Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.01.2002, Az.: 4 MA 3541/01
Abschiebung; Abschiebungsandrohung; Asyl; Asylantragsteller; Asylbewerber; Ausländer; Ausreiseaufforderung; Bekanntgabe; Handlungsunfähigkeit; Minderjähriger; Minderjährigkeit; Prozeßfähigkeit; Vertreter; Verwaltungsverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 30.01.2002
- Aktenzeichen
- 4 MA 3541/01
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 43856
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 08.10.2001 - AZ: 5 B 3302/01
Rechtsgrundlagen
- § 68 Abs 2 AuslG
- § 62 Abs 4 VwGO
- § 57 ZPO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
§ 68 Abs. 2 AuslG macht die Bestellung eines besonderen Vertreters für den handlungsunfähigen minderjährigen Ausländer jedenfalls dann nicht entbehrlich, wenn der Ausländer ein Bleiberecht geltend macht und es deswegen zu einem Verwaltungsverfahren kommt.
Tatbestand:
I. Der im Jahre 1996 geborene Antragsteller ist algerischer Staatsangehöriger. Er reiste - zusammen mit seiner Großmutter (Personenbezeichnung lt. deren algerischem Reisepass: K. K. -C. Veuve: B.) - am 28. Februar 2001 mit einem für den Zeitraum vom 14. Februar 2001 bis zum 20. März 2001 ausgestellten Besuchervisum in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Geltungsdauer dieses Visums wurde am 16. März 2001 bis zum 15. Mai 2001 verlängert. Am 11. Mai 2001 wurde für den Antragsteller bei dem Antragsgegner eine unbefristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragt mit folgender Begründung: Der Großmutter des Antragstellers sei kurz vor der Einreise nach Deutschland in Algerien die Vormundschaft über den Antragsteller übertragen worden. Die leiblichen Eltern des Antragstellers hätten wenig Kontakt zu ihm. Die schwerbehinderte Mutter sei kaum in der Lage, ihr zweites Kind zu versorgen. Auch die Großmutter sei inzwischen so krank, dass sie den Antragsteller nicht mehr ordnungsgemäß versorgen könne. Dem Wohl des Antragstellers entspreche es, wenn er in den Haushalt seines Onkels C. B. in B. aufgenommen werde.
Mit an den Antragsteller "bei Familie B. " gerichtetem Bescheid vom 25. Juli 2001 stellte der Antragsgegner fest, dass der Antragsteller verpflichtet sei, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheides zu verlassen, und abgeschoben werde, wenn er der Ausreisepflicht nicht oder nicht rechtzeitig nachkomme. Zur Begründung führte er aus: Der Antragsteller sei mit einem Besuchervisum in das Bundesgebiet eingereist und nach Ablauf des Visums nicht ausgereist, halte sich seitdem unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Da er ein Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland nicht erworben habe und sich keine für ihn sorgeberechtigte Person im Bundesgebiet aufhalte, sei er zur Ausreise verpflichtet. Abschiebehindernisse seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht ersichtlich.
Über den für den Antragsteller gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch ist noch nicht entschieden worden. Mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 1. August 2001 hat der Antragsteller die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt ...
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 8. Oktober 2001 abgelehnt. ...
Mit dem Antrag auf Zulassung der Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter. Weil der Senat ein Sorgerecht und eine Vertretungsbefugnis der Großmutter des Antragstellers und damit auch eine wirksame Vollmachterteilung an die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers durch dessen Großmutter nicht für nachgewiesen hält, hat er mit Beschluss vom 16. Januar 2002 Frau Rechtsanwältin K. als besondere Vertreterin gemäß § 62 Abs. 4 VwGO i.V.m. § 57 ZPO bestellt. ...
Der Antragsgegner führt in seiner Stellungnahme vom 30. November 2001 u.a. aus: "Da sich kein gesetzlicher Vertreter des Kindes ... im Bundesgebiet aufhält und die Vertretungsbefugnis bisher nicht nachgewiesen wurde, kann die Entscheidung über den Antrag [auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis], wenn er denn ordnungsgemäß gestellt wurde, auch erst nach Klärung der gesetzlichen Vertretungsbefugnis ordnungsgemäß zugestellt werden. Es blieb daher nur die Möglichkeit, den Antragsteller zur Ausreise aufzufordern und die Abschiebung anzudrohen."
Die Eheleute B... haben mit notariell beurkundeter Erklärung vom 22. Oktober 2001 bei dem Amtsgericht D... das Verfahren auf Annahme des Antragstellers an Kindes Statt eingeleitet. Eine Entscheidung über diesen Antrag ist noch nicht ergangen.
Entscheidungsgründe
II. Die Zulässigkeit des Rechtsmittels richtet sich gemäß § 194 Abs. 2 VwGO i. d. F. des Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom 20.12.2001 (BGBl. I S. 3987) - in Kraft getreten gemäß Art. 7 RmBereinVpG am 01. Januar 2002 - nach dem bis zum 31. Dezember 2001 gültig gewesenen Recht, da die angegriffene gerichtliche Entscheidung vor dem 01. Januar 2002 bekannt gegeben worden ist.
Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde ist zulässig. Der Senat geht davon aus, dass die besondere Vertreterin, die zugleich die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers ist, die bisherige Prozessführung bis zum Zeitpunkt ihrer Bestellung genehmigt, so dass eventuelle Mängel der gesetzlichen Vertretung bei Stellung des Antrags bei dem Verwaltungsgericht rückwirkend geheilt sind.
Der Zulassungsantrag ist auch begründet. Nach §§ 146 Abs. 4, 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (in der Fassung des 6. VwGO-Änderungsgesetzes vom 1. November 1996, BGBl. I S. 1626) ist die Beschwerde zuzulassen, wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses bestehen. Hier ist entgegen der Meinung des Verwaltungsgerichts der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit begründet, als der Antragsteller sinngemäß begehrt, dem Antragsgegner vorläufig zu untersagen, ihn abzuschieben.
Mit an den Antragsteller "bei Familie B..." gerichtetem Bescheid vom 25. Juli 2001 hat der Antragsgegner festgestellt, dass der Antragsteller verpflichtet sei, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheides zu verlassen, und abgeschoben werde, wenn er der Ausreisepflicht nicht oder nicht rechtzeitig nachkomme. Der Antragsgegner sieht in diesem Bescheid die rechtliche Grundlage für eventuelle aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen den Antragsteller. Diese Meinung teilt der Senat nicht. Nach seiner Rechtsauffassung ist der Bescheid dem Antragsteller nicht wirksam bekannt gegeben worden, was Voraussetzung dafür wäre, dass er rechtliche Wirkungen gegenüber dem Antragsteller entfaltet. Nach § 68 Abs. 2 Satz 2 AuslG steht zwar die rechtliche Handlungsunfähigkeit eines Minderjährigen der Androhung und Durchführung der Abschiebung nicht entgegen, wenn sich sein gesetzlicher Vertreter nicht im Bundesgebiet aufhält. Daraus folgt aber nicht ohne weiteres, dass ein entsprechender schriftlicher Verwaltungsakt auch dem Minderjährigen gegenüber wirksam bekannt gegeben werden kann. § 68 Abs. 2 AuslG macht vielmehr die Bestellung eines besonderen Vertreters für den handlungsunfähigen minderjährigen Ausländer nicht entbehrlich. Verstünde man § 68 Abs. 2 AuslG anders, führte das zu einem unauflösbaren Wertungswiderspruch, da handlungsunfähige Volljährige von § 68 Abs. 2 AuslG nicht erfasst werden. Allein dass die Ausländerbehörden häufiger mit handlungsunfähigen Minderjährigen als mit handlungsunfähigen Volljährigen zu tun haben mögen, erschiene angesichts der gleichen Schutzbedürftigkeit beider Personengruppen nicht als sachgerechtes Differenzierungskriterium (ebenso GK-AuslR, Rdnrn. 3, 32 ff. zu § 68; Renner, Ausländerrecht, 6. Auflage 1993, § 68 AuslG Rdnr. 8; a.A. Hailbronner, AuslR, Loseblatt-Slg. Stand 9/01, Rdnrn. 17 ff., 20 zu § 68). Die Bestellung des besonderen Vertreters wäre von der Ausländerbehörde, die eine Abschiebung androhen will, beim Vormundschaftsgericht zu beantragen. Die Begründung zu dem Entwurf des § 68 Abs. 2 AuslG (BT-Drucks. 11/6321, S. 80), auf die sich der Antragsteller stützt, steht dieser vom Senat für richtig gehaltenen Auffassung nicht entgegen. Denn dort heißt es zwar, dass es zur Überstellung ausländischer Kinder und Jugendlicher, die sich nicht in Begleitung ihrer Eltern befänden, in ihren Heimatstaat grundsätzlich nicht der Einschaltung des Jugendamtes oder des Vormundschaftsgerichts bedürfe. Weiter wird dort aber ausgeführt, dass zwingende Zurückweisungs-, Zurückschiebungs- und Abschiebungshindernisse, die jeden Ausländer ohne Rücksicht auf sein Alter und seine verwaltungsverfahrensrechtliche Handlungsfähigkeit schützten, unberührt blieben und die zuständigen Behörden die zum Schutz der Minderjährigen beim Vollzug der Maßnahmen möglichen und erforderlichen Vorkehrungen zu treffen hätten. Der Senat versteht diese Ausführungen so, dass es jedenfalls dann, wenn der handlungsunfähige minderjährige Ausländer - wie hier - ein Bleiberecht geltend macht und es deswegen zu einem Verwaltungsverfahren kommt, zum Schutz des Minderjährigen und zur ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens notwendig ist, für ihn einen besonderen Vertreter zu bestellen.
Der Mangel der Zustellung wird auch nicht dadurch geheilt, dass für den Antragsteller nunmehr eine besondere Vertreterin bestellt worden ist und diese das Verfahren hinsichtlich des Bescheids vom 25. Juli 2001 (weiter) betreibt. Denn die Bestellung der besonderen Vertreterin durch das Gericht wirkt nur für das gerichtliche Verfahren; sie wirkt nicht für das Verwaltungsverfahren. Der Aufgabenkreis der gerichtlich bestellten besonderen Vertreterin ist beschränkt auf die Prozessführung für den Antragsteller. Deshalb könnte eine wirksame Zustellung auch nicht jetzt bewirkt werden, indem der Bescheid vom 25. Juli 2001 oder ein inhaltsgleicher neuer Bescheid der gerichtlich bestellten besonderen Vertreterin (nochmals) bekannt gegeben wird.
Rechtsschutz ist dem Antragsteller in diesem Fall - abweichend von seinem Antrag, aber entsprechend dem Inhalt seines Rechtsschutzbegehrens - nicht nach § 80 Abs. 5, sondern nach § 123 VwGO zu gewähren. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Verwaltungsakt gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann nur erfolgen, wenn der Verwaltungsakt gegenüber dem Adressaten bereits erlassen worden ist. Das setzt seine wirksame Bekanntgabe gemäß § 41 Abs. 1 S. 1 VwVfG voraus. Eine solche Bekanntgabe konnte aber, wie ausgeführt, gegenüber dem Antragsteller nicht erfolgen. Da der Antragsgegner trotzdem aus dem Verwaltungsakt - hier dem Bescheid vom 25. Juli 2001 - den Antragsteller belastende Rechtsfolgen herleitet, indem er den Bescheid als rechtliche Grundlage für eine eventuelle Abschiebung des Antragstellers in sein Herkunftsland ansieht, ist dem Antragsteller vorläufiger Rechtsschutz durch Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO zu gewähren.
Das Verfahren wird nach Zulassung der Beschwerde als Beschwerdeverfahren fortgeführt; der gesonderten Einlegung einer Beschwerde bedarf es nicht (§§ 146 Abs. 6 S. 2, 124 a Abs. 2 S. 4 VwGO a.F.).
Der Senat entscheidet über die zugelassene Beschwerde, ohne dem Antragsgegner nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte sind in dem bisherigen Verfahren, insbesondere dem Beschluss des Senats vom 16. Januar 2002, bereits ausführlich erörtert worden. Hinsichtlich der Kosten belastet ein "Durchentscheiden" den Antragsgegner nicht zusätzlich.
Die Beschwerde des Antragstellers ist begründet.
Der angegriffene Bescheid vom 25. Juli 2001 kann aus den oben genannten Gründen nicht rechtliche Grundlage für eine Abschiebung des Antragstellers in sein Heimatland sein. Der Antragsgegner hat auch nach Erhalt des Beschlusses des Senats vom 16. Januar 2002, in dem die auch für die hier zu treffende Entscheidung maßgebenden Erwägungen des Senats bereits genannt worden sind, nicht zu erkennen gegeben, dass er den Bescheid nicht mehr als rechtliche Grundlage für eine Abschiebung des Antragstellers ansehe. Deshalb ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten, mit der dem Antragsgegner entsprechend dem inhaltlichen Ziel des Rechtsschutzbegehrens des Antragstellers dessen Abschiebung vorläufig untersagt wird.