Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.12.2011, Az.: 8 ME 76/11

Betäubungsmittelkriminalität als Regelbeispiel für das Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i.R.e. Ausweisungsverfügung; Zulässigkeit der Ergänzung defizitärer Ermessenserwägungen i.R.e. Ausweisverfügung; Beseitigung der Gefahr der Begehung erneuter schwerer Rechtsverstöße durch die Möglichkeit einer Rauschmittelentwöhnungstherapie

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
16.12.2011
Aktenzeichen
8 ME 76/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 32453
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:1216.8ME76.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 07.04.2011 - AZ: 12 B 1069/11

Redaktioneller Leitsatz

Für die Ausweisung genügen bei Betäubungsmitteldelikten regelmäßig bereits Gründe der Generalprävention, um anderen Ausländern die Folgen derartiger Straftaten vor Augen zu führen und sie von derartigen Straftaten abzuhalten.

Unabhängig davon können insbesondere die Art und Schwere der begangenen Straftaten, das Verhalten des Betroffenen nach der Tatbegehung und die Gefahr der Begehung erneuter, insbesondere gegen die körperliche Unversehrtheit gerichteter Straftaten, es rechtfertigen, vorhandene Bindungen an das Bundesgebiet durch die Ausweisung zu beenden.

Im Hinblick auf eine Ausweisung wegen schwerer Straftaten kommt den Beziehungen zwischen volljährigen Familienmitgliedern im Verhältnis zu den widerstreitenden einwanderungspolitischen Belangen in der Regel nur ein geringeres Gewicht zu. Allenfalls dann, wenn beispielsweise ein erwachsenes Familienmitglied zwingend auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt, kann dies einwanderungspolitische Belange zurückdrängen.

Gründe

1

Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses, mit dem es das Verwaltungsgericht abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die für sofort vollziehbar erklärte Ausweisungsverfügung der Antragsgegnerin vom 25. Februar 2011 wiederherzustellen.

2

Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen. Ist, wie hier, das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug der Ausweisung in einer den Formerfordernissen nach§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise damit begründet worden, dass eine erneute Straffälligkeit des Antragstellers und damit verbundene Gefahren für die Allgemeinheit verhindert werden sollen, so setzt die gerichtliche Entscheidung nach§ 80 Abs. 5 VwGO über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das vorrangig öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus (vgl. Senatsbeschl. v. 16.3.2004 - 8 ME 164/03 -, NJW 2004, 1750 [OVG Niedersachsen 16.03.2004 - 8 ME 164/03] m.w.N.).

3

Dem öffentlichen Vollzugsinteresse kann dabei überhaupt nur dann Vorrang eingeräumt werden, wenn der angefochtene Verwaltungsakt voraussichtlich auch im Hauptsacheverfahren Bestand haben, mithin sich als rechtmäßig erweisen wird. Da die Ausweisung eine schwerwiegende und mit schwer zu behebenden Folgen für den Ausländer verbundene Maßnahme darstellt, deren Gewicht durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung noch erheblich verschärft wird, setzt das Interesse an der sofortigen Vollziehung zudem die aufgrund einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls zu treffende Feststellung voraus, dass der Sofortvollzug schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens als Präventivmaßnahme zur Abwehr der mit der Ausweisungsverfügung zu bekämpfenden Gefahren erforderlich ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.6.2005 - 2 BvR 485/05 -, NVwZ 2005, 1053, 1054 f.; Beschl. v. 21.3.1985 - 2 BvR 1642/83 -, BVerfGE 69, 220, 228; Bayerischer VGH, Beschl. v. 19.2.2009 - 19 CS 08.1175 -, [...] Rn. 49 jeweils m.w.N.). Bei der im Übrigen vorzunehmenden Folgenabwägung sind gegenüberzustellen die konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter bei einem Aufschub des Vollzugs, wenn sich die Ausweisungsverfügung nachträglich als rechtmäßig erweist, den konkreten Folgen des Sofortvollzugs für den Ausländer, wenn sich die Ausweisungsverfügung nachträglich als rechtswidrig erweisen sollte (vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.10.2006 - 1 BvR 2403/06 -, [...] Rn. 17 f.).

4

Nach diesen Maßstäben fällt die Abwägung zu Lasten des Antragstellers aus. Die Ausweisungsverfügung der Antragsgegnerin vom 25. Februar 2011 ist voraussichtlich rechtmäßig (1.), die Anordnung des Sofortvollzugs ist schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens als Präventivmaßnahme zur Abwehr der mit der Ausweisungsverfügung zu bekämpfenden Gefahren erforderlich (2.) und die bei einem Aufschub des Vollzugs eintretenden konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter überwiegen die den Antragsteller treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung (3.).

5

1.

Für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung einer Ausweisungsverfügung ist dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11.2007 - 1 C 45.06 -, BVerwGE 130, 20, 22). Dieser ursprünglich für die Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen entwickelte Grundsatz (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 -, BVerwGE 121, 297, 308 f.; BVerwG, Urt. v. 3.8.2004 - 1 C 29.02 -, BVerwGE 121, 315, 321) gilt nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) auch für alle Drittstaatsangehörigen, weil bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ihrer Ausweisung und der Gegenwärtigkeit der von ihnen ausgehenden Gefahr auf eine möglichst aktuelle Tatsachengrundlage abzustellen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11.2007, a.a.O., S. 23 ff.).

6

Hier hat die Antragsgegnerin ihre Verfügung vom 25. Februar 2011 zutreffend auf die Rechtsgrundlage der§§ 53 Nrn. 1 und 2, 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 bis 4 AufenthG gestützt und den Antragsteller im Ermessenswege ausgewiesen.

7

Nach § 53 Nr. 1 AufenthG wird ein Ausländer unter anderem dann ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Nach§ 53 Nr. 2 AufenthG wird unter anderem ausgewiesen, wer wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Die Voraussetzungen dieser Ausweisungstatbestände liegen in der Person des Antragstellers schon unter Berücksichtigung des rechtskräftigen Urteils des Landgerichts Hannover - 33 a 1/09 KLs/ 6031 Js 86205/08 - vom 29. April 2009 vor, durch das er wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten verurteilt worden ist.

