Vergabekammer Lüneburg
Beschl. v. 18.11.2015, Az.: VgK-42/2015

Unzulässigkeit der Nachprüfung der Aufhebung eines Vergabeverfahrens zur Erweiterung einer Kläranlage

Bibliographie

Gericht
VK Lüneburg
Datum
18.11.2015
Aktenzeichen
VgK-42/2015
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 38007
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

In dem Nachprüfungsverfahren
der xxxxxx,
Verfahrensbevollmächtigte: xxxxxx,
- Antragstellerin -
gegen
die xxxxxx,
- Antragsgegnerin -
wegen
Aufhebung des Vergabeverfahrens "Erweiterung der Kläranlage xxxxxx, 2.BA"
hat die Vergabekammer durch den Vorsitzenden, RD Gaus, den hauptamtlichen Beisitzer BOR Peter und den ehrenamtlichen Beisitzer Dipl.-Ökonom Brinkmann im schriftlichen Verfahren beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Der Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die Höhe der Kosten wird auf xxxxxx € festgesetzt. Auslagen sind nicht entstanden.

  3. 3.

    Die Kosten (Gebühren und Auslagen der Vergabekammer) des Nachprüfungsverfahrens trägt die Antragsgegnerin.

  4. 4.

    Die Antragstellerin hat der Antragsgegnerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Kosten zu erstatten.

Begründung

I.

Die Vergabestelle und Antragsgegnerin hat mit EU-Vergabebekanntmachung vom xxxxxx.2015 Rohrleitungs-, Umbau-, Anschluss- und Oberflächenarbeiten als Los 3 des 2. Bauabschnitts zur Erweiterung der Kläranlage xxxxxx europaweit im offenen Verfahren als Bauauftrag gem. VOB/A-EG ausgeschrieben. Varianten/Alternativangebote waren gem. Ziffer II.1.9) der Bekanntmachung nicht zulässig. Einziges Zuschlagskriterium war gem. Ziffer IV.2.1) der Bekanntmachung der niedrigste Preis.

Die Kosten schätzte die Antragsgegnerin auf Basis eines im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens von der Vergabekammer angeforderten bepreisten Leistungsverzeichnisses auf xxxxxx € (brutto) ein.

Bis zum Schlusstermin für den Eingang der Angebote am xxxxxx.2015 gab lediglich die Antragstellerin ein Angebot ab, dass mit xxxxxx € (brutto) abschloss. Gem. der in der Vergabeakte enthaltenen Niederschrift über die Öffnung der Angebote waren Bieter oder deren Bevollmächtigte bei der Submission nicht anwesend. Zudem befand sich in der Niederschrift über die Angebotsöffnung in der Zeile zur Kennzeichnung der Angebote die Voreintragung "Lochstempel".

Das der Vergabekammer im Rahmen der Aktenanforderung übersandte Angebot der Antragstellerin war nicht durch Lochstempel gekennzeichnet und schloss mit der bei der Angebotsöffnung festgestellten Angebotsendsumme ab.

Noch am Tage der Angebotsöffnung, dem xxxxxx.2015, teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin "die Submissionsergebnisse" mit. Als einziges Angebot war dort das der Antragstellerin mit der ungeprüften Angebotsendsumme von xxxxxx € aufgeführt. Nach eigenem Bekunden übergab die Antragsgegnerin das Angebot unmittelbar nach dem Submissionstermin zur weiteren Wertung an das mit der Abwicklung der Ausschreibung von ihr beauftragte Ingenieurbüro xxxxxx. Das diesbezügliche Abgabeschreiben oder ein Vermerk über den Prüfauftrag enthielt die Vergabeakte der Antragsgegnerin nicht.

Nachdem die Antragsgegnerin von der Antragstellerin nach dem Submissionstermin zunächst verschiedene Erklärungen und Nachweise anforderte und diese dem mit Schreiben vom 17.08.2015 nachkam, teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit VHB-Formblatt 352 vom 08.09.2015 mit, dass das Vergabeverfahren aufgehoben wurde, da ein Verstoß gegen § 14 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 VOB/A festgestellt worden sei. Im Weiteren teilte sie mit, dass sie beabsichtige, ein erneutes offenes Verfahren nach öffentlicher Vergabebekanntmachung durchzuführen. Weitere relevante Informationen enthielt das Schreiben nicht.

Auch in der Vergabeakte der Antragsgegnerin - bestehend aus dem Angebot der Antragstellerin mit den nachgeforderten Nachweisen und Erklärungen, Schriftverkehr in Bezug auf die Auftragsbekanntmachung durch verschiedene Medien und der Niederschrift über die Angebotsöffnung - waren die Gründe für die Aufhebung der Ausschreibung nicht weiter erläutert. Insbesondere enthielt die Vergabeakte keinen dem § 20 EG VOB/A entsprechenden Vergabevermerk.

Nach der Information über die Aufhebungsentscheidung rügte die Antragstellerin am 11.09.2015 das Vergabeverfahren unter der Begründung, dass die Kennzeichnung der Angebote zur Sicherstellung der Vergleichbarkeit gar nicht erforderlich gewesen sei, da nur ein Angebot vorgelegen habe und zudem der Fehler der Nichtkennzeichnung des Angebotes der Vergabestelle zuzurechnen sei, so dass eine Aufhebung des Vergabeverfahrens eine extreme Benachteiligung und Härte gegenüber der Antragstellerin darstellen würde.

Mit Schreiben vom 22.09.2015 räumte die Antragsgegnerin ein, dass den Mitarbeitern der Submissionsstelle "ein weitreichender Fehler" unterlaufen sei, wies die Rüge jedoch zurück, indem sie mitteilte, dass es bei der Aufhebung der Ausschreibung verleibe.

Nach der Rügezurückweisung beantragte die Antragstellerin mit anwaltlichem Schriftsatz vom 06.10.2015 die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens.

Der Nachprüfungsantrag sei zulässig.

Sämtliche Zulässigkeitsvoraussetzungen seien erfüllt. Der Nachprüfungsantrag sei auch nicht gem. § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB verfristet. Die Nichtabhilfeentscheidung der Antragsgegnerin sei am 22.09.2015 zugestellt worden. Mithin sei die Frist zur Stellung eines Nachprüfungsantrages erst am 07.10.2015 abgelaufen.

Der Nachprüfungsantrag sei auch begründet.

