Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 28.02.2002, Az.: 4 A 353/00

Aufenthaltserlaubnis; außergewöhnliche Härte; Ermessensreduzierung; Verhältnismäßigkeit; Visumsvorschriften

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
28.02.2002
Aktenzeichen
4 A 353/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 41746
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 19.03.2003 - AZ: 4 LC 185/02
BVerwG - 17.03.2004 - AZ: BVerwG 1 C 11.03

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG erfasst neben Fällen eines strikten Anspruches auch die Fälle einer Ermessensreduzierung auf Null (gegen BVerwGE 101, 265). Zur Ermessensreduzierung bei einer außergewöhnlichen Härte i.S.d. § 22 AuslG.

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13. Dezember 1999 und des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 22. September 2000 verpflichtet, der Klägerin eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat 4/5, die Klägerin 1/5 der Kosten des Verfahrens zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann eine vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils festzusetzenden Vollstreckungsbetrages abwenden, sofern nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Der Streitwert wird auf 4.000,00 € festgesetzt.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Klägerin wendet sich gegen eine Entscheidung der Beklagten, mit der ihr Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland abgelehnt worden ist; eine Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung ist bisher nicht ergangen.

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Die am 18. Mai 1980 in Köln geborene Klägerin besitzt die tunesische Staatsangehörigkeit. Ihre Eltern, die gleichfalls aus Tunesien stammen, besitzen inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit. Zu der Familie der Klägerin gehören neben ihr und ihren Eltern noch ihr am 6. März 1976 in Wolfsburg geborene Bruder F., der Kläger im Verfahren 4 A 352/00.

3

Die Klägerin hielt sich von ihrer Geburt bis 1987 bei ihren Eltern auf. Danach wohnte sie in Tunesien und wurde dort von ihren Großeltern betreut. In den Sommerferien reiste sie jeweils für ca. 3 Monate zu ihren Eltern nach Wolfsburg. Am 9. August 1998 reiste die Klägerin mit einem am 24. Juli 1998 von der Deutschen Botschaft in Tunis ausgestellten und bis zum 24. September 1998 befristeten Besuchervisum in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im Visumsantrag gab die Klägerin als Zweck des Aufenthaltes "Tourisme" an. Am 25. August 1998 beantragte sie bei der Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Im Rahmen dieses Verfahrens legte die Klägerin eine Schulbescheinigung aus Tunesien vor, wonach sie im Schuljahr 1997/98 die Ausbildung als Friseurin im ersten Ausbildungsjahr absolviere. Daneben wurden Unterlagen über den Gesundheitszustand des Vaters, Herrn J., eingereicht; danach ist dieser schwerbehindert mit einem GdB von 90 und deshalb Rentner und leidet an Schwerhörigkeit beiderseits, Psychischer Behinderung, wiederkehrenden Magenschleimhautentzündungen, Pigmentverschiebungen und einem Wirbelsäulenbeschwerdebild (vgl. Bl 22 VV). Ergänzend führte die behandelnde Ärztin aus, dass der Vater seit 11. September 1995 in ambulanter nervenärztlicher Behandlung sei und an einer chronischen Psychose leide und aufgrund dieser Erkrankung der Betreuung und Pflege durch seine Ehefrau bedürfe (Bl 8 VV). Weiter begründete der Vater den Antrag der Klägerin damit, dass er und seine Ehefrau ihre Kinder wegen familiärer Angelegenheiten damals zu den Großeltern geschickt hätten, diese jedoch inzwischen ein Alter erreicht hätten, dass sie für die Kinder nicht mehr sorgen könnten und die Eltern als Muslime nach islamischem Recht und nach dem tunesischen gesellschaftlichen Recht für ihre Tochter verantwortlich seien bis diese verheiratet sei und eine eigene Familie hätte. Wegen seiner psychischen und physischen Krankheiten hätten die Ärzte ihm geraten, seine Kinder zu sich zu holen, weil das bei seiner weiteren Therapie helfe.