8

Der Antragsteller genießt aber besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, weil er seit April 1999 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besessen, sich mithin mindestens fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und seit dem 1. Januar 2005 eine Niederlassungserlaubnis besitzt. Der Antragsteller kann daher gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Liegen, wie hier, die Voraussetzungen des § 53 AufenthG vor, so wird der Ausländer nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel ausgewiesen; die zwingende Ausweisung nach § 53 AufenthG wird mithin in den Fällen des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zur Regelausweisung herabgestuft.

9

Die danach erforderlichen schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen zwar gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel in den hier gegebenen Fällen des § 53 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beinhaltet allerdings keine Automatik, sondern erfordert in den Fällen der Herabstufung zur Regel-Ausweisung eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall (vgl. BVerwG, Urt. v.31.8.2004 - 1 C 25.03 -, BVerwGE 121, 356, 362; Senatsurt. v. 10.3.2011 - 8 LB 153/09 -, [...] Rn. 41). Aufgrund dieser Prüfung kann ein Ausnahmefall von der Regel-Ausweisung insbesondere dann anzunehmen sein, wenn ein atypischer Geschehensablauf oder andere besondere Umstände den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen lassen, keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine zukünftige schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers bestehen oder wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (vgl. BVerwG,Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 -, BVerwGE 129, 367, 372 f.; BVerwG, Urt. v. 31.8.2004, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 11.6.1996 - 1 C 24.96, BVerwGE 101, 247, 252 f.; GK-AufenthG, Stand: Oktober 2011, § 54 Rn. 71 ff.).

10

Ob hier insbesondere unter Berücksichtigung des Schutzes des Privatlebens des Antragstellers nach Art. 8 EMRK ein solcher Ausnahmefall vorliegt, der es erfordert, von der Regel-Ausweisung abzusehen und nur noch eine Ausweisung im Ermessenswege gestattet, bedarf jedenfalls im vorliegenden Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes keiner Entscheidung. Denn die Antragsgegnerin hat in der Ausweisungsverfügung vom 25. Februar 2011 eine Ermessensentscheidung getroffen. Dabei hat sie zunächst dargestellt, dass die Voraussetzungen einer zwingenden Ausweisung nach § 53 Nrn. 1 und 2 AufenthG erfüllt sind (S. 3 der Verfügung v. 25.2.2011), diese wegen des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aber zur Regelausweisung und unter Berücksichtigung der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wegen der sich aus Art. 8 EMRK und Art. 6 GG ergebenden Schutzwirkungen zur Ermessensausweisung herabgestuft ist (S. 3 f. der Verfügung v. 25.2.2011). Daran anschließend (S. 4 ff. der Verfügung v. 25.2.2011) hat die Antragsgegnerin eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles angestellt und eine Ermessensentscheidung getroffen.

11

Diese Ermessensentscheidung ist von der Antragsgegnerin mit den Schriftsätzen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes in Anwendung der prozessualen Möglichkeit des § 114 Satz 2 VwGO verfahrensbegleitend aktualisiert worden (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 13.1.2009 - 1 C 2.08 -, NVwZ 2009, 727, 729 m.w.N.). Ein unzulässiges Nachholen einer bisher fehlenden Ermessensentscheidung (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.9.2006 - 1 C 20.08 -, NVwZ 2007, 470, 471; BVerwG, Urt. v. 5.5.1998 - 1 C 17.97 -, BVerwGE 106, 351, 365) liegt nicht vor. Denn die Antragsgegnerin hat allenfalls defizitäre Ermessenserwägungen ergänzt, nicht aber ihr Ermessen nachträglich erstmals ausgeübt.

12

Zur Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung führende Fehler der so getroffenen Ermessensentscheidung sind nicht festzustellen.

13

Das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Antragstellers hat die Antragsgegnerin zutreffend mit der spezialpräventiven Erwägung begründet, es drohe ernsthaft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Antragstellers und von diesem gehe eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut aus. Vom Vorliegen derart schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung kann nach der gesetzlichen Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in den hier gegebenen Fällen des § 53 AufenthG regelmäßig ausgegangen werden. Die jedenfalls bei Ermessensentscheidungen gebotene Einzelfallbetrachtung bietet keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Ausnahmefalles. Vielmehr ist der vorliegende Fall der Betäubungsmittelkriminalität geradezu ein Regelbeispiel für das Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Bei einem zwingenden Ausweisungstatbestand geht der Gesetzgeber davon aus, dass in diesen Fällen schwerer Kriminalität regelmäßig schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die aus spezial- und generalpräventiven Gründen eine Ausweisung erforderlich machen. Dabei genügen bei Betäubungsmitteldelikten regelmäßig bereits hier von der Antragsgegnerin nicht maßgeblich herangezogene Gründe der Generalprävention für die Ausweisung, um anderen Ausländern die Folgen derartiger Straftaten vor Augen zu führen und sie von derartigen Straftaten abzuhalten. Ungeachtet dessen zeigt der vorliegende Sachverhalt und das Verhalten des Antragstellers geradezu auf, dass von ihm eine Wiederholungsgefahr ausgeht.

