Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 19.03.2003, Az.: 4 LC 185/02

Aufenthaltserlaubnis; Ausländer; außergewöhnliche Härte; Ermessensreduzierung; Familienangehöriger; Versagungsgrund

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
19.03.2003
Aktenzeichen
4 LC 185/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48494
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 28.02.2002 - AZ: 4 A 353/00
nachfolgend
BVerwG - 17.03.2004 - AZ: BVerwG 1 C 11.03

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine Aufenthaltserlaubnis kann trotz Vorliegens eines besonderen Versagungsgrundes ausnahmsweise auch erteilt werden, wenn sich der Anspruch lediglich auf eine Ermessensentscheidung der Behörde richtet, diese aber im Einzelfall wegen einer außergewöhnlichen Härte nur die Erteilung zulässt (Ermessenreduzierung auf Null; insoweit Abweichung von BVerwGE 105,35)

Tatbestand:

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Die Beteiligten streiten um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

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Die am 18.05.1980 in C. geborene Klägerin ist tunesische Staatsangehörige. Ihre Eltern besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Klägerin hielt sich bis 1987 in Deutschland bei ihren Eltern auf. Danach wohnte sie in Tunesien, wo sie von ihren Großeltern betreut wurde. In den Sommerferien besuchte sie für jeweils etwa drei Monate ihre Eltern in Wolfsburg. Im Schuljahr 1997/98 absolvierte sie in Tunesien eine Ausbildung als Friseurin im ersten Ausbildungsjahr. Am 09.08.1998 reiste die Klägerin mit einem auf zwei Monate befristeten Besuchervisum  nach Deutschland ein. Als Aufenthaltszweck gab sie im Visumsantrag "Tourisme" an.

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Am 25.08.1998 beantragte sie bei der Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Zur Begründung trug sie vor: Ihr Vater sei schwerbehindert und pflegebedürftig. Wegen seiner psychischen und physischen Erkrankungen habe man ihm geraten, zur Therapieunterstützung seine Kinder zu sich zu holen. Zudem seien Eltern nach tunesischem Recht für ihre Tochter bis zu deren Heirat verantwortlich. Die bisher in Anspruch genommenen Großeltern in Tunesien seien aufgrund ihres Alters nicht mehr in der Lage, sie, die Klägerin, zu betreuen.

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Im Verlauf des Verfahrens wurde bei der Klägerin eine schwere psychische Erkrankung diagnostiziert, behandelt und auch vom Gesundheitsamt der Beklagten bestätigt. Nach den übereinstimmenden ärztlichen Untersuchungsergebnissen führt eine Trennung der Klägerin von ihrer Familie zu einer so akuten Erkrankung, dass in kürzester Zeit eine erhebliche Selbstgefährdung zu erwarten ist; auch eine Reisefähigkeit ist nicht gegeben. Die Beklagte erteilte der Klägerin daraufhin am 17.03.1999 eine bis zum 16.09.1999 befristete Duldung. Die Klägerin nahm den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zurück.

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Am 30.07.1999 beantragte die Klägerin erneut die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung und verwies zur Begründung auf die seit Oktober 1998 andauernde nervenärztliche Behandlung. Der erneut eingeschaltete Amtsarzt der Beklagten gab u.a. an, wegen der Schwere der Erkrankung müsse von einem Behandlungs- und Entwicklungszeitraum von mindestens zwei Jahren ausgegangen werden.

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Die Beklagte lehnt den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung mit Bescheid vom 13.12.1999 ab, da die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 8 Abs. 1 AuslG zwingend zu versagen sei und eine außergewöhnliche Härte nicht vorliege.