Es liege kein Aufhebungsgrund gem. § 17 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB/A durch die fehlende Kennzeichnung des Angebotes der Antragstellerin gem. § 14 EG Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 VOB/A vor. Es sei herrschende Meinung, dass an die Anwendbarkeit des § 17 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB/A strenge Anforderungen geknüpft seien. Dies folge insbesondere daraus, dass sich Bieter im Vertrauen auf die Ausschreibung einlassen würden, dass auch eine tatsächliche Vergabe und ein Zuschlag erfolge. Der Maßstab zur Auslegung des § 17 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB/A erfordere daher eine am Einzelfall orientierte Abwägung aller in Betracht kommenden Gründe und Auswirkungen der Entscheidung, um das geschützte Vertrauen des Bieters in die Beendigung des Vergabeverfahrens durch Zuschlag mit den anderen vergaberechtlichen Prinzipien in Einklang bringen zu können.

Soweit in der Literatur und vom OLG Naumburg in seiner Entscheidung vom 01.08.2013 (Az.: 2 U 151/12) festgestellt werde, dass bei einem Verstoß gegen die Kennzeichnung der Angebote ein ordnungsgemäßer Wettbewerb nicht mehr gegeben und daher die Ausschreibung aufzuheben sei, träfe dies nur auf Vergabeverfahren zu, in denen mindestens zwei Bieter ein Angebot abgegeben hätten. Der vorliegende Fall sei jedoch durch die Besonderheit geprägt, dass nur ein Angebot vorgelegen hätte, nämlich das der Antragstellerin. Eine Gefährdung des Wettbewerbs sei mithin von vornherein ausgeschlossen, da eine Änderung der Bieterreihenfolge durch Austausch von Angebotsbestandteilen nicht eintreten könne.

Wäre die Auffassung der Antragsgegnerin richtig, hätte es eine Vergabestelle jederzeit einseitig in der Hand, nach Submission der Angebotssummen einfach Angebote nicht zu kennzeichnen und sich so bei unliebsamen Submissionsergebnissen einen Aufhebungsgrund zu verschaffen. Es sei offenkundig, dass eine solche Handlungsoption mit der Regelung des § 17 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB/A nicht geschaffen werden sollte.

Nach der Antragserwiderung trägt die Antragstellerin mit Schreiben vom 05.11.2015 ergänzend vor.

Sie verwahre sich gegen die teils offenen, teils versteckten Unterstellungen, sie habe kollusiv mit dem von der Antragsgegnerin beauftragten Ingenieurbüro zusammengearbeitet, da sie anderenfalls keine Kenntnis von der Anzahl der eingegangenen Angebote gehabt haben könne. Die Antragsgegnerin übersehe dabei offensichtlich, dass sie selbst mit Schreiben vom 03.08.2015 der Antragstellerin das Submissionsergebnis und damit auch die Anzahl der abgegebenen Angebote mitgeteilt habe. In diesem Zusammenhang spreche einiges dafür, dass der Vergabekammer die Vergabeakte nicht vollständig zur Verfügung gestellt worden sei und zudem relevante Informationen verschwiegen wurden.

Wenn jedenfalls jetzt in der Vergabeakte das Angebot der Antragstellerin noch immer auf die Angebotsendsumme laute, die die Antragsgegnerin selbst am 03.08.2015 mitgeteilt habe und sich keine Änderungen finden, dürfte eine tatsächlich erfolgte und durch nichts bisher auch nur im Ansatz bewiesene Manipulation an dem Angebot der Antragstellerin ausgeschlossen werden können.

Die Antragsgegnerin habe sich offensichtlich mit ihrem externen technischen Berater überworfen. Jedoch seien weder die Qualität des Planungsbüros noch die im Zuge der Ausführung von Los 1 vorgetragenen Sachverhalte in Bezug zur Antragstellerin geeignet, das Vergabeverfahren zu Los 3 aufzuheben. Die Antragstellerin sei zu keinem Zeitpunkt Auftragnehmerin der Antragsgegnerin zu Los 1 gewesen.

Nach dem von der Vergabekammer mitgeteilten Beschluss des BGH vom 20.03.2013 (Az.: X ZB 18/13) stehe jedenfalls fest, dass die Aufhebung des Verfahrens durch die Antragsgegnerin mangels Aufhebungsgrund vorliegend rechtswidrig war. In der Folge hätte die Antragsgegnerin im Sekundärprozess vollständigen positiven Schadenersatz zu leisten, da der Auftrag an die Antragstellerin erteilt werden müsse.

Die Antragstellerin beantragt,

ein Nachprüfungsverfahren einzuleiten.

Darüber hinaus beantragt sie:

  1. 1.

    Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin zu erteilen.

  2. 2.

    Hilfsweise: Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, das Vergabeverfahren in den Zustand vor Angebotswertung zurückzuversetzen und die Angebotswertung nach Maßgabe der Hinweise der Vergabekammer zu wiederholen.

  3. 3.

    Die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin wird für notwendig erklärt.

  4. 4.

    Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.

Ferner wird beantragt,

der Antragstellerin gem. § 111 GWB umfassende Einsicht in die Vergabeakte, insbesondere in den Vergabevermerk zu gewähren,

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Anträge der Antragstellerin im Schriftsatz vom 6. Oktober 2015 kostenpflichtig zurückzuweisen.

Zur Sachverhaltsdarstellung der Antragstellerin sei zunächst richtigzustellen, dass - ausweislich des Submissionsprotokolls - entgegen der Darstellung der Antragstellerin die Angebotseröffnung ohne die Anwesenheit eines Vertreters der Antragstellerin erfolgte. In der Folge habe es auch keine Mitteilung an die Antragstellerin in Bezug auf die Anzahl der eingegangenen Angebote gegeben, oder ob sich das Angebot der Antragstellerin "im Rahmen der Kostenschätzung der Antragsgegnerin" bewege. Vor diesem Hintergrund habe sich für die Antragsgegnerin die Frage gestellt, woher die Antragstellerin diese vertraulichen Informationen erhalten habe.