14

Der Antragsteller ist seit seinem 14. Lebensjahr regelmäßig und zwar mit steigender Intensität strafrechtlich in Erscheinung getreten. Im Jahre 1997 stellte das Amtsgericht Hannover ein Verfahren wegen Beihilfe zum versuchten gemeinschaftlichen Diebstahl geringwertiger Sachen gemäß § 47 JGG gegen die Erbringung von Arbeitsleistungen ein. In 1998 erteilte das Amtsgericht B. dem Antragsteller wegen gemeinschaftlichen Diebstahls im besonders schweren Fall eine richterliche Weisung und erlegte ihm die Erbringung von Arbeitsleistungen auf. In 1999 erteilte das Amtsgericht B. dem Antragsteller wegen Hehlerei erneut eine richterliche Weisung. In 2000 befasste sich das Amtsgericht B. in drei Verfahren mit strafrechtlichen Verfehlungen des Antragstellers, stellte ein Verfahren wegen Diebstahls im besonders schweren Fall nach§ 47 JGG ein, erteilte in einem weiteren Verfahren wegen gemeinschaftlichen Diebstahls im besonders schweren Fall eine richterliche Weisung und verurteilte den Antragsteller in einem weiteren Verfahren wegen gemeinschaftlichen Diebstahls, Diebstahls und Hehlerei in Tatmehrheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu drei Wochen Jugendarrest. In 2001 erteilte das Amtsgericht B. dem Antragsteller in zwei weiteren Verfahren wegen Diebstahls und Urkundenfälschung sowie gemeinschaftlichen Diebstahls richterliche Weisungen und erlegte ihm die Erbringung von Arbeitsleistungen auf. In 2002 verurteilte ihn das Amtsgericht B. wegen fahrlässigen Fahrens ohne Haftpflichtversicherungsvertrag zu einer Geldstrafe von fünfzehn Tagessätzen. In 2003 befasste sich das Amtsgericht B. in drei weiteren Verfahren mit strafrechtlichen Verfehlungen des Antragstellers. Er wurde wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Wochen Jugendarrest und wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von sechs Monaten verurteilt. Ein weiteres Verfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung wurde nach § 47 JGG eingestellt. In 2005 verurteilte das Amtsgericht B. den Antragsteller wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von vierzig Tagessätzen. In 2006 verurteilte das Amtsgericht B. den Antragsteller wegen vorsätzlichen unerlaubten Umgangs mit gefährlichen Abfällen zu einer Geldstrafe von fünfundfünfzig Tagessätzen und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer zunächst zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von neun Monaten. In 2009 schließlich verurteilte das Landgericht B. den Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten.

15

Dabei lagen den Verurteilungen wegen Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit massive Gewalteinwirkungen auf die Opfer zugrunde. So versetzte der Antragsteller nach den Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 3. März 2003 - 320 Ds 3332 Js 48654/02 - (Bl. 88 f. Beiakte G) seinem Opfer einen Faustschlag in das Gesicht, schlug diesem eine Bierflasche auf den Kopf und verursachte so eine Kopfplatzwunde, die mit drei Stichen genäht werden musste. Der verurteilte Mittäter zog die zerbrochene Bierflasche am Hals des Opfers entlang und verursachte eine circa zehn Zentimeter lange Schnittwunde an der linken Halsseite, die mit dreizehn Stichen behandelt werden musste. Das Amtsgericht betonte, dass die Täter in massiver Weise auf ihr Opfer eingewirkt haben und es nur glücklichen Umständen zu verdanken sei, dass nicht noch mehr passierte. Nach den Feststellungen im weiteren Urteil des Amtsgerichts B. vom 30. Oktober 2006 - 219 Ds 7381 Js 1108/06 (199/06) - (Bl. 120 f. Beiakte G) verabreichte der Antragsteller seinem Opfer eine "Kopfnuss" und schlug eine Bierflasche derart auf dessen Kopf, dass sie zersplitterte. Das Opfer erlitt Prellungen am Kopf und eine blutende Schürf- und Schnittwunde. Nach dem Schlag mit der Flasche fiel das Opfer zu Boden und war dort weiteren Attacken und Tritten ausgesetzt. Das Amtsgericht stellte fest, dass der vom Antragsteller überaus kräftig ausgeführte Schlag mit der leeren Bierflasche eine das Leben gefährdende Behandlung darstelle. Bei der Strafzumessung wurde berücksichtigt, dass der Eindruck echten Bedauerns oder tatsächlicher Reue bei dem Antragsteller fehle. Sein Auftreten in der Hauptverhandlung lasse eine "gewisse Sorglosigkeit gegenüber möglichen Rechtsfolgen seiner Tat" und eine "Gleichgültigkeit gegenüber der körperlichen Unversehrtheit anderer in besonders gravierender Weise" erkennen. Der heftig ausgeführte Schlag mit der Flasche offenbare ein "erhebliches Ausmaß an Rücksichtslosigkeit und Brutalität", ohne dass eine nennenswerte Provokation des Antragstellers zu erkennen sei.

16

Nach den Feststellungen im Urteil des Landgerichts B. vom 29. April 2009 - 33a 1/09 KLs/ 6031 Js 86205/08 - (Bl. 29 f. Beiakte C), durch das der Antragsteller wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten verurteilt worden ist, hat der Antragsteller im Laufe des Jahres 2007 insgesamt fast fünfzig Kilogramm Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 7,5% THC zum gewinnbringenden Weiterverkauf erworben und diese im Wesentlichen auch in den Verkehr gebracht. Dabei betätigte sich der Antragsteller im Bereich der grenzüberschreitenden organisierten Drogenkriminalität in verantwortlicher Stellung. Er organisierte Lieferungen aus den Niederlanden in das Bundesgebiet und sorgte von Hannover aus für die Weiterverteilung. Ausweislich der beigezogenen strafgerichtlichen Verfahrensakten (Beiakten C bis E) ging der Antragsteller dabei in hohem Maße konspirativ und professionell vor. Bereits das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass der Antragsteller kein kleiner Drogenhändler gewesen sei, der aus purer Not und eigener Rauschmittelabhängigkeit den Stoff auf der Straße verkauft habe, sondern ein durchaus bedeutender Zwischenmann im grenzüberschreitenden Drogenhandel gewesen sei. Der im Verfahren vor dem Landgericht B. bestellte Sachverständige C. geht in seinem psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 2. März 2009 (Bl. 120 f. Beiakte D) davon aus, dass der Antragsteller nicht rauschmittelabhängig ist und auch die Taten nicht in einem rauschmittelinduzierten Zustand begangen hat, sondern maßgeblich zu Behebung finanzieller Nöte. Der Antragsteller weise zudem eine "heißblütige Affektdisposition" auf und neige dazu, "Konflikte physisch auszukämpfen" (Bl. 151 Beiakte D).

17

Schon anhand der so beschriebenen objektiven und subjektiven Tatumstände ist die Annahme der Antragsgegnerin in der angefochtenen Verfügung, es drohe ernsthaft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Antragstellers insbesondere bei der Verbreitung von Suchtgiften und bei Gewalttaten und von diesem gehe daher eine bedeutsame Gefahr für die Allgemeinheit und für die wichtigen Schutzgüter Leben und körperliche Unversehrtheit sowohl potenzieller Rauschmittelkonsumenten als auch Opfer von Gewalttaten aus, gerechtfertigt.

18

Diese Annahme wird durch das Verhalten des Antragstellers nach seiner Inhaftnahme im Oktober 2008 bestätigt.