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Die Klägerin legte Widerspruch ein. Sie verwies auf ihre Erkrankung als Härtegrund und führte weiter aus: Sie habe schon bei der Visumserteilung in der Deutschen Botschaft angegeben, dass sie einen längeren Aufenthalt in Deutschland plane. Die Erklärung ihres Vaters über eine beabsichtigte Aufenthaltsdauer von 1 ½ Monaten beruhe darauf, dass dieser über ihre Erkrankung nicht genau informiert gewesen sei. Die Bezirksregierung Braunschweig wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22.09.2000 zurück, da eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt werden dürfe und besondere Härtegründe nicht berücksichtigt werden könnten.

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Mit der am 26.10.2000 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat sie auf ihr bisheriges Vorbringen verwiesen und weitere ärztliche Stellungnahmen vorgelegt. Der Amtsarzt der Beklagten führte insoweit in einer Stellungnahme vom 08.02.2000 aus: Die Schwere der Störung der Klägerin rechtfertige eine stationäre Diagnostik und Therapie. Eine psychiatrische Behandlung könne nur erfolgreich sein, wenn die Klägerin hinsichtlich ihrer sozialen Situation und ihres weiteren Aufenthalts eine gesicherte Perspektive habe.

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Die Klägerin hat beantragt,

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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13.12.1999 in der Form des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 22.09.2000 zu verpflichten, ihr eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung hat sie auf die Begründungen  der angefochtenen Bescheide verwiesen.

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Das Verwaltungsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und die Beklagte zur Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis verpflichtet. Zur Begründung hat es ausgeführt:

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Der Klägerin stehe ein Anspruch auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. §§ 23 Abs. 4, 22 und 17 AuslG zu. Die bei ihrer Einreise volljährige Klägerin habe kein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stehe zwar ein Versagungsgrund nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 AuslG entgegen, weil sie mit einem Visum ohne die erforderliche Zustimmung der Ausländerbehörde eingereist sei. Es liege aber eine Ausnahme nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG vor. Die Klägerin sei Familienangehörige von Deutschen und begehre die Aufenthaltserlaubnis zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft in Deutschland. Da sie bei ihren Eltern lebe, seien Wohnraum und Lebensunterhalt gesichert. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei auch zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich. Die Klägerin sei aufgrund ihrer Erkrankung auf den Familienzusammenhalt dringend angewiesen. Eine Duldung genüge zur Sicherung ihres Aufenthaltes nicht. Das der Beklagten grundsätzlich eingeräumte Ermessen bei der Erlaubniserteilung sei deshalb soweit eingeschränkt, dass nur noch die Erteilung in Betracht komme. Dieser stehe schließlich auch nicht die Vorschrift des § 71 Abs. 2 AuslG entgegen, die zur strikten Durchsetzung der Visumsbestimmungen bei der Einreise nach Deutschland eingeführt worden sei. Eine Ausnahme von dieser Regelung solle möglich sein, wenn die Einhaltung der Visumsbestimmungen im Einzelfall eine nicht hinnehmbare Härte darstellen würde. Dies gelte nicht nur, wenn der Ausländer einen strikten Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis habe, sondern darüber hinaus auch, wenn ein grundsätzlich eröffnetes Ermessen der Ausländerbehörde im Einzelfall - wie hier - auf Null reduziert sei.

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Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung.

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Sie trägt vor: Eine Aufenthaltserlaubnis könne der Klägerin nicht erteilt werden. Dem stehe der Versagungsgrund des Verstoßes gegen die Visumsbestimmungen zwingend entgegen. Eine Anfechtung könne nach § 71 Abs. 2 Satz 1 AuslG nur darauf gestützt werden, dass der Versagungsgrund nicht vorliege. Ausnahmen von dieser gesetzlichen Regelung lasse die Rechtsprechung nur zu, wenn der Ausländer einen strikten Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 AuslG habe. Eine Erweiterung dieser Ausnahmeregelung auf Fälle, in denen der Ausländer einen Anspruch habe, weil das Ermessen der Ausländerbehörde auf Null reduziert sei, habe das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich abgelehnt. Zudem liege auch eine außergewöhnliche Härte nicht vor. Die Klägerin leide bereits seit 1991 an der psychischen Erkrankung. Sie habe dennoch bis 1998 in Tunesien leben und dort darüber hinaus eine Ausbildung beginnen können.