4

Unter dem 6. November 1998 bescheinigten sodann ein praktischer Arzt und eine Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, dass die Klägerin unter einer neurotischen Depression leide und eine Trennung von der betreuenden Familie eine katastrophale Folge und eine Verschlimmerung des psychopathologischen Zustandsbildes hätte (vgl. Bl. 25/26). Am 10. November 1998 teilte das Gesundheitsamt dem Ausländeramt der Beklagten mit, dass schon in Tunesien medizinische Behandlungen notwendig gewesen seien, im Oktober 1998 nach einem Krampfanfall eine stationäre Behandlung im Wolfsburger Krankenhaus erforderlich gewesen sei und die Klägerin nur in Begleitung eines Familienmitgliedes reisefähig sei (vgl. Bl. 45/55 VV). Auf erneute Anfrage führte der Amtsarzt in seiner Stellungnahme vom 14. Januar 1999 aus, dass er die Klägerin ausführlich untersucht habe und aus psychiatrischer Sicht an einem schwerwiegenden Krankheitsbild kein Zweifel bestünde. Die Störung werde zwar z.Z. behandelt, doch sei die Klägerin von einer Stabilisierung noch weit entfernt. Die Trennung von der Familie würde für die Klägerin eine außergewöhnliche Härte begründen, weil zum einen ihre Persönlichkeit nicht der Reife einer altersentsprechend entwickelten jungen Erwachsenen entspreche, sondern dem Entwicklungsstand einer 14- bis 15-jährige gleichkomme, und zum anderen die Klägerin trotz recht gut abgestimmter Medikation noch eine ganze Reihe erheblicher Symptome zeige und deshalb davon auszugehen sei, dass sie im Falle einer Trennung so akut erkrankt, dass in kürzester Zeit eine erhebliche Selbstgefährdung bestünde. Deshalb könne auch von einer Reisefähigkeit nicht ausgegangen werden.

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Aufgrund dieser Stellungnahme erteilte die Beklagte der Klägerin am 17. März 1999 eine bis zum 16. September 1999 befristete Duldung und die Klägerin nahm ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zurück.

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Am 30. Juli 1999 beantragte die Klägerin erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und verwies zur Begründung auf die seit dem 1. Oktober 1998 anhaltende nervenärztliche Behandlung. Der behandelnde Arzt gab an, dass die Klägerin wegen psychischer Störungen und Hilflosigkeit auf die völlige Hilfe ihrer Mutter angewiesen sei und allein das Haus nicht verlassen dürfe (vgl. Bl. 46 VV). Der erneut eingeschaltete Amtsarzt gab unter dem 10. September 1999 an, dass sich eine entscheidende Stabilisierung des Gesundheitszustandes der Klägerin nicht eingestellt habe und Reisefähigkeit nicht vorliege. Aufgrund des Schweregrades der Störung müsse von einem Behandlungs- und Entwicklungszeitraum von mindestens zwei Jahren ausgegangen werden (vgl. Bl. 49 VV). Ergänzend gab die Klägerin an, dass sie in der deutschen Botschaft in Tunis genau mitgeteilt habe, dass sie nach Deutschland reise wolle, um bei ihren Eltern zu verbleiben.

7

Durch Bescheid vom 13. Dezember 1999 lehnte die Beklagte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab; weitere Verfügungen wurden nicht getroffen. Zur Begründung führte sie aus, dass eine außergewöhnliche Härte nicht vorliege und ohnehin die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 AuslG zwingend zu versagen sei. In dem hiergegen am 23. Dezember 1999 eingelegten Widerspruch hob die Klägerin hervor, dass aufgrund ihrer Erkrankung eine außergewöhnliche Härte anzunehmen sei. Bei der Botschaft habe sie angegeben, dass sie einen längeren Aufenthalt in Deutschland plane. Die Erklärung des Vaters, in der er eine Aufenthaltsdauer von 1 1/2 Monaten angegeben hatte, sei darauf zurückzuführen, dass ihm zum Zeitpunkt der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland das genaue Krankheitsbild seiner Tochter überhaupt nicht klar gewesen sei. Dieser Widerspruch wurde durch den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Braunschweig vom 22. September 2000, zugestellt am 26. September 2000, zurückgewiesen. Zur Begründung wurde angegeben, dass eine Aufenthaltserlaubnis wegen der Regelung des § 8 AuslG nicht erteilt werden dürfe und soweit Umstände für die Annahme einer außergewöhnliche Härte vorgetragen werden, diese gemäß § 71 Abs. 2 AuslG nicht berücksichtigt werden könnten.