19

So hat der Antragsteller bis heute keine wirkliche Einsicht in das von ihm begangene Unrecht gezeigt. Nach den Feststellungen im Urteil des Landgerichts B. vom 29. April 2009 - 33a 1/09 KLs/ 6031 Js 86205/08 - hat der Antragsteller nicht aktiv zur Tataufklärung beigetragen und auch kein umfassendes Geständnis abgelegt, sondern erst nach erfolgter Beweisaufnahme in seinem letzten Wort eingeräumt, vier der fünf angeklagten Taten begangen zu haben.

20

Gegenüber dem vom Landgericht Hannover bestellten Sachverständigen C. verharmloste der Antragsteller die den Vorstrafen zugrunde liegenden Taten erheblich. So schilderte der Antragsteller die den Urteilen des Amtsgerichts B. vom 3. März 2003 - 320 Ds 3332 Js 48654/02 - (Bl. 88 f. Beiakte G) und vom 30. Oktober 2006 - 219 Ds 7381 Js 1108/06 (199/06) - (Bl. 120 f. Beiakte G) zugrunde liegenden Straftaten als bloße "Ohrfeige" (Bl. 147 Beiakte D) und "Kopfnuss" (Bl. 148 Beiakte D), die gefährlichen Übergriffe mit einer (zerbrochenen) Bierflasche und die daraus folgenden erheblichen Verletzungen der Opfer wurden hingegen völlig ausgeblendet.

21

Auch das Verhalten des Antragstellers in der Justizvollzugsanstalt gestattet die Annahme einer klaren Zäsur im Leben des Antragstellers, die eine auch nur annähernde Gewähr für ein zukünftig straffreies Einfügen in die hiesigen Lebensverhältnisse bieten könnte, nicht. Der Antragsteller hat zwar an der Gruppenmaßnahme "Ambulante Suchttherapie für Kokainkonsumenten" (vgl. Bl. 195 Gerichtsakte), der "deliktorientierten Einzelbehandlung im Rahmen der Therapeutischen Ambulanz der JVA B. " (vgl. Bl. 196 Gerichtsakte) und dem Kurs "Soziales Training - Trainingsbereich Geld und Schulden" (vgl. Bl. 197 Gerichtsakte) teilgenommen. Ausweislich der Vollzugspläne vom 4. Juni 2010 und 21. Oktober 2010 (Beiakte B) war der Antragsteller aber auch aktiv an einer massiven körperlichen Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen beteiligt (vgl. auch Bl. 145, 149 Beiakte A), musste wiederholt diszipliniert werden (vgl. Bl. 133, 162 Beiakte A) und bemühte sich nicht um eine nachhaltige Umsetzung der Empfehlungen aus dem Vollzugsplan. Am 11. Januar 2011 wurde wegen illegalen Telefonbesitzes im Haftraum eine weitere Disziplinarmaßnahme verhängt und der Antragsteller von einer beruflichen Qualifizierungsmaßnahme ausgeschlossen (vgl. Schreiben der JVA v. 11.1.2011, Bl. 61 Beiakte B). Aufgrund dieses Verhaltens des Antragstellers in der Justizvollzugsanstalt ist unter anderem ein Ausschluss von Langzeitbesuchen zunächst für die Dauer von sechs Monaten verfügt (vgl. Verfügung der JVA v. 17.1.2011, Bl. 69 Beiakte B) und sind Vollzugslockerungen abgelehnt worden, nachdem auch die Polizei die Befürchtung geäußert hat, der Antragsteller werde "sofort wieder sein Umfeld aufsuchen und strafbare Handlungen begehen" (vgl. Stellungnahme der Polizeistation D. v. 30.4.2010, Bl. 104 Beiakte A). Der Antragsteller hat während seiner bisherigen Haftzeit auch kein nachhaltiges Interesse an der Aufnahme einer Ausbildung oder Arbeit gezeigt (vgl. Vermerke d. JVA v. 1.4.2010, Bl. 81 Beiakte A, v. 24.9.2010, Bl. 236 Beiakte A, v. 10.12.2010, Bl. 54 Beiakte B, und v. 16.12.2010, Bl. 53 Beiakte B, sowie den Vollzugsplan v. 21.10.2010, Beiakte B). Er ist vielmehr verschuldet beschäftigungslos (vgl. Schreiben der JVA v. 11.1.2011, Bl. 61 Beiakte B). Die auch schon vor der Inhaftierung fehlende Motivation zur Aufnahme einer Ausbildung und Arbeit (vgl. AG Hannover, Urt. v. 30.10.2006 - 219 Ds 7381 Js 1108/06 (199/06) -, Bl. 120 f. Beiakte G) besteht damit unverändert fort. Berücksichtigt man, dass der Antragsteller die den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten maßgeblich aus finanziellen Gründen begangen hat (vgl. LG Hannover, Urt. v. 29.4.2009 - 33 a 1/09 KLs/ 6031 Js 86205/08 -, Bl. 39 f. Beiakte C; psychiatrisches Sachverständigengutachten v. 2.3.2009, Bl. 120 f. Beiakte D) und bisher keine Bemühungen des Antragstellers erkennbar sind, die auf eine (legale) Besserung seiner finanziellen Situation nach der Haftentlassung schließen lassen, droht ernsthaft ein Rückfall des Antragstellers in alte Verhaltensverweisen und die damit verbundene schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen. Dies gilt umso mehr, als der Antragsteller im strafgerichtlichen Verfahren die Strukturen und Hintermänner des bestehenden grenzüberschreitenden Drogenhandels nicht aufgedeckt hat und hier durchaus die Möglichkeit einer Rückkehr des Antragstellers in diese Kreise besteht.

22

Die konkrete Gefahr der Begehung erneuter schwerer Rechtsverstöße wird entgegen der Auffassung des Antragstellers auch nicht durch die Möglichkeit einer Rauschmittelentwöhnungstherapie beseitigt. Zum einen kann selbst eine nachgewiesene positive Entwicklung in einer erfolgreich durchgeführten Rauschmittelentwöhnungstherapie für sich allein grundsätzlich nicht ausreichen, das spezialpräventive Ausweisungsinteresse bei einem Fall schwerer Betäubungsmittelkriminalität in entscheidungserheblicher Weise zu mindern oder gar wegfallen zu lassen. Solange eine Rauschmittelentwöhnungstherapie nicht erfolgreich abgeschlossen und deren Erfolg sowie die damit verbundene Erwartung künftig rauschmittel- und daran anknüpfend straffreien Verhaltens nicht auch nach Straf- bzw. Therapieende glaubhaft gemacht wurde, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr keine Rede sein (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 18.8.2011 - 10 ZB 10.2989 -, [...] Rn. 10). Zum anderen besteht der vom Antragsteller hier angenommene Zusammenhang zwischen einer Rauschmittelabhängigkeit und der Begehung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten nicht. Der im Verfahren vor dem Landgericht B. bestellte Sachverständige C. hat, wie schon erwähnt, in seinem psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 2. März 2009 (Bl. 120 f. und 152 f. Beiakte D) festgestellt, dass der Antragsteller nicht rauschmittelabhängig ist und auch die Taten nicht in einem rauschmittelinduzierten Zustand begangen hat. Auch das Landgericht B. konnte in seinem Urteil vom 29. April 2009 keinen Hang, Drogen zu konsumieren, im Sinne des§ 64 StGB feststellen (vgl. Bl. 39 und 48 Beiakte C). Auch für den Senat bestehen daher keine Anhaltspunkte, dass eine erfolgreich absolvierte Drogenentwöhnungstherapie Einfluss auf die vom Antragsteller ausgehende Gefahr einer erneuten schweren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung haben könnte.

23

Die Tatsache, dass die zur Ausweisung führenden Straftaten deutlich nach Eintritt der Volljährigkeit des Antragstellers begangen worden sind, und die Entwicklung des Antragstellers im Vollzug zeigen zudem, dass die strafrechtlichen Verfehlungen jedenfalls nicht maßgeblich auf das jugendliche Alter und eine noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung zurückzuführen sind.

24

Unter Berücksichtigung der so beschriebenen strafrechtlichen Verurteilungen des Antragstellers, der objektiven und subjektiven Tatumstände und der ganz offensichtlich fehlenden Bereitschaft des Antragstellers, das verwirklichte Unrecht einzusehen, aufzuarbeiten und sein Leben entsprechend zu ändern, besteht im vorliegenden Fall die ernsthaft drohende Gefahr, dass der Kläger nach einer Entlassung der Strafhaft erneut straffällig wird. Ausgehend von den bisher begangenen Taten und der steigenden Intensität von Rechtsgutbeeinträchtigungen steht dabei zu befürchten, dass der Antragsteller nicht "nur" gegen das Eigentum oder Vermögen gerichtete Straftaten begehen wird, sondern auch Straftaten, die die körperliche Unversehrtheit Dritter in ganz erheblicher Weise beeinträchtigen werden. Die sich daraus ergebende bedeutsame Gefahr für wichtige Schutzgüter begründet eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und damit ein - auch unter Berücksichtigung des besonderen Ausweisungsschutzes, den der Antragsteller genießt - hinreichendes öffentliches Interesse, den Antragsteller zukünftig vom Bundesgebiet fernzuhalten.

25

Dem steht kein das öffentliche Ausweisungsinteresse überwiegendes schutzwürdiges Interesse des Antragstellers am Verbleib im Bundesgebiet gegenüber.

26

Der Antragsteller kann sich zur Begründung eines überwiegenden privaten Interesses am Verbleib im Bundesgebiet zum einen nicht erfolgreich auf den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG berufen.

27

Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.8.2010 - 2 BvR 130/10 -, NVwZ 2011, 35, 37 [BVerfG 27.08.2010 - 2 BvR 130/10] m.w.N.).

28

Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - BVerfGE 76, 1, 42). Er knüpft dabei nicht an bloße formal-rechtliche familiäre Bindungen an. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft (vgl. Senatsbeschl. v. 27.7.2009 - 8 PA 106/09 -). In den so beschriebenen Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG fallen zwar auch die Beziehungen zwischen volljährigen Familienmitgliedern. Diesen kommt im Verhältnis zu den widerstreitenden einwanderungspolitischen Belangen aber in der Regel nur ein geringeres Gewicht zu. Allenfalls dann, wenn beispielsweise ein erwachsenes Familienmitglied zwingend auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt, kann dies einwanderungspolitische Belange zurückdrängen (vgl.Senatsurt. v. 15.6.2010 - 8 LB 117/08 -, [...] Rn. 59; GK-AufenthG, a.a.O., § 60a Rn. 165).

29

Nach dem Vorbringen des Antragstellers geht der Senat nicht davon aus, dass eine solche Beistandsgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seinen im Bundesgebiet lebenden volljährigen Familienangehörigen besteht. Er pflegt nach den beigezogenen Gefangenen-Personalakten (Beiakten A und B) zwar einen durchaus regelmäßigen Umgang mit seiner Mutter, seinen Geschwistern und wohl auch seiner Verlobten. Es ist aber weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Antragsteller zur Führung eines selbstbestimmten Lebens auf die Unterstützung dieser Personen oder diese auf seine Unterstützung angewiesen wären.

30

Der Antragsteller kann sich zur Begründung eines überwiegenden privaten Interesses am Verbleib im Bundesgebiet zum andern nicht erfolgreich auf den Schutz des Art. 8 EMRK berufen.

31

Im Hinblick auf den Schutz des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK verweist der Senat hinsichtlich der familiären Beziehungen des Antragstellers zu seiner im Bundesgebiet lebenden Mutter und seinen Geschwistern auf die vorstehenden Ausführungen im Zusammenhang mit dem Schutzgebot aus Art. 6 Abs. 1 GG. Art. 8 EMRK kann dort, wo sein Anwendungsbereich sich mit dem des Art. 6 Abs. 1 GG deckt, keine weitergehenden als die durch Art. 6 Abs. 1 GG vermittelten Schutzwirkungen entfalten (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.12.1997 - 1 C 20.97 -, NVwZ 1998, 748, 750).

32

Das darüber hinausgehende Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind (vgl. EGMR, Urt. v. 9.10.2003 - 48321/99 -, EuGRZ 2006, 560, 561 (Slivenko ./. Lettland)) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.2.2011 - 2 BvR 1392/10 -, NVwZ-RR 2011, 420, 421 m.w.N.). Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung eines Rechts nach Absatz 1 nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Der Eingriff muss eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.5.2007 - 2 BvR 304/07 -, InfAuslR 2007, 275).