Diesbezüglich habe die Antragsgegnerin die begründete Besorgnis, dass das von ihr beauftragte Ingenieurbüro im konkreten Fall Interna aus dem Vergabeverfahren betreffend Los 3 an die Antragstellerin weitergegeben habe. Denn die Unterlagen zu Los 3 seien unmittelbar nach dem Submissionstermin an das Ingenieurbüro versendet worden und hätten sich dort geraume Zeit befunden. Die Zweifel an der Zuverlässigkeit des Ingenieurbüros bestünden auch nicht ohne Grund. Auch in anderen Bereichen - insbesondere bei den Arbeiten zu Los 1 - habe das Ingenieurbüro die Antragsgegnerin bewusst getäuscht. Das Vertrauensverhältnis zu dem Ingenieurbüro sei insoweit nachhaltig beschädigt.

Zwar sei der Antragstellerin nicht anzulasten, dass das Vertrauensverhältnis der Antragsgegnerin zum Ingenieurbüro belastet sei. Sehr wohl sei dieser Umstand aber vorliegend von Bedeutung im Hinblick darauf, dass vorliegend die Aufhebung des Verfahrens erforderlich gewesen sei. Denn wenn es im laufenden Vergabeverfahren offenbar heimlich zu einem Informationsfluss zwischen Antragstellerin und dem beauftragten Ingenieurbüro gekommen sei, dann könne die Antragsgegnerin keine Gewähr dafür übernehmen, dass die Unterlagen, welche im Submissionstermin geöffnet worden seien, auch tatsächlich - Seite für Seite - exakt die gleichen Unterlagen seien, die sie vom Ingenieurbüro zurück erhalten habe. Dann könne aber auch nicht von der Durchführung eines ordnungsgemäßen Vergabeverfahrens gesprochen werden, so dass sich die Aufhebung der Ausschreibung als jedenfalls dem besonderen Einzelfall gerecht werdend erweise.

Das hier nur ein Angebot abgegeben worden sei, sei unschädlich, da die formalen Anforderungen des § 14 EG Abs., 3 Nr. 2 Satz 1 VOB/A immer gelten würden, auch wenn nur ein Angebot abgegeben worden sei. Erst recht müsse auch bei nur einem Angebot ausgeschlossen werden, dass Teile dieses Angebotes etwa durch kollusives Zusammenwirken zwischen Ingenieurbüro und Bieter ausgetauscht würden und somit nicht mehr zweifelsfrei festgestellt werden könne, welches Angebot der Submission zugrunde gelegen habe. Darüber gehe die Antragstellerin bewusst hinweg, indem sie den Eindruck zu erwecken versuche, die formalem Vorgaben seien bei Abgabe nur eines Angebotes vernachlässigbar.

Und schließlich sei die Argumentation der Antragstellerin hinsichtlich der möglichen Übereinstimmung der Angebotsendsumme, die der Antragstellerin am 03.08.2015 mitgeteilt wurde, mit der Angebotsendsumme des Angebotes aus der Vergabeakte zurückzuweisen. Insbesondere könne dadurch keine Manipulation des Angebotes ausgeschlossen werden. Auch bei Übereinstimmung der Angebotsendsummen bestehe die konkrete Möglichkeit, dass einzelne Seiten ausgetauscht worden seien, was Nachträge zu einzelnen Positionen zur Folge haben könne. Bei Los 1 sei genau das erfolgt: Auffällige Bieterangaben zu einzelnen Positionen seien von demselben Planungsbüro nicht erkannt bzw. aufgeklärt worden.

Nach alledem bestehe ein schwerwiegender Sachgrund, welcher die Aufhebung der Ausschreibung in diesem besonders gelagerten Einzelfall rechtfertige.

Hinweis der Vergabekammer: Das von der Antragsgegnerin mit der Durchführung des Verfahrens beauftragte Ingenieurbüro wurde von der Antragsgegnerin aus den dort näher genannten Gründen im Laufe des Nachprüfungsverfahrens am 15.10.2015 zunächst abgemahnt und der Vertrag schließlich am 05.11.2015 gekündigt.

Wegen des übrigen Sachverhalts wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die Vergabeakte Bezug genommen.

II.

Der zulässige Nachprüfungsantrag ist unbegründet. Die Antragsgegnerin war gemäß § 17 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB/A berechtigt, aufgrund des erschütterten Vertrauensverhältnisses zu dem mit der Submission und Wertung der Angebote beauftragten Ingenieurbüro sowie der unterlassenen Kennzeichnung der Angebote im Submissionstermin die Vergabe aufzuheben. § 14 EG Abs. 3 Nr. 2 VOB/A entfaltet seine Schutzwirkung nicht nur im Verhältnis konkurrierende Anbieter untereinander, sondern schützt auch den Auftraggeber vor einem Handeln eines Anbieters in Verbindung mit dem beauftragten Ingenieurbüro. Da die Pflicht zur Kennzeichnung der Angebote unabhängig von einem konkreten Gefahrverdacht besteht, gibt es für den Auftraggeber keine Verpflichtung, anhand konkreter Anhaltspunkte eine gegenwärtige Gefahrenlage für ein rechtswidriges Verhalten des Ingenieurbüros oder des anbietenden Unternehmens darlegen zu müssen.

1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig. Die Antragsgegnerin ist als Kommune eine Gebietskörperschaft und somit öffentliche Auftraggeberin im Sinne des § 98 Nr. 1 GWB. Der streitbefangene Auftrag übersteigt den für die Zuständigkeit der Vergabekammer maßgeblichen Schwellenwert gemäß § 100 Abs. 1 GWB. Danach gilt der 4. Teil des GWB nur für solche Aufträge, die die Auftragswerte erreichen oder überschreiten, die durch Rechtsverordnung nach § 127 GWB festgelegt sind. Bei den ausgeschriebenen Leistungen handelt es sich um einen Bauauftrag im Sinne des § 1 EG-VOB/A. § 2 Abs. 1 Satz 1 der VgV enthält eine dynamische Verweisung auf die europarechtlich festgelegten Schwellenwerte, hier die Verordnung (EU) Nr. 1336/2013 vom 13.12.2013. Artikel 2 Absatz 1c der VO setzt für Bauaufträge einen Schwellenwert von 5.186.000 € fest. Die Antragsgegnerin hat zwar laut vorgelegter Vergabeakte nicht den Wert der gesamten Baumaßnahme, sondern nur den Wert der hier zu vergebenden Leistung geschätzt, angesichts des hier bekannten Umfangs des Projektes hat die Vergabekammer jedoch keinen Zweifel daran, dass die Gesamtbaumaßnahme über alle Lose hinweg den Schwellenwert deutlich überschreitet. Die Möglichkeit gemäß § 3 Abs. 7 VgV Einzelleistungen nicht im Wege einer europaweiten Bekanntgabe zu vergeben besteht hier nicht, da der in § 73 Abs. 7 VgV vorgegebene Höchstwert von 1 Mio. € für dieses Los bzw. Gewerk überschritten wird.