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Hiergegen hat die Klägerin am 26. Oktober 2000 den Verwaltungsrechtsweg beschritten. Zur Begründung wiederholt sie im Wesentlichen ihre bisherigen Argumente und reicht als Beleg für ihre anhaltende Erkrankungen weitere aktuelle ärztliche Stellungnahmen ein. Auch der Amtsarzt ist erneut eingeschaltet worden. Er führt in seiner Stellungnahme vom 8. Februar 2001 u.a. aus, dass die Schwere der Störung eine stationäre Diagnostik und Therapie im psychiatrischen Krankenhaus rechtfertige, die Ausprägung der Angstsymptome der Klägerin einen solchen Schritt aber ernorm erschwere. Aus psychiatrischer Sicht sollte dieses Ziel aber weiterhin verfolgt werden, wobei eine psychiatrische Behandlung nur dann erfolgversprechend sein dürfte, wenn die Klägerin hinsichtlich ihrer sozialen Situation, insbesondere auch im Hinblick auf ihren weiteren Aufenthalt, eine ausreichend sichere Perspektive habe.

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Die Klägerin beantragt,

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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13. Dezember 1999 in der Form des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 22. September 2000 zu verpflichten, ihr eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und hebt hervor, dass die maßgebenden Visumsvorschriften nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 101, 265, 271) der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstünden, weil nur bei einem strikten Rechtsanspruch Ausnahmen möglich seien, die hier maßgebenden Vorschriften der §§ 23 Abs. 4, 22, 17 AuslG jedoch Ermessensvorschriften seien.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen. Der wesentliche Inhalt dieser Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

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Die gem. § 42 VwGO zulässige Verpflichtungsklage ist nur teilweise begründet. Die Klägerin hat nämlich nach der für die Beurteilung ihres Klagebegehrens allein maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. Redeker/von Oertzen, Kommentar zur VwGO, 12. Aufl. 1997, Anm. 22 zu § 108) gem. den §§ 23 Abs. 4, 22 und 17 AuslG lediglich einen Anspruch auf Erteilung einer befristeten, nicht dagegen einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.

