. 4), handelt. Denn in diesen Fällen, in denen in der Regel auch im Falle des Obsiegens im Klageverfahren lediglich die Wiederholung der Wahl und nicht die Begründung des angestrebten Amtes erreicht werden kann und somit die Wahlprüfung vorwiegend im öffentlichen Interesse an der Einhaltung wahlrechtlicher Vorschriften stattfindet, bildet der im Streitwertkatalog angegebene Mindestwert das Interesse des jeweiligen Klägers angemessen ab.

Wendet sich jedoch - wie vorliegend - der Wahlbewerber, der die (von einem Bürger oder auch unterlegenen Kandidaten) angefochtene Wahl gewonnen hat, gegen deren Ungültigkeitserklärung und kann dieser im Falle des Obsiegens das angestrebte Amt unmittelbar ausüben oder verliert dieses im Falle einer für ihn negativen Entscheidung, liegt eine von den genannten Fällen erheblich abweichende Konstellation vor. Diese Situation ist mit beamtenrechtlichen Statusstreitigkeiten zu vergleichen, welche die Umwandlung, das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Beendigung eines besoldeten öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Arbeitsverhältnisses zum Gegenstand haben, da sich das Ergebnis des gerichtlichen Verfahrens unmittelbar auf das vom Kläger durch die Wahl erworbene Amt auswirkt. Sein wirtschaftliches Interesse an der begehrten gerichtlichen Entscheidung entspricht hierbei - jedenfalls, wenn es nicht um ein ehrenamtliches Amt, sondern um das hauptberuflich auszuübende Amt eines Hauptverwaltungsbeamten geht - im Grundsatz den mit dem angestrebten Amt verbundenen Gehaltserwartungen. Zwar geht es auch bei einem solchen Verfahren rechtlich allein um die Einhaltung der wahlrechtlichen Vorschriften, doch ist die nach § 52 Abs. 1 GKG maßgebende Bedeutung für den Kläger durch das genannte wirtschaftliche Interesse ganz überwiegend bestimmt. Damit ist es in derartigen Streitfällen, welche unmittelbar die Begründung oder Beendigung eines besoldeten öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnisses auf Zeit betreffen, angemessen und ermessensgerecht, den Streitwert in Orientierung an § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG auf die Hälfte der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme der nicht ruhegehaltsfähigen Zulagen festzusetzen (vgl. OVG Brandenburg, Beschluss vom 20.9.1996 - 1 B 139/96 -, juris Rn. 6 zu § 13 Abs. 4 Satz 1 Buchstabe a GKG in der vom 1.7.1994 bis 21.12.2001 geltenden Fassung). Dies ist vorliegend das sechsfache der gemäß § 1 Abs. 1 der Niedersächsischen Kommunalbesoldungsverordnung zu gewährenden B 2-Besoldung in Höhe von 7.964,44 EUR (Beamtenbesoldungstabelle Niedersachsen, Gültigkeit vom 1.3.2021-30.11.2022), mithin 47.786,64 EUR.

Die Nebenentscheidungen folgen aus § 68 Abs. 3 GKG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).