Die Antragstellerin ist gemäß § 107 Abs. 1 GWB antragsbefugt, da sie als einzige Anbieterin ein Interesse am Auftrag hat und durch die Aufhebung eine Verletzung eigener Rechte durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht. Insbesondere sei es nicht ihr anzulasten, wenn das von der Antragsgegnerin beauftragte Ingenieurbüro nicht sorgfältig gearbeitet habe.

Ob sich diese dargestellte Rechtsverletzung bestätigt, ist keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27.07.2006, VII-Verg 23/06 Ziffer 1a).

Die Antragstellerin hat die im Nachprüfungsverfahren geltend gemachten Vergaberechtsverstöße rechtzeitig im Sinne des § 107 Abs. 3 GWB gerügt. Gemäß § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB ist der Nachprüfungsantrag unzulässig, soweit der Antragsteller den gerügten Verstoß gegen Vergabevorschriften im Vergabeverfahren erkannt und gegenüber dem Auftraggeber nicht unverzüglich gerügt hat. Die Antragstellerin wurde mit Schreiben vom 08.09.2015 über ihren Ausschluss informiert. Hiergegen hat sie sich mit der Rüge vom 11.09.2015 gewandt.

Als unverzüglich galt früher grundsätzlich nur ein Zeitraum von ein bis drei Tagen ab Erkennbarkeit (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 18.09.2003, Az.: 1 Verg 3/03; Bechtold, GWB, § 107, Rdnr. 2). Bei Einschaltung eines Anwaltes bzw. Prüfung schwieriger Rechtsfragen wurde die Frist regelmäßig auf eine Woche ausgedehnt (vgl. VK Nordbayern, Beschluss vom 08.06.2011 - 21.VK3194-14/11; OLG Dresden, Beschluss vom 07.05.2010, WVerg 6/10; OLG München, Beschluss vom 15.03.2012, Verg 2/2; VK Bund, Beschluss vom 17.01.2008, VK1-152/07). Inzwischen nimmt das OLG München eine Rügefrist von sieben Werktagen an (OLG München, Beschluss vom 19.12.2013 - Verg 12/13), das OLG Düsseldorf von 11 Tagen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.06.2013 - Verg 7/13).

Die europäische Kommission ist bei ihrer Überprüfung der deutschen Vorschriften zum Ergebnis gelangt, dass die Unbestimmtheit der Vorschrift die Rechtsmittelrichtlinie und die Gebote der Transparenz, Rechtssicherheit und Nichtdiskriminierung verletze. Sie hat daraufhin im Juli 2013 ein informelles Vorverfahren eingeleitet. Die Bundesrepublik hat zugesagt, im Rahmen der Reform des GWB zur Umsetzung der neuen EU-Vergaberichtlinien auch die Vorschrift des § 107 GWB an die europarechtlichen Vorgaben anzupassen. Bis zur Anpassung der Rügefrist auf 10 bzw. 15 Kalendertage dürfte, obgleich die Umsetzungsfrist der neuen EU-Vergaberichtlinien bis zum 17.04.2016 läuft, die Vorschrift des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB wegen der verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutzgarantie nicht mehr abweichend anzuwenden sein, ohne die Frage vorher dem EuGH oder dem BGH vorzulegen (s. dazu auch Werkstattbeitrag von Eydner, ibr-online, vpr 2014, 2673, eingestellt am 08.04.2014; VK Niedersachsen, Beschluss vom 17.04.2014, VgK-9/2014). Der europäischen Kommission folgend legt die Vergabekammer unter Übernahme der Mindestüberlegungsfristen des Art. 2c Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG eine Rügefrist von 10 bzw. 15 Tagen ab Erkennbarkeit zugrunde.

Das wird bestätigt durch den Kabinettsentwurf des GWB 2016, Stand 14.08.2015, der in der dem bisherigen § 107 GWB entsprechenden Vorschrift des § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB-E von einer Rügefrist von 10 Tagen ausgehen will.

Diese Frist hat die Antragstellerin mit ihrer Rüge binnen 3 Tagen gewahrt. Ebenso hat die Antragstellerin die Frist des § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB gewahrt, indem sie 14 Tage nach der Rügezurückweisung einen Nachprüfungsantrag stellte.

2. Der Nachprüfungsantrag ist unbegründet. Die Antragsgegnerin war gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A berechtigt, die Ausschreibung aufzuheben, weil andere schwerwiegende Gründe bestehen. Sie hat ihr Ermessen auch rechtsfehlerfrei ausgeübt.

a. § 17 EG Abs. 1 VOB/A kennt drei Aufhebungsgründe. Die Aufhebung ist zulässig, wenn kein Angebot eingegangen ist, das den Ausschreibungsbedingungen entspricht (Nr. 1), sie ist ebenso zulässig, wenn die Vergabeunterlagen grundlegend geändert werden müssen (Nr. 2), und sie ist zulässig, wenn andere schwerwiegende Gründe bestehen (Nr. 3). Bei dem letzten Tatbestand handelt es sich um einen Auffangtatbestand, der atypische Fälle der berechtigten Aufhebung erfassen soll, die in den vorherigen Nummern 1 und 2 des § 17 EG Abs. 1 VOB/A nicht enthalten sind. Es handelt sich bei dem Begriff der "schwerwiegenden Gründe" um einen unbestimmten Rechtsbegriff, welcher der inhaltlichen Ausfüllung durch die Rechtsprechung bedarf. Als taugliche Gründe kommen nur solche Gründe in Betracht, die mit den Gründen gemäß § 17 EG Abs. 1 Nr. 1 und 2 VOB/A vergleichbar sind.