16

Der vom Gericht ausgesprochenen Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer (befristeten) Aufenthaltserlaubnis steht aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalles zunächst nicht die Vorschrift des § 71 Abs. 2 AuslG entgegen, durch die die Rechtsschutzmöglichkeiten von Ausländern in bestimmten aufenthaltsrechtlichen Versagungsfällen eingeschränkt werden, um eine möglichst strikte Durchsetzung des Visumszwanges bei der Einreise nach Deutschland zu gewährleisten. Nach § 71 Abs. 2 Satz 1 AuslG können vor der Ausreise eines illegal eingereisten Ausländers Rechtsbehelfe gegen die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung nach den §§ 8 und 13 Abs. 2 Satz 1 AuslG nur darauf gestützt werden, dass der Versagungsgrund nicht vorliegt. Im vorliegenden Fall ist der besondere Versagungsgrund des § 8 Abs. 1 Nr. 2 AuslG allerdings nach Auffassung der Kammer erfüllt, denn die Klägerin ist mit einem Visum eingereist, das aufgrund ihrer Angaben im Visumsantrag ohne die erforderliche Zustimmung der Ausländerbehörde erteilt worden ist. Wie sich aus den Verwaltungsakten der Beklagten ergibt, reiste die Klägerin am 9. August 1998 mit einem zu touristischen Zwecken beantragten Besuchsvisum in das Bundesgebiet ein, das ihr von der Deutschen Botschaft in Tunis ohne vorherige Zustimmung der Ausländerbehörde der Beklagten erteilt worden war und auf zwei Monate befristet war. Gem. § 11 Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) bedarf ein Visum jedoch der vorherigen Zustimmung der für den vorgesehen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde, wenn der Ausländer sich länger als drei Monate im Bundesgebiet aufhalten will. Letzteres war bei der Klägerin der Fall. Aufgrund ihrer ausdrücklichen Angabe "Tourisme" als Aufenthaltszweck erscheinen ihre späteren Angaben zu ihrem Vortrag bei der Deutschen Botschaft in Tunis als reine Schutzbehauptung. Damit liegen die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 2 AuslG für die Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung und damit auch einer Aufenthaltserlaubnis (vgl. § 5 AuslG) vor. Diese Vorschrift würde allerdings dann nicht greifen, wenn die Klägerin bei ihrer Einreise noch die Absicht gehabt hätte, sich im Bundesgebiet nur vorübergehend zu Besuchszwecken aufzuhalten und erst danach den Entschluss gefasst hätte, den Aufenthalt zu einem dauerhaften, zustimmungspflichtigen Zweck fortzusetzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.1996, BVerwGE 75, 20 - noch zu der vergleichbaren alten Fassung des Ausländergesetzes -). Ein solcher Fall, in dem der Ausländer legal eingereist und erst später durch besondere Umstände veranlasst wird, einen Daueraufenthalt anzustreben, liegt hier indessen nicht vor. Aus dem schon am 25. August 1998 gestellten Antrag auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ergibt sich auch, dass sich die Klägerin nicht erst nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland entschieden hatte, hier länger als drei Monate zu verbleiben. Dieses wird auch durch den Gesundheitszustand der Klägerin, der schon bei der Einreise vorlag, und die fehlende Betreuungsmöglichkeit in Tunesien deutlich. Dies alles zusammengenommen beweist, dass die Klägerin aufgrund von falschen Angaben im Visumsantrag illegal eingereist ist und ein Sinneswandel nicht erst danach eingetreten ist.

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Obwohl damit der besondere Versagungsgrund des § 8 Abs. 1 Nr. 2 AuslG erfüllt ist, steht die Regelung des § 71 Abs. 2 AuslG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Klägerin ausnahmsweise nicht entgegen. § 71 Abs. 2 AuslG verfolgt den Zweck, den Visumsbestimmungen möglichst in allen Fällen Beachtung zu verschaffen und dadurch dem öffentlichen Interesse, den Zuzug von Ausländern auf dem gesetzlich vorgesehenen Wege zu steuern und zu kontrollieren, gerecht zu werden. Auch sollen Ausländer, die unter Verstoß gegen diese Normen in das Bundesgebiet eingereist sind, grundsätzlich nicht besser stehen als solche, die das aufenthaltsrechtliche Genehmigungsverfahren ordnungsgemäß vom Ausland aus betrieben haben. Aus diesen Gründen sollen Ausnahmen von den Anfechtungsbeschränkungen des § 71 Abs. 2 AuslG insbesondere auch dann nicht möglich sein, wenn ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung offensichtlich gegeben ist (so. Kanein/Renner, Kommentar zum AuslR, 7. Aufl., § 71 Rdnr. 6). Andererseits wird in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung die strikte Anwendung des § 71 Abs. 2 Satz 1 AuslG jedoch teilweise eingeschränkt, wenn die Ausnahme- und Befreiungsvorschriften des § 9 AuslG eingreifen und ein Beharren auf der Einhaltung der Visumsbestimmungen mit Rücksicht auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im konkreten Einzelfall eine nicht hinnehmbare Härte darstellen würde (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 02.11.1995 - 11 6341/95 -; Nds. OVG, Beschl. v. 06.02.1996 - 13 M 460/96 -, Info AuslR 1996, 201 ff. = Nds. Rechtspflege 1996, S. 182; OVG Bremen, Urt. v. 28.02.1995, Info AuslR 1995, S. 317 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 07.02.1995, Info AuslR 1995, S. 202 ff.). Ebenso hat auch das Bundesverwaltungsgericht zum alten Ausländerrecht ausgeführt, dass Ausnahmen von der Einhaltung des Sichtvermerkverfahrens möglich sind, wenn dieses für den Ausländer eine mit dem Gesetzeszweck nicht zu vereinbarende Härte darstellen würde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.08.1984, EZAR 101 Nr. 2). Dieser die Anwendung des § 71 Abs. 2 AuslG einschränkenden Rechtsprechung hat sich das erkennende Gericht bereits seit seinem Urteil vom 26.03.1998 - 4 A 4276/97 - angeschlossen. Dagegen hat das Bundesverwaltungsgericht im dem von der Beklagten herangezogenen Urteil vom 18. Juni 1996 (BVerwG 1 C 17.95, BVerwGE 101, 265, 271) ausgeführt, dass ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung i.S. des § 9 Abs. 1 Nr. 1 AuslG ein strikter Rechtsanspruch sein müsse, nicht ein solcher, der seinerseits nur ein Ermessen eröffnet, selbst wenn im Einzelfall das Ermessen "auf Null" reduziert sei. Gleiches müsste nach dieser Rechtsprechung für den hier einschlägige und insoweit wortgleichen § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG gelten.

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Dieser zuletzt genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann sich das erkennende Gericht nicht anschließen und hält an seiner bereits dem Urteil vom 26.03.1998 - 4 A 4276/97 - zugrunde liegenden Auffassung fest, dass auch bei einer im Einzelfall anzunehmenden Ermessensreduzierung "auf Null" i. S. des § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung nach diesem Gesetz offensichtlich erfüllt sind. Mit dem VG Stuttgart (Urteil vom 10.12.1998 - 2 K 2912/98, InfAuslR 1999, 201) ist die Kammer der Auffassung, dass bereits der Wortlaut des § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG nicht zwingend gebietet, den Fall der Ermessensreduzierung "auf Null" aus dem Anwendungsbereich dieser Vorschrift herauszunehmen, denn es wird gerade nicht , wie z.B. in § 11 Abs. 1 AuslG von einem "gesetzlichen Anspruch" gesprochen. Zu beachten ist vielmehr, dass in der allgemeinen Rechtsanwendungsdogmatik die Rechtsfolgen eines Anspruchs und eines Anspruchs auf pflichtgemäße Ermessensentscheidung bei einer Ermessensreduzierung "auf Null" gleich behandelt werden. Entscheidend ist jedoch, dass die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 18. Juni 1996 (aaO.) nicht dem verfassungsrechtlich begründeten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht wird. Dieser Verfassungsgrundsatz ist auch bei der Auslegung einer Norm zu beachten. Vor diesem Hintergrund gebietet es die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmenden Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der Einhaltung der Visumsvorschriften und den privaten Interessen an der Vermeidung einer auch nur kurzzeitigen Rückkehr in das Heimatland in den Einzelfällen eine Ausnahme zuzulassen, in denen bereits vor der Ausreise feststeht, dass dem Ausländer im Ausland eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden wird (auch in den Fällen der Ermessenreduzierung "auf Null"), und außerdem eine auch nur kurzzeitige Ausreise aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles unzumutbar erscheint. Denn in einem solchen Fall wäre das Beharren auf der Einhaltung der Visumsvorschriften als ein inhaltsleere Formalhülse anzusehen. Dieses entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (vgl. Urteil vom 18.02.1991 - 31/1989/191/291 Moustaquim ./. Belgien, InfAuslR 1991, 149), der zu dem auch hier einschlägigen Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens) ausführte, dass Eingriffe in dieses Recht nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention nur statthaft sind, soweit sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind, d.h. dass diese Eingriffe durch eine zwingend soziale Notwendigkeit und insbesondere durch ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel gerechtfertigt sein müssen.