33

Die Ausweisung erfolgt hier auf gesetzlicher Grundlage und verfolgt ein legitimes Ziel, nämlich die Verhinderung weiterer Straftaten des Antragstellers im Bundesgebiet. Die Ausweisung ist auch unter Berücksichtigung der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Kriterien für die Ausweisung junger Erwachsener, die noch keine eigene Familie gegründet haben (vgl. hierzu zusammenfassend: EGMR, Urt. v. 25.3.2010 - 40601/05 -, InfAuslR 2010, 325 f. (Mutlag ./. Deutschland)), verhältnismäßig. Die öffentlichen Belange, namentlich die in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Belange der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung von strafbaren Handlungen, überwiegen das private Interesse des Antragstellers am Verbleib im Bundesgebiet.

34

Im Rahmen der Ermittlung der privaten Belange ist in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Als Gesichtspunkte für das Vorhandensein von anerkennenswerten Bindungen können von Bedeutung sein Integrationsleistungen in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht, der rechtliche Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland und Kenntnisse der deutschen Sprache. Diese Bindungen des Ausländers an die Bundesrepublik Deutschland sind in Beziehung zu setzen zu den (noch vorhandenen) Bindungen an seinen Heimatstaat. Hierzu gehört die Prüfung, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist (vgl. Senatsbeschl. v. 14.6.2011 - 8 ME 325/10 -, [...] Rn. 30 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 8.12.2006 - 18 A 2644/06 -, AuAS 2007, 8; Hessischer VGH, Beschl. v. 15.2.2006 - 7 TG 106/06 -, [...] Rn. 25; Meyer-Ladewig, EMRK, 2. Aufl., Art. 8 Rn. 25a m.w.N.).

35

Der Antragsteller wurde am 18. Januar 1983 im Bundesgebiet geboren und lebt seitdem hier. Sein Aufenthalt war durchgehend rechtmäßig. Seit 2005 ist der Antragsteller Inhaber einer Niederlassungserlaubnis. Er beherrscht die deutsche Sprache in Wort und Schrift und hat seine gesamte Erziehung und Sozialisation im Bundesgebiet erfahren. Hier leben auch seine Mutter, seine Geschwister und seine Verlobte. Neben diesen fraglos vorhandenen sozialen Aspekten einer Integration hat sich der Antragsteller aber in wirtschaftlicher und auch in rechtlicher Hinsicht nicht in die hiesigen Lebensverhältnisse eingefügt. Nach dem Besuch der Orientierungsstufe wechselte er auf die Hauptschule und besuchte anschließend eine berufsbildende Schule, die er im Jahre 2001 mit dem Realschulabschluss beendete. In der Folge ist es ihm aber nicht gelungen, eine Berufsausbildung abzuschließen, die zumindest Grundlage einer zukünftigen wirtschaftlichen Integration sein könnte. Er hat die höhere Handelsschule ohne Abschluss verlassen, war dann arbeitslos, durchlief verschiedene Arbeitsförderungsmaßnahmen und war vor seiner Inhaftierung im Oktober 2008 nur kurzzeitig als Kurierfahrer und Gebäudereiniger tätig. Eine wirtschaftliche Integration ist dem Antragsteller daher nicht gelungen. Dass er auch nur ernsthaft bemüht wäre, unter Ausnutzung offensichtlicher Chancen und individueller Fähigkeiten im Strafvollzug zumindest die Grundlagen für eine zukünftige wirtschaftliche Integration zu legen, kann weder dem Vorbringen des Antragstellers noch den beigezogenen Gefangenen-Personalakten (Beiakten A und B) und Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin (Beiakten F bis H) entnommen werden. Wie dargestellt zeigt der Antragsteller keine nachhaltige Motivation zur Aufnahme einer Arbeit oder Ausbildung. Dass der Antragsteller darüber hinaus nicht bereit ist, die hiesige Rechtsordnung zu akzeptieren und sich in diese einzufügen, ergibt sich ohne Weiteres aus den beschriebenen massiven Verstößen gegen strafrechtliche Bestimmungen und die bestehende Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen.

36

Dem Antragsteller ist es auch nicht unmöglich, im Land seiner Staatsangehörigkeit ein Privatleben zu führen. Dabei geht der Senat - ungeachtet etwaiger, noch im Hauptsacheverfahren zu gewinnender Erkenntnisse (vgl. zu den insoweit bestehenden Aufklärungspflichten: BVerfG, Beschl. v. 21.2.2011, a.a.O., S. 422) - derzeit davon aus, dass Kenntnisse der albanischen Sprache und tatsächliche Bindungen an den Kosovo bei dem Antragsteller allenfalls rudimentär vorhanden sind. Hieraus folgt aber nur, dass die Eingewöhnung in die Lebensverhältnisse im Kosovo für den Antragsteller voraussichtlich schwierig sein wird. Anhaltspunkte dafür, dass diese unmöglich oder dem Antragsteller unzumutbar ist (vgl. zur Maßgeblichkeit dieses Aspekts: EGMR, Urt. v. 5.7.2005 - 46410/99 -, InfAuslR 2005, 450 f. [EGMR 05.07.2005 - 46410/99] (Üner ./. Niederlande)), bestehen für den Senat indes nicht. Der Antragsteller befindet sich mit 28 Lebensjahren in einem Alter, indem das Erlernen einer neuen Sprache, das Einfügen in neue und unbekannte soziale Strukturen und der damit verbundene Aufbau eines neuen Privatlebens regelmäßig zumutbar und möglich sind. Der Antragsteller gehört zudem der albanischen Mehrheitsbevölkerung an, ist voll erwerbsfähig und keiner politischen Verfolgung im Heimatland ausgesetzt. Nach der Rückkehr stünde ihm zudem die Unterstützung des auch vom Land Niedersachsen finanzierten Rückkehrerprojektes URA II zur Verfügung. Dieses bietet Integrations-, Betreuungs- und Unterstützungsmaßnahmen für Rückkehrer aus Deutschland an. Es verfügt über Wohnmöglichkeiten, die Rückkehrern bei Bedarf zur Verfügung gestellt werden, hilft bei der Wohnungssuche und zahlt für einen Übergangszeitraum die Miete, stellt Geld für Lebensmittelhilfen zur Verfügung, ist bei der Arbeitsplatzsuche behilflich und begleitet Zurückgekehrte bei Behördengängen. Nach aktuellen Erkenntnissen konnte das Projekt für alle Rückkehrer aus den das Projekt finanzierenden vier Bundesländern, die sich hilfesuchend an dieses gewandt haben, Wohnraum und Arbeit beschaffen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo (Stand: Dezember 2010), S. 37, und zu den gewährten Unterstützungs- und Hilfeleistungen im Einzelnen: www.bamf.de/DE/Rueckkehrfoerderung/ProjektKosovo/projektkosovo-node.html, Stand: 10.6.2011).

37

Diese privaten Belange werden von widerstreitenden öffentlichen Belangen, namentlich den in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Belangen der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung von strafbaren Handlungen, überwogen. Die Art und Schwere der vom Antragsteller begangenen Straftaten, sein Verhalten nach der Tatbegehung und die Gefahr der Begehung erneuter, insbesondere gegen die körperliche Unversehrtheit gerichteter Straftaten, rechtfertigen es hier, seine fraglos vorhandenen Bindungen an das Bundesgebiet durch die Ausweisung zu beenden.

38

Der Antragsteller ist wegen Betäubungsmitteldelikten verurteilt worden, also in einem Bereich, bei dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angesichts der von Suchtgiften ausgehenden schwerwiegenden Gefahren für die Allgemeinheit Verständnis dafür hat, dass die Vertragsstaaten gegen diejenigen, die aktiv zur Verbreitung von Kriminalität beitragen, entschlossen durchgreifen (vgl. EGMR, Urt. v. 23.6.2008 - 1638/03 -, InfAuslR 2008, 333, 334 [EGMR 23.06.2008 - EGMR (Große Kammer) Nr. 1638/03] (Maslov II ./. Österreich); v. 30.11.1999 - 34374/97 -, Rn. 48 (Baghli ./. Frankreich); v. 19.2.1998 - 26102/95 -, Rn. 50 (Dalia ./. Frankreich) letztere zitiert nach der Onlinedatenbank HUDOC (Human Rights Documentation) des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 10.8.2007 - 2 BvR 535/06 -, NVwZ 2007, 1300, 1301 [BVerfG 10.08.2007 - 2 BvR 535/06]; BVerwG, Urt. v. 31.8.2004, a.a.O., S. 360 f.). Hinzu kommt hier, dass der Antragsteller die Betäubungsmitteldelikte nicht als Rauschmittelabhängiger, sondern aus einem Gewinnerzielungsinteresse heraus begangen hat (vgl. zur Erheblichkeit dieses Aspekts: EGMR, Urt. v. 23.6.2008, a.a.O.) Die zur Ausweisung führenden, dem Urteil des Landgerichts Hannover vom 29. April 2009 - 33a 1/09 KLs/ 6031 Js 86205/08 - zugrunde liegenden fünf Straftaten sind nicht vereinzelt, sondern wiederholt und über einen relativ langen Zeitraum (vgl. zur Erheblichkeit dieses Aspekts: EGMR, Urt. v. 23.6.2008, a.a.O.) begangen worden. Es liegen schwere Straftaten zugrunde, die auch zu einer erheblichen Freiheitsstrafe geführt haben. Die Straftaten sind zudem deutlich nach Ablauf der in § 1 Abs. 2 JGG genannten zeitlichen Grenzen begangen worden und können daher nicht mehr als Jugendverfehlungen betrachtet werden (vgl. zur Erheblichkeit dieses Aspekts: EGMR, Urt. v. 17.4.2003 - 52853/99 -, NJW 2004, 2147, 2148 [EGMR 17.04.2003 - 52853/99] (Yilmaz ./. Deutschland). Desweiteren ist der Antragsteller durch die Urteile des Amtsgerichts B. vom 3. März 2003 - 320 Ds 3332 Js 48654/02 - (Bl. 88 f. Beiakte G) und vom 30. Oktober 2006 - 219 Ds 7381 Js 1108/06 (199/06) - (Bl. 120 f. Beiakte G) wiederholt wegen erheblicher Gewaltdelikte verurteilt worden (vgl. zur Erheblichkeit dieses Aspekts: EGMR, Urt. v. 23.6.2008, a.a.O.). Dabei ist der Antragsteller durch vorausgegangene zahlreiche strafrechtliche Verurteilungen, die nur zum Teil auf strafrechtliche Verfehlungen des Antragstellers in früherer Jugendzeit zurückgehen, hinreichend gewarnt und auf die Folgen seines Verhaltens hingewiesen worden. Gleichwohl hat der Antragsteller aus diesen früheren Verurteilungen für sich keine Konsequenzen gezogen, im Gegenteil lässt sein Verhalten eine zunehmende kriminelle Energie erkennen. Wie dargestellt sind auch keine greifbaren Anhaltspunkte dafür gegeben, dass sich der Antragsteller qualifiziert mit seiner Kriminalität und den dadurch angerichteten Schäden auseinandersetzt und hieraus konkrete Schlüsse für seine weitere Lebensführung abgeleitet und zumindest in Ansätzen auch tatsächlich verwirklicht hat. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass im vorliegenden Fall die ernsthaft drohende Gefahr besteht, dass der Antragsteller nach einer Entlassung aus der Strafhaft erneut schwerwiegend straffällig wird.

39

2.

Die Anordnung des Sofortvollzugs ist auch schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens als Präventivmaßnahme zur Abwehr der mit der Ausweisungsverfügung zu bekämpfenden Gefahren erforderlich.

40

Diese Erforderlichkeit ist regelmäßig dann zu bejahen, wenn, wie hier, die Ausweisung zutreffend von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung getragen wird (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 25.6.1998 - 11 S 682/98 -, [...] Rn. 4 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.2.1998 - 18 B 1466/96 -, [...] Rn. 30 f.; GK-AufenthG, a.a.O., vor §§ 53 ff. Rn. 1558.1 und 6 m.w.N.).