Das Vergabeverfahren ist nicht nur für den Auftraggeber, sondern auch für den Anbieter aufwendig und kostenintensiv. Der öffentliche Auftraggeber darf ein Vergabeverfahren nur beginnen, wenn er ernstlich die Absicht hat, den Auftrag zu erteilen. Er darf daher nicht vorgebliche Vergabeverstöße geringfügiger Art zum Anlass nehmen, sich der Verpflichtung zum Vertragsschluss durch eine Aufhebung gemäß § 17 Abs. 1 VOB/A zu entwinden. Berücksichtigungsfähig sind grundsätzlich nur Mängel, welche die Durchführung des Verfahrens und die Vergabe des Auftrags selbst ausschließen, wie etwa das Fehlen der Bereitstellung öffentlicher Mittel durch den Haushaltsgesetzgeber. Im Einzelnen bedarf es für die Feststellung eines schwerwiegenden Grundes einer Interessenabwägung, für die die Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls maßgeblich sind (BGH Beschluss vom 20.03.2014 - X ZB 18/13, Rdnr. 25).

Nicht überzeugend ist die ursprüngliche Darstellung der Antragsgegnerin, die Antragstellerin habe sich vom Ingenieurbüro über das Submissionsergebnis informieren lassen. Die Antragsgegnerin hat die Antragstellerin selbst mit Schreiben vom 03.08.2015 über das Submissionsergebnis informiert, dies auch im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens eingeräumt. Aus jener Information ergab sich auch, dass die Antragstellerin einzige Anbieterin war. Dieser unkoordinierte Informationsfluss, der sich in Teilen auch in der Vergabeakte, insbesondere den mehrfachen Anläufen der Vergabekammer, die richtige Kostenschätzung nachzuliefern, widerspiegelt, hat das Vergabeverfahren belastet. Die Vergabekammer hat nicht zu entscheiden, ob dies ausschließlich auf das Verschulden des Ingenieurbüros zurückzuführen ist, oder ob hier nicht auch Organisationsmängel der Antragsgegnerin vorliegen.

Aus der Information über das Submissionsergebnis ergab sich allerdings nicht, dass das Angebot der Antragstellerin im Rahmen der Kostenschätzung der Antragsgegnerin gelegen habe. Es bleibt daher unklar, warum die Antragstellerin bereits in der Antragsschrift auf Seite 9 Ziffer 2.3 eine solche Darstellung abgeben konnte. Die Vergabekammer hat die Antragstellerin erst mit Schreiben vom 19.10.2015 darüber informiert, dass der Bruttowert des als Kostenschätzung übersandten Leistungsverzeichnisses der Antragsgegnerin über dem Preis der Antragstellerin lag.

Die Antragsgegnerin hat sich darauf berufen, dass das von ihr beauftragte Ingenieurbüro sie nicht auf die unterlassene Kennzeichnung der Angebote bzw. in diesem Bauabschnitt das Angebot der Antragstellerin hingewiesen habe. Die Kennzeichnung der Angebote ist eine Verpflichtung aus § 14 EG Abs. 3 Nr. 2 VOB/A.

Die Niederschrift über die Öffnung der Angebote war nicht Teil der Vergabeunterlagen, wurde der Vergabekammer allerdings mit der Vergabeakte gesondert übersandt. Die Niederschrift ist von einem Verhandlungsleiter und von einem Vertreter des Auftraggebers unterzeichnet worden. Beide sind Mitarbeiter der Antragsgegnerin. Gemäß der Darstellung in der Antragserwiderung wurde die Vergabe erst nach der Submission an das Ingenieurbüro übermittelt. Das Protokoll verzeichnet die Verdingungsunterlagen, Begleitschreiben und andere wesentliche Teile seien gekennzeichnet (Lochstempel) worden. Tatsächlich ist das Angebot der Antragstellerin nicht gekennzeichnet worden. Ein Lochstempel fehlt. Hier haben also zwei Mitarbeiter der Antragsgegnerin falsch protokolliert. Der maßgebliche Fehler entstand bei der Antragsgegnerin, nicht bei dem Ingenieurbüro.

Die Anwesenheit der Antragstellerin ist entgegen dem Vortrag der Antragstellerin aus der Antragsschrift nicht protokolliert. Die Antragstellerin hat im weiteren Nachprüfungsverfahren nicht substantiiert vorgetragen, wer von ihrer Seite bei der Submission anwesend gewesen sein soll.

Schon die verspätete Kennzeichnung der Angebote nach Eröffnungstermin, stellt einen Vergabeverstoß dar (Christiani in: Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, § 14 VOB/A, Rn. 31). Erst recht gilt das für die hier dauerhaft unterlassene Kennzeichnung der Angebote. Diese Verpflichtung des öffentlichen Auftraggebers schützt nicht nur die Wettbewerber untereinander vor Fälschungen (Marx, in: Kulartz/Marx/Portz, VOB/A, 2. Aufl., § 14 VOB/A, Rn. 42) sondern gleichermaßen auch den Auftraggeber davor, von einem der Wettbewerber übervorteilt zu werden. Denn die Möglichkeit, aus einem nicht gekennzeichneten Angebot einzelne Seiten des Angebots oder sogar das gesamte Angebot auszutauschen, schädigt nicht nur Konkurrenten, etwa wenn die Blätter mit dem Endpreis und bestimmten Einzelpreisen ausgetauscht werden, um einen Konkurrenten zu unterbieten. Die Vergabekammer folgt nicht der Auffassung der Antragstellerin, dass es im Fall der fehlenden Kennzeichnung zusätzlich einer konkreten Gefährdung des ordnungsgemäßen Vergabeverfahrens bedürfte, um eine Aufhebung der Vergabe zu rechtfertigen. Die Feststellung einer unterlassenen Lochung oder anderen Kennzeichnung ist relativ einfach möglich. Der zusätzliche Nachweis manipulativen Verhaltens ist dagegen ungleich schwerer möglich, so dass in diesem Fall die Anforderung an die Aufhebung einer Vergabe so hoch gesetzt wären, dass der öffentliche Auftraggeber auch bei deutlichen Anhaltspunkten unterhalb der Beweisbarkeitsschwelle trotz fehlendem Vertrauen zum künftigen Auftragnehmer gezwungen wäre, mit diesem einen Vertrag zu schließen. Das ist nicht gewollt.