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Nach Auffassung der Kammer steht der Klägerin auch gem. § 9 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. den §§ 23 Abs. 4, 22 und 17 AuslG ein Anspruch auf Erteilung einer (befristeten) Aufenthaltserlaubnis zu. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG kann die Aufenthaltsgenehmigung abweichend von dem - hier einschlägigen - § 8 Abs. 1 Nr. 2 AuslG erteilt werden, wenn die Voraussetzungen eines entsprechenden Anspruches nach diesem Gesetz offensichtlich erfüllt sind. Das ist hier der Fall. Da die Klägerin ersichtlich kein eigenständiges Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland besitzt, ist dabei von § 23 Abs. 4 AuslG auszugehen, der die aufenthaltsrechtliche Situation von sonstigen, d. h. nicht unter die Regelungen des Abs. 1 fallenden Familienangehörigen von Deutschen regelt. Diese Vorschrift ist hier anzuwenden, weil die Eltern der Klägerin durch Einbürgerung inzwischen deutsche Staatsangehörige geworden sind und die Klägerin, die mit ihnen dauerhaft zusammenleben will, bereits im Zeitpunkt ihrer Einreise in das Bundesgebiet 18 Jahre alt und damit nach den über § 68 Abs. 3 AuslG maßgeblichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) volljährig mit der Folge war, dass insbesondere § 23 Abs. 1 Nr. 2 AuslG keine Anwendung mehr fand. Nach § 23 Abs. 4 AuslG findet im Falle der Klägerin demnach § 22 AuslG entsprechende Anwendung, wonach einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 17 AuslG, d. h. zur Herstellung und Wahrung einer familiären Lebensgemeinschaft erteilt werden kann, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Diese Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Klägerin sind nach Auffassung der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalles offensichtlich erfüllt, wobei das der Beklagten in den §§ 9 Abs. 1 und 22 Satz 1 AuslG jeweils eingeräumte Ermessen in der Weise eingeschränkt ist, dass nur die Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis als einzig rechtmäßige Entscheidung in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung auf Null). In diesem Zusammenhang ist zunächst festzustellen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen des in Bezug genommenen § 17 AuslG hier uneingeschränkt vorliegen. Denn zum einen ist die Klägerin von ihren Eltern in deren Wohnung aufgenommen worden, wo ausreichender Wohnraum für sie zur Verfügung steht; zum anderen ist auch ihr Lebensunterhalt in Deutschland als gesichert anzusehen. Zwar wäre das nach der bis zum 01.11.1997 geltenden Fassung des Ausländergesetzes nicht der Fall gewesen, da § 17 Abs. 2 Nr. 3 AuslG insoweit allein auf die eigene Erwerbstätigkeit, das eigene Vermögen oder sonstige eigene Mittel des Ausländers abgestellt hatte, was bei der Klägerin sämtlich nicht vorhanden ist. Jedoch wurde diese Regelung durch das Gesetz zur Änderung ausländer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 29.10.1997 (BGBl. I 1997, S. 2584) mit Wirkung vom 01.11.1997 dahingehend ergänzt, dass zur Vermeidung einer besonderen Härte die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn der Lebensunterhalt der Familie auch aus eigener Erwerbstätigkeit des sich rechtmäßig oder geduldet im Bundesgebiet aufhaltenden Familienangehörigen oder durch einen unterhaltspflichtigen Familienangehörigen gesichert wird. Letzteres ist hier der Fall, da der Vater der Klägerin durch seine Erwerbsunfähigkeitsrente finanziell in der Lage ist, auch den Lebensunterhalt der Klägerin im Bundesgebiet sicherzustellen und beide Elternteile auch offensichtlich dazu bereit sind.

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Auch die weiteren Voraussetzungen des § 22 AuslG für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Klägerin liegen hier nach Auffassung der Kammer offensichtlich vor. Insbesondere ist das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte zu bejahen, wenn der Klägerin die begehrte Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung nicht erteilt wird und sie verpflichtet wäre, die Bundesrepublik Deutschland und damit ihre Familie wieder zu verlassen.