41

Dem kann der Antragsteller nicht mit Erfolg entgegenhalten, hier bestehe schon deshalb kein Erfordernis für einen Sofortvollzug, weil er sich in Strafhaft befinde und eine Anordnung nach § 456a StPO nicht in Betracht komme.

42

Zum einen ermächtigt § 456a Abs. 1 StPO entgegen der Auffassung des Antragstellers die Strafvollstreckungsbehörde schon dann zum Absehen von der Vollstreckung der Strafe, wenn der Ausländer aufgrund einer zwar nicht bestandskräftigen, aber mit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung versehenen Ausweisung vollziehbar ausreisepflichtig ist und die Beendigung seines Aufenthalts demnächst durchgesetzt werden soll (so ausdrücklich Niedersächsisches Justizministerium, Absehen von der Strafverfolgung und von der Strafvollstreckung bei Nichtdeutschen (§§ 154 b, 456 a StPO), AV v. 16.12.2009, Nds. Rpfl. 2010, S. 77, dort Nr. 1 Satz 3; vgl. auch Hessischer VGH, Beschl. v. 11.10.2007 - 7 TG 1849/07 -, [...] Rn. 3; Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 456a Rn. 6a; a.A. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 3.7.2007 - 2 VAs 18/07 -, [...] Rn. 5; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 456a Rn. 3). Weder der Wortlaut noch der Normzweck des§ 456a Abs. 1 StPO erfordern eine Begründung der maßgeblichen vollziehbaren Ausreisepflicht durch einen ausländerbehördlichen Verwaltungsakt, der in Bestandskraft erwachsen ist. Da das Absehen von der Vollstreckung der Strafe - wie § 456a Abs. 2 StPO belegt - eine vorläufige Maßnahme ist und keinen endgültigen Verzicht auf den staatlichen Vollstreckungsanspruch beinhaltet, kann auch aus der Tragweite dieser strafvollstreckungsbehördlichen Entscheidung nicht auf das Erfordernis einer bestandskräftigen ausländerbehördlichen Verfügung geschlossen werden (vgl. Hessischer VGH, Beschl. v. 11.10.2007, a.a.O.). Ist damit eine Entscheidung nach § 456a StPO auch schon vor Bestandskraft möglich, rechtfertigt schon dies die Anordnung des Sofortvollzuges (vgl.OVG Bremen, Beschl. v. 25.3.1999 - 1 B 65/99 -, InfAuslR 1999, 409, 412; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 11.1.1999 - 11 S 46/99 -, InfAuslR 1999, 127, 128 f.; GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. Rn. 1554 f.)

43

Zum anderen ist auch ungeachtet einer Entscheidung nach § 456a StPO nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren aus der Strafhaft entlassen wird und dann die beschriebene konkrete Gefahr der erneuten Begehung von Straftaten, die die körperliche Unversehrtheit Dritter im Bundesgebiet in ganz erheblicher Weise beeinträchtigen, droht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Gefahr bis zum rechtskräftigen Abschluss der Anfechtungsklage (also gegebenenfalls einschließlich des Berufungs- und Revisionsverfahrens) anzunehmen ist. Grundsätzlich maßgebend ist gemäß § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO vielmehr, ob von einer Gefahr in dem Zeitraum bis fünf Monate nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils auszugehen ist; denn nach Ablauf dieses Zeitraums ist die Ausweisung ohnehin vollziehbar, so dass es der Anordnung eines Sofortvollzuges nicht (mehr) bedarf (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 16.2.2007 - 11 ME 385/06 -). Ausgehend davon, dass der Antragsteller bereits heute mehr als die Hälfte und am 21. Dezember 2011 zwei Drittel der verhängten Freiheitsstrafe verbüßt haben wird, ist jederzeit eine vorzeitige Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 oder 2 StGB und eine damit verbundene Freilassung möglich, ohne dass vorher in der Hauptsache entschieden worden wäre. Angesichts eigenständiger Prüfungen und Prüfungsmaßstäbe der Strafgerichte und Strafvollstreckungsbehörden einerseits und der Verwaltungsgerichte und Ausländerbehörden andererseits steht dabei entgegen der Auffassung des Antragstellers selbst eine positive Prognose für eine Entscheidung nach § 57 Abs. 1 oder 2 StGB, für die hier derzeit keine Anhaltspunkte ersichtlich sind, der Annahme einer Wiederholungsgefahr und eines öffentlichen Interesses am Sofortvollzug nicht entgegen.

44

3.

Schließlich überwiegen die bei einem Aufschub des Vollzugs eintretenden konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter die den Antragsteller treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung.

45

Der Senat verkennt nicht, dass die sofortige Vollziehung der Ausweisung und die daran letztlich anknüpfende Aufenthaltsbeendigung eine schwer wiegende Maßnahme darstellt, die erheblich in das Leben des Antragstellers und seiner Familie eingreift. Er wird - jedenfalls bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens - gezwungen, das Bundesgebiet zu verlassen, hier bestehende Bindungen zu unterbrechen und sein Leben im Heimatland zu bestreiten. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller in wirtschaftlicher Hinsicht bisher nicht im Bundesgebiet integriert ist, der Sofortvollzug also nicht mit dem Verlust der wirtschaftlichen Existenz verbunden ist. Auch weitere im Bundesgebiet lebende Familienangehörige geraten durch die Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers nicht in eine existenzbedrohende Notlage. Dem Antragsteller ist eine soziale Wiedereingliederung im Bundesgebiet für den Fall eines Obsiegens im Hauptsacheverfahren durchaus möglich und auch zuzumuten. Die Wirkungen des Sofortvollzugs sind im Falle eines Obsiegens im Hauptsacheverfahren für den Antragsteller mithin weitgehend reparabel.

46

Dies gilt für die von einem Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet gefährdeten Rechtsgüter nicht. Realisiert sich die beschriebene konkrete Gefahr, dass der Antragsteller im Bundesgebiet erneut Straftaten begeht, die das Leben und die körperliche Unversehrtheit Dritter in ganz erheblicher Weise beeinträchtigen, sind die dann eingetretenen Schädigungen regelmäßig nicht wieder gutzumachen. Angesichts des hohen Ranges dieser Schutzgüter und der Irreparabilität ihrer Schädigung überwiegen diese im vorliegenden Einzelfall die den Antragsteller treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung.