Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 23.01.2002, Az.: 11 MA 4254/01
Arbeitnehmer; Arbeitnehmerfreizügigkeit; Ausländer; Ausweisung; Dienstleistungsfreiheit; Freizügigkeit; Freizügigkeitsberechtigter; Niederlassungsfreiheit; Spezialprävention; Stand-Still-Klausel; Standstillklausel; Stillhalteklausel; Straftat; Straftäter; Türke; Türkei; türkischer Staatsangehöriger; Verschlechterungsverbot
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 23.01.2002
- Aktenzeichen
- 11 MA 4254/01
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 43879
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 29.11.2001 - AZ: 5 B 333/01
Rechtsgrundlagen
- § 47 AuslG
- § 48 AuslG
- Art 14 Abs 1 EWGAssRBes 1/80
- Art 13 EWGAssRBes 1/80
- Art 41 Abs 1 EWGAbkTURZProt
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei bezieht sich ausschließlich auf die Niederlassungsfreiheit und den Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs (wie OVG NRW, Urt. v. 13.6.2001, NVwZ 2001, 1438 [OVG Nordrhein-Westfalen 13.06.2001 - 17 A 5552/00] und VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 14.3.2001, NVwZ 2001, 1442 gegen BayVGH, Urt. v. 11.7.2000, Inf AuslR 2000, 425).
2. Die für türkische Arbeitnehmer geltende Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 steht unter dem Vorbehalt des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (wie OVG NRW, a.a.O.).
Gründe
Der Antrag des Antragstellers auf Zulassung der Beschwerde gegen den angefochtenen Beschuss, mit dem das Verwaltungsgericht den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die für sofort vollziehbar erklärte Ausweisungsverfügung des Antragsgegners vom 17. Juli 2001 abgelehnt hat, bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe, die hier noch nach § 146 Abs. 4 VwGO in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung i.V.m. § 124 Abs. 2 VwGO zu beurteilen sind, greifen nicht durch.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind der Antragsschrift nicht zu entnehmen.
a) Die Rüge, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die in der Verfügung des Antragsgegners für die Anordnung des Sofortvollzugs gegebene Begründung als den Begründungserfordernissen des § 80 Abs. 3 VwGO genügend erachtet, geht im Ergebnis fehl.
Richtig ist, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisungsverfügung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschl. v. 12.9.1995, DVBl. 1995, 1297 = InfAuslR 1995, 397) und auch des Senats (vgl. Beschl. v. 23.1.1996, NdsVBl. 1996, 137) grundsätzlich ein in der Begründung anzugebendes besonderes öffentliches Interesse voraussetzt, das über jenes Interesse hinaus geht, das die Ausweisung selbst rechtfertigt. Anerkannt ist indessen ebenso, dass das sofortige Vollziehungsinteresse bereichsspezifisch durch das einschlägige materielle Recht zum Erlassinteresse am Verwaltungsakt vorgeprägt sein kann (vgl. statt aller etwa Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Rdnr. 148 zu § 80 m.w.N.). So ist speziell für Ausweisungsverfügungen auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit bei straffällig gewordenen Ausländern -- wie dem Antragsteller -- bei begründeter Besorgnis der Wiederholungsgefahr unter dem Gesichtspunkt der Spezialprävention gerechtfertigt sein kann (vgl. Schoch, a.a.O., Rdnr. 151 m.w.N.). Der Antragsgegner hat in diesem Sinne die Anordnung des Sofortvollzugs der Ausweisungsverfügung (vgl. S. 5 der Verfügung) rechtsfehlerfrei in erster Linie mit der von ihm gesehenen konkreten Gefahr weiterer künftiger Straftaten des Antragstellers im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität begründet. Gegen diese Prognose ist vor dem Hintergrund der auf Seite 2 der Ausweisungsverfügung aufgeführten zahlreichen Vorstrafen des Antragstellers und der festzustellenden erneuten Straftaten unmittelbar im Anschluss an Strafverbüßungen und nach Abbruch bisheriger Drogen-Therapien in Ermangelung neuerer Entwicklungen während der gegenwärtigen Strafhaft des Antragstellers mit Blick auf das Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 VwGO nichts zu erinnern. Zwar trifft es zu, dass die vom Antragsgegner auf konkrete Anhaltspunkte gestützte Gefahr weiterer einschlägiger schwerer Straftaten des Antragstellers, der aufgrund der ihm 1985 erteilten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG besonderen Ausweisungsschutz genießt, nach dieser Vorschrift (Ausweisung nur "aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung") i.V.m. der Regelvermutung des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG in aller Regel schon Voraussetzung für die Ausweisung selbst ist; dieses somit von besonderen Voraussetzungen abhängig gemachte Erlassinteresse intendiert aber in Fällen der vorliegenden Art -- wie dargelegt -- zugleich ein besonderes Vollziehungsinteresse.
Hiernach kommt es nicht mehr darauf an, ob das vom Antragsgegner für einen Sofortvollzug angeführte zusätzliche Argument, der Allgemeinheit müssten die Kosten einer weiteren, wiederum nicht Erfolg versprechenden Drogen-Therapie des Antragstellers erspart werden, auf das das Verwaltungsgericht primär eingegangen ist (BA S. 2 f.), für sich allein tragfähig wäre. Daran dürften -- für sich gesehen -- in der Tat Zweifel bestehen.
b) Der Antragsteller begründet ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses außerdem damit, das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass europarechtlich -- soweit es ihn als Assoziationsberechtigten betreffe -- ebenso wie für Gemeinschaftsangehörige für eine Anwendung des Ist-Ausweisungstatbestandes des § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG und -- wegen des ihm zustehenden besonderen Ausweisungsschutzes -- auch des Regel-Ausweisungstatbestandes des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG kein Raum sei. Die diesbezüglichen Rügen genügen bereits nicht den Darlegungserfordernissen des § 146 Abs. 5 Satz 3 VwGO in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung bzw. gehen eindeutig fehl.
Dass die EU-Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der vorgenannten Fragen beim EuGH tatsächlich -- wie vom Antragsteller behauptet -- ein Vertragsverletzungsverfahren anhängig gemacht hat, ist in der Antragsschrift nicht belegt; Hinweise auf die Einleitung eines solchen Verfahrens sind dem Senat auch sonst nicht bekannt. Schon deshalb ist der diesbezüglichen Behauptung keine Rechtsrelevanz im Rahmen der Prüfung des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO beizumessen.
Das gilt zumal, als die vom Antragsteller für seine Auffassung in der Sache angeführten Urteile des EuGH in den Rechtssachen Calfa (Urt. v. 19.1.1999 -- C-348/96 --, DVBl. 1999, 534) und Nazli (Urt. v. 10.2.2000 -- C-340/97 --, DVBl. 2000, 550) seine Folgerungen zur grundsätzlichen Nichtanwendbarkeit der Ist- und Regel-Ausweisungstatbestände des § 47 AuslG wegen angeblich entgegenstehender europarechtlicher Vorschriften nicht stützen. Im Urteil Calfa hat der EuGH (a.a.O.) nämlich lediglich klargestellt, dass eine (im dortigen Fall einschlägige griechische) nationale Regelung zu einer grundsätzlich automatischen Ausweisung auf Lebenszeit von Gemeinschaftsangehörigen ohne Prüfung des Verhaltens des Betroffenen und der von ihm ausgehenden Gefährdungen für die öffentliche Ordnung bei strafrechtlicher Verurteilung wegen Betäubungsmitteldelikten nicht europarechtskonform sei. Eine derartige Automatik ist den Vorschriften des § 47 AuslG ersichtlich nicht zu entnehmen. Das Urteil Nazli (a.a.O.), das das Verwaltungsgericht berücksichtigt hat (BA S. 4), stellt weiterhin in erster Linie klar, dass türkische Staatsangehörige, die unmittelbar aus dem ARB 1/80 Rechte ableiten können, gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht aus generalpräventiven, sondern nur aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden können. Beide Urteile stützen daher nicht die vom Antragsteller gezogenen Schlussfolgerungen zur angeblichen Nichtanwendbarkeit des § 47 AuslG. Davon geht im Ergebnis auch Dienelt (Aktuelle Fragen zum Aufenthaltsrecht türkischer Staatsangehöriger, 2001, Rdnrn. 105 ff. m.w.N.), den der Antragsteller für seinen Standpunkt anführt, aus.
c) Ebenso wenig bestehen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses mit Blick auf die sog. Standstill-Klausel in Art. 41 des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 (BGBl. 1972 II S. 385) zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei vom 12. September 1963. Denn der Antragsteller kann sich nach Lage der Dinge auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls nicht berufen.
Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls bezieht sich nach seinem eindeutigen Wortlauf mit der Anknüpfung an die Art. 13 und 14 des Assoziierungsabkommens ausschließlich auf die Niederlassungsfreiheit und den Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs, nicht also auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Sinne des Art. 12 des Assoziierungsabkommens (vgl. in diesem Sinne z.B. OVG NRW, Urt. v. 13.6.2001; NVwZ 2001, 1438 [OVG Nordrhein-Westfalen 13.06.2001 - 17 A 5552/00]; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 14.3.2001, NVwZ 2001, 1442; Dienelt, a.a.O., Rdnrn. 137 ff. m.w.N.). Das vom Antragsteller angeführte Urteil des BayVGH vom 11. Juli 2000 (InfAuslR 2000, 425) trägt dieser notwendigen Unterscheidung zum Anwendungsbereich der Vorschrift nicht Rechnung; hierauf wird schon in der knappen Anmerkung von Rittstieg (InfAuslR 2000, 428) zutreffend hingewiesen.
Der Antragsteller hat sich in der Vergangenheit in Deutschland lediglich für kurze Zeit als Selbständiger betätigt (Betrieb einer Schank- und Speisewirtschaft von Februar 1989 bis April 1991; Betrieb eines Einzelhandels von April 1989 bis September 1990). Er hat nicht dargetan, sich nach der Entlassung aus der Strafhaft neu als Selbständiger niederlassen zu wollen, was -- soweit Zulassungserfordernisse bestehen -- wegen seiner mehrfachen Vorbestrafungen unter Zuverlässigkeitsgesichtspunkten auch wenig erfolgversprechend sein dürfte. Auf eine Klärung der Reichweite des Verschlechterungsverbots des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls kommt es somit im vorliegenden Fall nicht mehr an.
d) Aus dem Verschlechterungsverbot des Art. 13 ARB 1/80 lassen sich entgegen der Ansicht des Antragstellers ebenfalls nicht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses herleiten. Der Senat geht mit dem OVG NRW (Urt. v. 13.6.2001, a.a.O.) jedenfalls im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes davon aus, dass die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 -- anders als die vorerwähnte vorbehaltslose Klausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls -- unter dem Vorbehalt des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (gerechtfertigte Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit) steht und dass -- wie oben unter 1. a) ausgeführt -- die Ausweisung des Antragstellers unter Anordnung des Sofortvollzugs wegen der konkreten Gefahr weiterer Straftaten gerechtfertigt war. Hiernach ist nicht mehr entscheidungserheblich, ob der Antragsteller -- wie er behauptet -- tatsächlich durch seine Tätigkeit bei der Firma ... seit 1993 trotz der Haftunterbrechungen fortdauernde Rechte gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworben hat.
e) Soweit der Antragsteller Richtigkeitszweifel daraus ableitet, dass der Antragsgegner -- vom Verwaltungsgericht bestätigt -- im Rahmen der Prüfung des Art. 8 EMRK entscheidend darauf abgestellt habe, er habe sich am Handel mit Heroin beteiligt, während er in Wahrheit zuletzt (nur) wegen des unerlaubten Erwerbs von Heroin verurteilt worden sei, geht die mit falscher Tatsachengrundlage der Entscheidung begründete Rüge schon deshalb fehl, weil die einschlägigen Tatbestände des § 47 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 Satz 1 AuslG nicht zwischen dem Handel und dem Erwerb von Heroin unterscheiden.
f) Schließlich trifft auch der Einwand des Antragstellers nicht zu, nach der Rechtsprechung des EuGH habe er allenfalls aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden dürfen, worauf der Antragsgegner aber nicht abgestellt habe. Dass das Gegenteil der Fall ist, wurde oben unter 1. a) bereits dargelegt.
2. Soweit der Antragsteller darauf verweist, sein Verfahren werfe unter Berücksichtigung der von ihm aufgeworfenen Fragen besondere Schwierigkeiten im Sinne des § 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf, ist ihm entgegen zu halten, dass dies jedenfalls bei nur gebotener summarischer Prüfung -- wie dargelegt -- nicht der Fall ist.
3. Auch auf die Grundsatzrüge des Antragstellers hin (§ 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist für eine Zulassung der Beschwerde schon deshalb kein Raum, weil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zwar eine grundsätzliche Klärung spezieller Probleme des vorläufigen Rechtsschutzes (die sich hier allein in Bezug auf die -- wie dargelegt -- nicht entscheidungserhebliche und damit nicht zulassungsrelevante Erwägung des Antragstellers, der Allgemeinheit die Kosten einer erneuten Therapie des Antragstellers ersparen zu wollen, stellen, vgl. oben 1. a)), nicht aber die Klärung von dem Hauptsacheverfahren vorzubehaltenden Problemen angestrebt werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2 GKG in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.