Weder die Vergabekammern, noch die OLG haben in ihrer durchaus umfangreichen Rechtsprechung zur Aufhebung aufgrund fehlender Kennzeichnung bisher im Sinne des von der Antragstellerin gewollten Kontrahierungszwangs entschieden. Bereits die unterlassene Kennzeichnung verhindert die Sicherstellung des ordnungsgemäßen Wettbewerbs und führt daher regelmäßig zur Aufhebung des Vergabeverfahrens (VK Sachsen, Beschluss vom 24.05.2007 1/SVK/029-07; Christiani in: Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, § 14 VOB/A, Rn. 40) oder aber im Fall eines nicht gekennzeichneten Nebenangebotes dazu, dass das Nebenangebot nicht gewertet werden darf (VK Sachsen, Beschluss vom 10.04.2014, 1/SVK/007-14). Die VK Südbayern vertritt insoweit abweichend die Auffassung, dass eine Zurückversetzung des Vergabeverfahrens in den Stand vor Submission ausreichend sei (VK Südbayern, Beschluss vom 09.10.2013, Z3-3-3194-1-27-08/13). Allerdings hat die VK Arnsberg (VK Arnsberg, Beschluss vom 03.06.2013, VK 09/13) zutreffend darauf hingewiesen, dass der öffentliche Auftraggeber keine Möglichkeit hat, eine unterlassene Kennzeichnung nachträglich zu heilen. Es gibt keine Gewähr dafür, dass das heute dem Auftraggeber vorliegende Angebot identisch ist mit dem, welches in der Submission vorgelegen hat.

Die fehlende Kennzeichnung erleichtert treuwidriges Handeln auch im Verhältnis zum Auftraggeber, etwa durch Änderung bestimmter Einzelpreise, um die Basis für eine Mischkalkulation zu legen. Auch wenn nur ein Angebot eines Wettbewerbers vorliegt, handelt sie es sich daher bei dem Verstoß gegen die Kennzeichnungspflicht um eine den Auftraggeber und die Konkurrenten unmittelbar schützende Vorschrift um die Ursprünglichkeit des abgegebenen Angebotes zu wahren. Soweit das OLG Schleswig (OLG Schleswig, Beschluss vom 08.01.2013, 1 W 51/12) formal eine andere Auffassung vertritt, die Kennzeichnungspflicht sei zunächst nicht drittschützend, korrigiert das OLG Schleswig seine Darstellung, weil die Ordnungsvorschrift des § 14 Abs. 3 VOB/A im Zusammenhang mit der Aufhebungsentscheidung Drittschutz entfalte.

Die von der Antragstellerin aber auch von der Antragsgegnerin benannte Entscheidung des OLG Naumburg (OLG Naumburg, Urteil vom 01.08.2013 - 2 U 151/12) passt auf den hier zu entscheidenden Streit nicht vollständig, da das OLG Naumburg bereits über einen Anspruch auf Schadensersatz zu entscheiden hatte. Das OLG Naumburg geht jedoch unter Ziffer 3a seiner Entscheidung davon aus, dass die Aufhebung des Vergabeverfahrens infolge der fehlerhaften Kennzeichnung ermessensfehlerfrei war.

Die Antragsgegnerin führt über die fehlende Kennzeichnung des Angebots hinaus weitere Gründe auf, aufgrund derer das Vertrauensverhältnis zu dem beauftragten Ingenieurbüro erschüttert sei. Diese betreffen nicht nur den 2. Bauabschnitt, der mit der hier streitigen Vergabe beauftragt werden soll, sondern auch den 1. Bauabschnitt und den 3. Bauabschnitt, welche die Antragsgegnerin als Lose bezeichnet. Diesen Verstößen geht die Vergabekammer nicht mehr nach, da die unterlassene Kennzeichnung des Angebots als Aufhebungsgrund ausreicht, zudem eine ausführliche Überprüfung etwaiger Verstöße aus dem 1. Bauabschnitt und aus dem 3. Bauabschnitt im Rahmen eines Vergabenachprüfungsverfahrens gegen den Beschleunigungsgrundsatz aus § 113 GWB verstoßen würde.

b. Die Antragsgegnerin hat die Aufhebung erkennbar aus objektiv gewichtigen Gründen und im Ergebnis ermessensfehlerfrei vorgenommen. Sie sieht sich an der weiteren Fortsetzung des Vergabeverfahrens gehindert, weil sie über die unterlassene Kennzeichnung hinaus konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass das von ihr beauftragte Ingenieurbüro mit der Antragstellerin vertrauliche Informationen ausgetauscht hat. Auch nachdem sich im Vergabenachprüfungsverfahren herausgestellt hat, dass nicht alle von ihr vorgebrachten Gründe überzeugend sind, dass vielmehr einige der von ihr zu Recht beanstandeten Indiskretionen von der Antragsgegnerin selbst verursacht worden sind, und Mitarbeiter der Antragsgegnerin entweder die Niederschrift über die Öffnung der Angebote fehlerhaft ausgefüllt haben, oder die Niederschrift nicht mit der unabdingbar gebotenen Sorgfalt begleitet haben, bleiben hinreichende Gründe dafür bestehen, dass die Vergabe in der begonnenen Form nicht fortgesetzt werden kann. Mindestens die Information, dass das Angebot im Rahmen der Kostenschätzung liege, dürfte nach bisherigem Sachstand aus der Interessensphäre der Antragsgegnerin, also von der Antragsgegnerin oder dem Ingenieurbüro der Antragstellerin zur Verfügung gestellt worden sein. Die Antragsgegnerin ist daher nicht mehr sicher, dass das zu bewertende Angebot mit dem abgegebenen Angebot übereinstimmt. Dieser Grund ist hinreichend schwerwiegend, um eine Aufhebung gemäß § 17 EG Absatz 1 VOB/A zu rechtfertigen.

Die Antragsgegnerin hat die fehlerhafte Kennzeichnung auch erkennbar nicht als vorgeschobenen Grund für die Aufhebung eingesetzt. Die Ernsthaftigkeit, mit der das Vertrauensverhältnis der Antragsgegnerin zu dem beauftragten Ingenieurbüro erschüttert ist, zeigt sich darin, dass die Auftraggeberin das Ingenieurbüro zuerst abmahnte, im Weiteren schließlich den Auftrag fristlos kündigte.

Die Aufhebung des Vergabeverfahrens ist daher geeignet, das Ziel der Antragsgegnerin, die Vergabe rechtsfehlerfrei fortzusetzen, zu erfüllen. Es erweist sich auch als erforderlich, weil der von der Antragstellerin im Hilfsantrag vorgeschlagene Weg einer neuen Wertung nicht geeignet ist, die Übereinstimmung des vorliegenden Angebots mit dem abgegebenen Angebot besser zu gewährleisten. Die Maßnahme der Aufhebung ist auch nicht unverhältnismäßig, weil die Antragstellerin in der von der Antragsgegnerin angekündigten alsbaldigen neuen Vergabe die Möglichkeit hat, das bereits vorgelegte Angebot unverändert noch einmal vorzulegen, somit ohne nennenswerten Bearbeitungsaufwand erneut chancenreich am Wettbewerb teilzunehmen. Selbst Preisanpassungen aufgrund der in der 1. Vergabe erforschten Marktsituation kann die Antragstellerin unbeschadet vornehmen, solange sie nicht das von der Antragsgegnerin jetzt aktualisierbare Kostenbudget wesentlich überschreitet.

c. Dem Hilfsantrag der Antragstellerin, das Vergabeverfahren in den Zustand vor Angebotswertung nach Maßgabe der Rechtsauffassung der Vergabekammer zurückzuversetzen, kann die Vergabekammer aus den oben genannten Gründen nicht nachkommen. Es geht hier nicht um die fehlerhafte Wertung des Angebotes, sondern um das zerstörte Vertrauen, dass das abgegebene Angebot mit dem nun zu bewertenden Angebot identisch sein soll. Dies hat die Vergabekammer Arnsberg in dem von ihr entschiedenen Fall plastisch dargestellt. (VK Arnsberg, Beschluss vom 03.06.2013, VK 09/13)

d. Die Antragstellerin hat nicht hilfsweise beantragt, die Rechtswidrigkeit der Aufhebung festzustellen. Nach der Rechtsprechung des BGH (Beschluss vom 20.03.2014 - X ZB 18/13, Rdnr. 20) müssen Anbieter die Aufhebung des Vergabeverfahrens, von engen Ausnahmen abgesehen, nicht nur dann hinnehmen, wenn sie von den in § 17 EG Abs 1 VOB/A aufgeführten Gründen gedeckt und deshalb von vornherein rechtmäßig ist. Aus den Bestimmungen der EG-VOB/A folge nicht im Gegenschluss, dass ein öffentlicher Auftraggeber gezwungen wäre, ein Vergabeverfahren mit der Zuschlagserteilung abzuschließen, wenn keiner der zur Aufhebung berechtigenden Tatbestände erfüllt ist. Die Bieter haben zwar einen Anspruch darauf, dass der Auftraggeber die Bestimmungen über das Vergabeverfahren einhält (§ 97 Abs. 7 GWB), aber nicht darauf, dass er den Auftrag auch erteilt und demgemäß die Vergabestelle das Vergabeverfahren mit der Erteilung des Zuschlags abschließt (vgl. BGH, VergabeR 2003, 163).

Nach der obigen Rechtsprechung des BGH ist auch die Rechtswidrigkeit einer Aufhebung der Vergabe nur unter einschränkenden Tatbeständen festzustellen, etwa dann wenn der öffentliche Auftraggeber damit die formalen Voraussetzungen dafür schaffen will, den Auftrag außerhalb des eingeleiteten Vergabeverfahrens an einen bestimmten Bieter oder unter anderen Voraussetzungen an einen anderen Bieterkreis vergeben zu können. Der BGH hat sich mit der Formulierung "etwa dann" die Möglichkeit offen gehalten, neben der obigen Fallgruppe weitere vergleichbare Fallgruppen zu entwickeln. Dies müsste hinsichtlich der Intensität des Verstoßes gegen die elementaren vergaberechtlichen Grundsätze der Transparenz und der Diskriminierungsfreiheit der rechtsmissbräuchlichen Verfahrenslenkung vergleichbar sein.

Da die Vergabekammer nicht über den Antrag der Antragstellerin hinausgehend zu prüfen hat, erübrigt sich daher eine Feststellung zur angeblichen Rechtswidrigkeit der Aufhebungsentscheidung des Antragsgegners.

III. Kosten

Die Kostenentscheidung folgt aus § 128 GWB in der seit dem 26.06.2013 geltenden Fassung.

Die in Ziffer 2 des Tenors festgesetzte Gebühr ergibt sich aus einer Interpolation des Auftragswertes innerhalb des Gebührenrahmens nach § 128 Abs. 2 GWB. Die von der Vergabekammer festzusetzende regelmäßige Mindestgebühr beträgt 2.500 €, die Höchstgebühr 50.000 € und die Höchstgebühr in Ausnahmefällen 100.000 €.

Die Gebührenermittlung erfolgt anhand einer Gebührentabelle des Bundeskartellamtes in der zzt. gültigen Fassung vom Dezember 2009. Hiernach wird der Mindestgebühr von 2.500 € (§ 128 Abs. 2 GWB) eine Ausschreibungssumme von bis zu 80.000 € zugeordnet und dem regelmäßigen Höchstwert von 50.000 € (§ 128 Abs. 2 GWB) eine Ausschreibungssumme von 70 Mio. € (höchste Summe der Nachprüfungsfälle 1996-1998) gegenübergestellt. Dazwischen wird interpoliert.

Der zu Grunde zu legende Auftragswert beträgt nach dem Angebot der Antragstellerin xxxxxx € brutto. Dieser Betrag entspricht dem Interesse der Antragstellerin am Auftrag.

Bei einer Ausschreibungssumme von xxxxxx € brutto ergibt sich eine Gebühr in Höhe von xxxxxx €. Diese Gebühr schließt einen durchschnittlichen sachlichen und personellen Aufwand ein. Allerdings hat die Vergabekammer bei der Festsetzung der Gebührenhöhe zu berücksichtigen, ob der Aufwand hier geringer ausgefallen ist. Nach Auffassung des OLG Celle (Beschluss vom 01.07.2014 - 13 Verg 4/14) ist eine Korrektur der nach dem Angebotswert ermittelten Gebühr aufgrund des § 3 BVwKostG zugrunde liegenden Kostendeckungsprinzips geboten, wenn der personelle und sachliche Aufwand im einzelnen Fall außer Verhältnis zum Wert des Verfahrensgegenstandes steht (BGH Beschluss vom 25.10.2011 - X ZB 5/10, Tz. 14 a. E.). Hier konnte die Vergabekammer auf die mündliche Verhandlung verzichten. Das ist eine Reduzierung des Verwaltungsaufwandes, die sich zugunsten der jeweiligen Kostenschuldner in der Gebührenfestsetzung niederschlagen muss. Nach Auffassung des OLG Hamburg (OLG Hamburg, Beschluss vom 3. November 2008 - 1 Verg 3/08, Tz. 8) ist die nach der Gebührentabelle ermittelte Basisgebühr beispielsweise in einem Fall um ein Drittel zu reduzieren, in dem 1. die Akten der Vergabestelle nicht beizuziehen waren und 2. die Sache nicht mündlich verhandelt werden musste. Eine weitergehende Ermäßigung sei im Hinblick darauf, dass § 128 Abs. 3 GWB eine Reduzierung auf die Hälfte nur bei Rücknahme des Antrages vorsehe, nicht geboten. Da die Verfahrensbeteiligten hier mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden waren, allerdings die Akten der Vergabestelle bereits zuvor beigezogen werden mussten, reduziert die Vergabekammer die Gebühren um 1/6 wegen der entfallenden mündlichen Verhandlung. Das Maß der Gebührenminderung entspricht der bei der Vergabekammer Bund üblichen Praxis. Gutachterkosten sind nicht angefallen. Somit wird die Gebühr auf xxxxxx € festgesetzt.

Die in Ziffer 3 des Tenors verfügte Kostenlast folgt aus § 128 Abs. 3 Satz 3 und Satz 5 GWB. Grundsätzlich hat ein Beteiligter, soweit er im Nachprüfungsverfahren unterliegt, gemäß § 128 Abs. 3 Satz 1 GWB die Kosten zu tragen. Für die Ermittlung des Unterliegens ist nicht auf einen etwaigen Antrag abzustellen. Gemäß § 114 GWB ist die Vergabekammer an Anträge nicht gebunden und kann auch unabhängig davon auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens einwirken. Die Antragstellerin unterliegt im Nachprüfungsverfahren.

Gemäß § 128 Abs. 3 Satz 3 GWB können jedoch Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, diesem auferlegt werden. Gemäß Satz 5 folgt die Entscheidung, wer die Kosten zu tragen hat nach billigem Ermessen. Hier sind das Fehlverhalten der Antragsgegnerin bei der Submission und das behauptete Fehlverhalten des Ingenieurbüros eindeutig der Interessensphäre bzw. dem Lager des Auftraggebers zuzurechnen. Die Antragsgegnerin hat die Kennzeichnung des Angebots unterlassen, das Ingenieurbüro oder der Auftraggeber haben Informationen, die aus wettbewerblichen Gründen vertraulich hätten bleiben müssen, an die Antragstellerin weitergegeben. Das vergaberechtliche Fehlverhalten, welches zur berechtigten Aufhebung des Vergabeverfahrens führte, hat daher primär seine Ursache in der Interessensphäre der Antragsgegnerin. Somit entspricht es sowohl Billigkeitsgründen gemäß § 128 Abs. 3 Satz 5 GWB, als auch der Berücksichtigung eines durchaus signifikanten Verschuldens der Antragsgegnerin gemäß § 128 Abs. 3 Satz 3 GWB, ihr die Kostenlast aufzuerlegen.

Der öffentliche Auftraggeber als Antragsgegner ist grundsätzlich von der Pflicht zur Entrichtung der Kosten gemäß § 128 Abs. 1 Satz 2 GWB i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 BVerwKostG befreit (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 13.07.2005, Az.: 13 Verg 9/05; OLG Dresden, Beschluss vom 25.01.2005, Az.: WVerg 0014/04). Zwar ist das BVerwKostG mit Wirkung vom 15.08.2013 aufgehoben worden, jedoch ist es aufgrund der starren Verweisung aus § 128 Abs. 1 Satz 2 GWB auf das BVerwKostG in der Fassung vom 14.08.2013 hier weiter anzuwenden. Inhaltlich entspricht die dortige Regelung § 8 BGebG.

Die Voraussetzungen dieser Kostenbefreiung liegen jedoch in diesem Fall nicht vor. Gemäß § 8 Abs. 2 BVerwKostG tritt die Befreiung nicht ein, soweit die in Abs. 1 Genannten berechtigt sind, die Gebühren Dritten aufzuerlegen. Nach dem Vortrag der Antragsgegnerin insbesondere Ziffer II der Kündigung des Ingenieurvertrags (unbrauchbare Vergabeempfehlung und Verdacht der Beteiligung an unzulässigen Submissionsabsprachen) geht die Antragsgegnerin von einem treuwidrigen Verhalten des Ingenieurbüros aus, so dass der Antragsgegnerin nach eigener Darstellung ein Schadensersatzanspruch gegen das Ingenieurbüro zustehen müsste. Dieser umfasst auch die hier entstandenen Verwaltungsgebühren, sodass diese Dritten auferlegt werden können und es daher keinen sachlichen Grund für die Vergabekammer gibt, die Antragsgegnerin von diesen Gebühren zu entlasten.

Gemäß Ziffer 4 des Tenors hat die Antragstellerin der Auftraggeberin als Antragsgegnerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen gemäß § 128 Abs. 4 GWB zu erstatten. Hier gilt zunächst das unter 3. Ausgeführte. Obgleich die Antragsgegnerin im Vergabenachprüfungsverfahren obsiegt, liegt das schuldhafte Fehlverhalten bei ihr und ggf. bei dem von ihr beauftragten Ingenieurbüro. Allerdings gibt es in § 128 Abs. 4 GWB auch unter Einbeziehung der Verweisung auf § 80 Abs. 1 VwVfG keine Regelung, die der Vergabekammer eine vom Ergebnis der Hauptsache abweichende Kostenverteilung gestattet. Die Vergabekammer kann daher keine einheitliche Gesamtentscheidung treffen, muss daher die Antragstellerin auf den ordentlichen Rechtsweg verweisen.

Die Antragsgegnerin hat keinen Rechtsanwalt hinzugezogen.

Die Antragsgegnerin wird aufgefordert, innerhalb einer Frist von einem Monat nach Rechtskraft dieses Beschlusses den Betrag von xxxxxx € unter Angabe des Kassenzeichens

xxxxxx

auf folgendes Konto zu überweisen:

xxxxxx

IV. Rechtsbehelf

...

Gaus
Peter
Brinkmann