21

Bei der Auslegung des Begriffs der außergewöhnlichen Härte i. S. von § 22 Satz 1 AuslG sind die familiären Bindungen des eine Aufenthaltserlaubnis anstrebenden Ausländers an bereits in Deutschland lebende Personen in einer Weise zu würdigen, die der großen Bedeutung gerecht wird, welche das Grundgesetz in seinem Art. 6 dem Schutz von Ehe und Familie ersichtlich beimisst (vgl. BVerwG, NJW 1988, S. 626, 629 [BVerfG 12.05.1987 - 2 BvR 1226/83; 2 BvR 101/84; 2 BvR 313/84]). Eine außergewöhnliche Härte ist deshalb dann anzunehmen, wenn die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis im Einzelfall für den Antragsteller zu besonderen Schwierigkeiten führt, die unter Berücksichtigung des Schutzgebots des Art. 6 GG im Vergleich zu den vom Ausländergesetz sonst gestatteten oder nicht erlaubten Fällen des Familiennachzugs so ungewöhnlich sind, dass die Erlaubnisversagung nicht vertretbar erscheint (vgl. Kanein/Renner, a.a.O., Rdnr. 4 zu § 22). Ein solcher Fall liegt zur Überzeugung der Kammer aufgrund seiner individuellen Besonderheiten hier vor.

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Zwar entspricht es den gesetzlichen Familiennachzugsregeln der §§ 17 bis 21 AuslG, dass volljährigen Kindern mit fremder Staatsangehörigkeit grundsätzlich kein Aufenthaltsrecht zum Zwecke des Familiennachzuges zusteht, weil sie sich in der Regel bereits aus der familiären Gemeinschaft gelöst haben oder jedenfalls keiner familiären Lebenshilfe mehr bedürfen, auch wenn sie aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen noch mit ihren Eltern zusammenleben möchten. Diese Fallkonstellation ist bei der Klägerin jedoch nicht gegeben, weil sie schon aufgrund ihres gravierenden auch vom Amtsarzt nicht in Zweifel gezogenen Gesundheitszustandes trotz ihrer Volljährigkeit noch in besonderer Weise auf die Hilfe und Unterstützung ihrer Mutter und damit auf das Zusammenleben mit ihren Eltern im Bundesgebiet angewiesen ist, so dass die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis sie ausnahmsweise ganz ungewöhnlich hart träfe.

23

Unter den geschilderten Umständen ist es der Klägerin nach Auffassung der Kammer gegenwärtig nicht zuzumuten, allein nach Tunesien zurückzukehren, wo sie ohne eine berufliche Ausbildung und ohne ausreichende Unterstützung durch ihr nahestehende Menschen ersichtlich nicht in der Lage wäre, ein eigenständiges Leben zu führen und ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten. Alle diese gesundheitlichen Probleme der Klägerin können kurzfristig nicht abgestellt werden, sondern lassen sich - wie in den oben genannten fachärztlichen und amtsärztlichen Stellungnahmen überzeugend ausgeführt worden ist - erfolgreich nur im Zusammenhang mit einem sicheren Aufenthaltsstatus behandeln, der entgegen der Auffassung der Beklagten nicht durch eine Duldung erreicht werden kann, da diese die Ausreisepflicht des Ausländers gem. § 56 Abs. 1 AuslG grundsätzlich unberührt lässt.

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Nach allem ist der Klägerin zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte wirksam nur mit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu helfen. Verbleibende Gründe, die eine abweichende Ermessensentscheidung der Beklagten nach § 22 AuslG tragen könnten, sind nicht erkennbar. Allerdings kann die Aufenthaltserlaubnis nicht wie beantragt unbefristet erteilt werden, sondern nur gem. § 23 Abs. 2 AuslG befristet mit der Möglichkeit der Verlängerung. Der Klage ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 155 Abs. 1 VwGO lediglich teilweise stattzugeben.

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Die Nebenentscheidungen im Übrigen beruhen auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.

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Die Berufung wird gemäß § 124 a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO zugelassen.