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Die Beklagte beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 4. Kammer - vom 28.02.2002 zu ändern und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

23

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO entscheidet, ist unbegründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 13.12.1999 und der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Braunschweig vom 22.09.2000 sind insoweit rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

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Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 des Ausländergesetzes - AuslG - vom 09.07.1990 (BGBl. I S. 1354, 1356), in der Fassung der letzten Änderung vom 09.01.2002 (BGBl. I S. 361) i. V. m. §§ 23 Abs. 4, 22 und 17 AuslG hat.

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Sie kann als volljährige Familienangehörige ihrer aus Tunesien stammenden deutschen Eltern eine Aufenthaltserlaubnis zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft (§ 17 Abs. 1 AuslG) nur erlangen, wenn die Erteilung zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist (§§ 23 Abs. 4, 22 Satz 1 AuslG). Die Entscheidung steht im Ermessen der Ausländerbehörde. Eine außergewöhnlichen Härte ist gemäß § 22 Satz 2 AuslG anzunehmen, wenn die sich bei einer Verweigerung ergebenden Folgen derart schwerwiegend sind, dass die Ermöglichung des Aufenthalts des Familienangehörigen unumgänglich und eine andere Entscheidung schlichtweg unvertretbar ist (Renner, Ausländerrecht, Kommentar, 7. Auflage 2000, § 22 Rdnr. 4 m.w.N.). Dabei muss die Härte familienbezogen sein, d. h. der ausländische oder der in Deutschland befindliche Familienangehörige muss an einer selbstgestaltenden, selbstverantwortlichen Lebensführung in einer Weise gehindert oder eingeschränkt sein, dass er auf die Herstellung oder Wahrung der Familiengemeinschaft, insbesondere auf persönliche Betreuungs-, Versorgungs- oder Unterstützungsleistungen angewiesen ist (Igstadt in GK Ausländerrecht, Kommentar, Stand Juli 2002, § 22 Rdnr. 39 ff. m.w.N.).

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Der Senat ist überzeugt, dass nach diesem Maßstab bei der Klägerin eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 22 Satz 2 AuslG vorliegt. Die Klägerin ist ausweislich der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen sowohl ihrer behandelnden Ärzte als auch des Amtsarztes der Beklagten ernsthaft psychisch erkrankt und behandlungsbedürftig. Sie bedarf der Betreuung durch ihre Familienangehörigen, insbesondere ihre Eltern, bei denen sie lebt und versorgt wird. Die nachvollziehbaren und schlüssigen ärztlichen Stellungnahmen verweisen übereinstimmend darauf, dass die Klägerin auf die familiäre Gemeinschaft dringend angewiesen sei und anderenfalls eine Verschlechterung des Krankheitsbildes bis zur Suizidgefährdung drohe. An diesem Zustand der Klägerin hat sich bis heute nichts geändert. Ob die Ansicht der Beklagten zutrifft, die Klägerin habe bereits in Tunesien unter derselben Erkrankung gelitten und sei dennoch in der Lage gewesen, eine Ausbildung zu beginnen, mag dahinstehen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte ist nämlich der Zeitpunkt der letzten Entscheidung über den Antrag, mithin hier der Zeitpunkt der obergerichtlichen Entscheidung  (vgl. VGH Baden-Württemberg, B. v. 02.09.1992 - 11 S 1251/92 -, VGHBW RspDienst 1992, Beilage 12, B6; Igstadt in GK Ausländerrecht, Kommentar, Stand Juli 2002, § 22 Rdnr. 66). Für diesen Zeitpunkt aber nimmt der Senat aufgrund der vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen an, dass sich der Krankheitszustand der Klägerin im Verlaufe ihres Aufenthalts in Deutschland und ihrer unklaren aufenthaltsrechtlichen Situation verschlechtert und demzufolge sich ihre familiäre Abhängigkeit von der Betreuung durch ihrer Mutter noch verschärft hat. Bezieht man in die Betrachtung zusätzlich die Pflegebedürftigkeit des Vaters der Klägerin mit ein, für den die Anwesenheit der Klägerin ebenso von besonderer Bedeutung ist, so ist die Gestaltung der gegenseitigen Abhängigkeiten im Sinne eines Aufeinanderangewiesenseins in der familiären Situation der Klägerin derart intensiv und für diese maßgeblich, dass nach Auffassung des Senats keine andere Entscheidung als die Erteilung einer - befristeten (§ 12 Abs. 2 AuslG) - Aufenthaltserlaubnis in Betracht kommt. Das in § 22 AuslG eröffnete Ermessen ist hier also, wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat, auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis reduziert.

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Die Klägerin ist mit einem Touristenvisum nach Deutschland eingereist. Sie hat aber nach eigenen Angaben beabsichtigt, länger als drei Monate in der Bundesrepublik zu bleiben. Diese subjektive Absicht ist maßgeblich (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand August 2002, § 8 Rdnr. 23), auch wenn ausweislich des Visumsantrages als Einreisezweck "Tourisme" angegeben wurde. Der Klägerin ist also ein Visum ohne die - zur Verwirklichung ihrer tatsächlichen Absichten - erforderliche Zustimmung der Ausländerbehörde erteilt worden, so dass zunächst der Versagungsgrund nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 AuslG einer Aufenthaltserlaubniserteilung entgegensteht. Das Verwaltungsgericht hat aber zu Recht angenommen, dass eine Aufenthaltserlaubnis hier dennoch zu erteilen ist. Denn nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG kann eine Erlaubnis abweichend von § 8 Abs. 1 Nr. 2 AuslG erteilt werden, wenn die Voraussetzungen des Anspruchs auf Erteilung offensichtlich erfüllt sind. Das ist hier der Fall.

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Offensichtlich erfüllt ist ein Anspruch, wenn der Ausländer das Vorliegen aller Voraussetzungen für das Bestehen des Anspruches nachweisen kann oder wenn die Ausländerbehörde ohne länger andauernde oder umfangreiche Überprüfungen keine Zweifel hat, dass die Voraussetzungen gegeben sind (Hailbronner, a.a.O. § 9 Rdnr. 10; Kloesel/ Christ/Häußer, Deutsches Ausländerrecht, Kommentar, 3. Auflage, Stand Mai 2002, § 9 Rdnr. 4a; Bäuerle in GK-Ausländerrecht, a.a.O., § 9 Rdnr.,14). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Der Senat vermag insbesondere der Auffassung nicht zu folgen, eine Ausnahme setze hier, wie das des Bundesverwaltungsgericht zu § 9 Abs. 1 Nr. 1 AuslG ausgeführt hat, einen strikten Rechtsanspruch voraus (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.01.1995 - 1 C 2.94 - BVerwGE 97, 301; Urt. v. 04.06.1997 - 1 C 9.95 - BVerwGE 105, 35; Urt. v. 18.06.1996 - 1 C 17.95 -, BVerwGE 101, 265), so dass ein Anspruch auf ermessensgerechte Bescheidung auch im Falle einer Ermessenreduzierung auf Null den Anforderungen des § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG nicht genüge. Diese Auffassung berücksichtigt nicht hinreichend die unterschiedliche Gewichtung, die mit den Regelungen des § 8 Abs. 1 Nr. 2 AuslG und des § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG verbunden ist. Der in § 8 Abs. 1 AuslG normierte Versagungsgrund dient der effektiven Kontrolle der Ein- und Ausreise. Er bezweckt die Einhaltung der Visumsbestimmungen im öffentlichen Interesse (Bäuerle, GK Ausländerrecht, a.a.O., § 8 Rdnr. 1). Die Einhaltung dieser Bestimmungen ist allerdings nicht Selbstzweck. Vielmehr zeigen die in § 9 Abs 1 AuslG geregelten Ausnahmetatbestände, dass hiervon im begründeten Einzelfall abgewichen werden kann, wenn mit der Ablehnung eine unzumutbare Härte für den Ausländer verbunden wäre (BVerwG, B. v. 31.08.1984 - 1 B 99.84 -, BVerwGE 75, 54 [BVerwG 25.09.1986 - BVerwG 3 C 23/86]). § 9 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG kommt also gegenüber den Versagungsgründen aus § 8 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG eine regulierende Wirkung zu. Dabei sind zwei Fallgruppen denkbar: So kann regulierend eingegriffen werden, wenn die Einhaltung der Visumsbestimmungen lediglich Selbstzweck wäre, d. h. der Ausländer nur zum Zwecke der Visumserteilung sein Heimatland aufsuchen müsste, obgleich die Ausländerbehörde die Zustimmung zum Visum bereits vorab erklärt hat oder erklären könnte. Zu einer zweiten Fallgruppe gehört der Fall. dass dem Ausländer eine Ausreise in sein Heimatland zum Zwecke der Visumserteilung aus individuellen Gründen nicht möglich ist oder nicht zugemutet werden kann. Ausnahmen sind also möglich, wenn das Bestehen auf einer Einhaltung der Visumsbestimmungen nur ein bloßer Formalismus wäre oder wenn in der Person des Ausländers begründete individuelle Hindernisse aus Gründen der Verhältnismäßigkeit den Verzicht auf das formale Erfordernis gebieten.

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Vor diesem Hintergrund ist nicht einsichtig, weshalb hier eine weitere Differenzierung dergestalt vorgenommen werden soll, ob der Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis schon aus einem einschlägigen Tatbestand selbst folgt (strikter Anspruch) oder ob er darauf beruht, dass jede Ablehnung angesichts der konkreten Umstände ermessenfehlerhaft wäre. Vielmehr sind jedenfalls die Fälle, in denen die konkreten Umstände nur eine - positive - Ermessensentscheidung zulassen, nach Ansicht des Senats ebenso zu behandeln, wie die Fälle, in denen ein strikter Anspruch gegeben ist. Denn es ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auch diese Fälle im Sinne eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geregelt hätte, wenn er dies hätte tun müssen (vgl. ebenso: Bäuerle, GK Ausländerrecht, a.a.O., § 9 Rdnr. 8).

31

Im Falle der Klägerin bedeutet dies, dass ihr nicht zugemutet werden kann, als Voraussetzung für eine Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lediglich zur Einhaltung des Visumsverfahrens nach Tunesien zurückzukehren, zumal ihr dies aufgrund ihrer Krankheit objektiv derzeit unmöglich ist.

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Dem steht auch nicht § 71 Abs. 2 Satz 1 AuslG entgegen. Denn diese Vorschrift ist im Lichte der Art. 6 Abs. 1, 19 Abs. 4 GG verfassungskonform dahin einzuschränken, dass sie jedenfalls dann eine gerichtliche Kontrolle nicht ausschließen kann, wenn die behördliche Entscheidung offensichtlich rechtswidrig ist, z.B. weil - wie hier - das Ermessen der Ausländerbehörde auf Null reduziert ist (ebenso: Nds. OVG, B. v. 06.02.1996 - 13 M 460/96 - NVwZ-RR 1997, S. 68; Funke-Kaiser, GK Ausländerrecht, a.a.O., § 71 Rdnr. 8 m.w.N.). Anderenfalls wäre die verfassungsrechtlich garantierte Gewährung umfassenden Rechtsschutzes nicht mehr gewährleistet.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

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Der Senat lässt die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zu, da die Entscheidung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht.