Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 20.03.2003, Az.: 10 LA 30/03

Abschiebung; Abschiebungshindernis; Abschiebungsschutz; Aids; Aufenthalt; Ausländer; Behandelbarkeit; Erkrankung; extreme Gefahrenlage; Gesundheitszustand; Ghana; Hindernis; HIV; HIV-Infektion; Krankheit; Versorgungsstandard

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
20.03.2003
Aktenzeichen
10 LA 30/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48462
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 13.01.2003 - AZ: 5 A 874/02

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei Abschiebung eines Ausländers mit einer HIV-Infektion im Stadium 1 (A 2) nach der CDC-Klassifikation nach Ghana besteht keine extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG

Gründe

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Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe kann nicht entsprochen werden, weil der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

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Der Antrag auf Zulassung der Berufung, den die Klägerin auf die Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 Nrn. 1 und 3 AsylVfG gestützt hat, hat keinen Erfolg. Es kann dahingestellt bleiben, ob die geltend gemachten Zulassungsgründe gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG hinreichend dargelegt worden sind und vorliegen. Denn das Urteil erweist sich analog § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als richtig (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.11.1996 – 3 A 3990/95 -). Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zutreffend ausgeführt, dass die Klägerin aufgrund ihrer HIV-Infektion im Stadium 1 (A 2) keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG besitzt.

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Angesichts dessen sind die von der Klägerin als grundsätzlich bedeutsam erachteten Tatfragen der kostenlosen medikamentösen Behandlung ihrer HIV-Infektion einschließlich der erforderlichen engmaschigen Kontrolle der Laborwerte in Ghana sowie des Infektionsrisikos hinsichtlich weiterer für Ghana typischer Infektionskrankheiten für bereits HIV-Infizierte einschließlich der Frage deren kostenloser Behandlung in Ghana sowie ihre Angriffe gegen die Ablehnung der mit Schriftsatz vom 6. Januar 2003 gestellten Beweisanträge nicht entscheidungserheblich.

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Nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

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§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben, nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat dies bisher ausdrücklich nur für solche Fallgestaltungen ausgesprochen, in denen eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Herkunftsstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar war. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 – BVerwG 1 C 1.02 -, UA S. 6 m.w.N.).

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Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 54 AuslG berücksichtigt (§ 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG). Die oberste Landesbehörde kann nach § 54 AuslG aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für die Dauer von längstens sechs Monaten ausgesetzt wird (Satz 1); für längere Aussetzungen bedarf es des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern (Satz 2). Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung oder einer im Abschiebestaat lebenden Bevölkerungsgruppe gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums befunden wird. Allgemeine Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG können daher auch dann nicht Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründen, wenn sie den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betreffen. Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr ist danach die Anwendbarkeit des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im Verfahren eines einzelnen Ausländers „gesperrt“, wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht (BVerwG, Urt. v. 8.12.1998 – BVerwG 9 C 4.98 -, InfAuslR 1999, 266 f. m.w.N.).

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So liegt der Fall hier. Ohne dass das Verwaltungsgericht zu dieser Frage Stellung genommen hätte, ist mit dem Bundesamt in seinem Bescheid vom 12. November 2002 davon auszugehen, dass die Gefahr, die sich aus dem Auftreten von HIV-Infektionen und deren unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten in Ghana ergibt, allgemein ist, weil sie eine Vielzahl von Personen, mithin eine ganze Bevölkerungsgruppe, betrifft. Auf die Begründung in dem angefochtenen Bescheid wird Bezug genommen. Auch das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 27.4.1998 – 9 C 13/97 -, NVwZ 1998, 973, 974) räumt ein, dass es allgemeinkundig sei, dass die Immunschwäche AIDS eine zumal in Afrika verbreitete Krankheit sei und die Zahl der HIV-Infizierten dort besonders groß sei. Diese Einschätzung wird gestützt durch den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. November 2002, der von einer HIV-Infektionsrate von ca. 4,6 % der Erwachsenen ausgeht, sowie durch Entscheidungen unter anderem der Verwaltungsgerichte Köln (Urt. v. 4.3.2002 – 14 K 1100/00.A -) und Würzburg (Urt. v. 3.5.2001 – W 1 K 98.30876 -) zu Ghana (ebenso für andere afrikanische Staaten wie Angola, Kamerun und Togo Urteile der Verwaltungsgerichte Dresden v. 28.5.2002 – A 12 K 31312/99 -, Gelsenkirchen v. 25.11.2002 – 9a K 1157/00.A – und Schwerin v. 16.4.2002 – 11 A 2343/96 As -).

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Die Verwaltungsgerichte dürfen daher im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe angehören, für die – wie hier – ein Abschiebestopp nach § 54 AuslG nicht

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besteht, nur dann ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG zusprechen, wenn keine anderen Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG gegeben sind, eine Abschiebung aber Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist dann der Fall, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem einzelnen Ausländer unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 2, § 54 AuslG Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren (BVerwG, Urt. v. 8.12.1998, a.a.O., S. 267 m.w.N.).

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Das Vorliegen einer extremen Gefahr, die die Überwindung der Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG in verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung rechtfertigt, bedarf mithin der Feststellung, dass der Klägerin bei ihrer Rückkehr nach Ghana der sichere Tod oder schwerste Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit drohen würden und dass sie in eine solche Gefahr alsbald nach ihrer Rückkehr gerate (BVerwG, a.a.O., S. 268 m.w.N.).

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Damit sind nicht nur Art und Intensität der drohenden Rechtsgutverletzungen, sondern auch die Unmittelbarkeit der Gefahr und ihr hoher Wahrscheinlichkeitsgrad angesprochen. Es ist indessen nicht gesagt, dass nur dann eine die Anwendung dieser Vorschrift rechtfertigende extreme Gefahrenlage besteht, wenn Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Ankunft im Abschiebezielstaat, eintreten. Sie besteht beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (BVerwG, Beschl. v. 26.1.1999 – BVerwG 9 B 617.98 -, InfAuslR 1999, 265).

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Eine extreme Gefahrenlage wird im Fall einer HIV-Infektion im Allgemeinen erst in deren Stadium 3 (AIDS) nach der CDC-Klassifikation erwogen (so OVG Hamburg, Beschl. v. 13.10.2000 – 3 Bs 369/99 -, InfAuslR 2001, 132, 133 für den Fall einer lebensbedrohlichen Lage im Falle der Abschiebung). Eine extreme Gefahrenlage ist aber auch für das fortgeschrittene Stadium 2 (B 2 und B 3) der HIV-Infektion angenommen worden (VG Dresden, Urt. v. 28.5.2002 – A 12 K 31312/99 – und VG Gelsenkirchen, Urt. v. 25.11.2002 – 9a K 1157/00.A -), wenn der Ausländer bei Rückkehr nach Angola beziehungsweise Kamerun die Kosten für die erforderliche antiretrovirale Kombinationstherapie nicht aufbringen kann, was dazu führen würde, dass er an lebensgefährlichen Begleitinfektionen erkrankt und verstirbt. Insbesondere bei bereits aufgetretenen Komplikationen hätte der Abbruch der medikamentösen Therapie eine rasch erfolgende lebensbedrohliche Erkrankung und den Tod des Ausländers zur Folge (vgl. VG Gelsenkirchen, a.a.O.). Dagegen werden die strengen Voraussetzungen für die ausnahmsweise Gewährung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG als nicht erfüllt angesehen, wenn sich die HIV-Infektion nach der CDC-Klassifikation im Stadium 1 (A 2) befindet, also nach Einschätzung des behandelnden Arztes bei Abbruch der Behandlung noch ca. fünf bis sieben Jahre vergehen würden, bevor es zu AIDS-assoziierten beziehungsweise AIDS-definierenden Erkrankungen kommen würde (VG Schwerin, Urt. v. 16.4.2002 – 11 A 2343/96 As -).

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Nach diesen Maßstäben, denen der beschließende Senat folgt, erscheint es nach der Sach- und Aktenlage ausgeschlossen, dass von einer extremen Gefahrenlage für die Klägerin bei ihrer Rückkehr nach Ghana hinsichtlich ihrer HIV-Infektion im Stadium 1 (A 2) ausgegangen werden kann. Denn nach ihrem eigenen Zulassungsvorbringen würde ohne Behandlung der HIV-Infektion zu erwarten sein, dass die Erkrankung in ca. vier bis sechs Jahren (ärztliches Attest Dr. B. vom 23. Dezember 2002, Bl. 83 der Gerichtsakte) beziehungsweise innerhalb weniger Jahre (ärztliche Stellungnahme Dr. B. vom 3. Februar 2003, Bl. 84 der Gerichtsakte) zum Tode führen würde. Dabei ist der Klägerin erst durch das Attest vom 23. Dezember 2002 eine Verschlechterung der HIV-Infektion von A 1 nach A 2 der CDC-Klassifikation bescheinigt worden, so dass sich die Klägerin in der zweiten von neun Stufen und im mittleren Bereich des ersten Stadiums von dreien der Erkrankung befindet. Diese Tatsachen sprechen dagegen, einen Abschiebungsschutz analog aus § 53 Abs. 6 AuslG herzuleiten, weil insofern mit dem Verwaltungsgericht nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Klägerin nach ihrer Abschiebung nach Ghana „alsbald“ eine Verschlimmerung ihrer Krankheit oder den Tod im Sinne der Realisierung einer extremen Gefahrenlage erleiden müsste.

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Dabei hat der Senat noch nicht einmal berücksichtigt, dass die medikamentöse Versorgung von HIV-Infizierten nach dem erwähnten Lagebericht auch mit der Dreierkombination von Medikamenten, wie sie die Klägerin erhält, in Ghana grundsätzlich möglich und zugänglich ist. Im Übrigen beziehen sich die von der Klägerin vorgelegten Stellungnahmen des Missionsärztlichen Instituts Würzburg vom 28. Januar und 17. Juni 2002 nicht auf ihre Person, sondern eine Patientin, die sich bereits zum Zeitpunkt der ersten Stellungnahme im dritten Stadium (AIDS) einer fortgeschrittenen HIV-Infektion befand, während sich die Klägerin noch im ersten Stadium (A 2) dieser Infektion befindet.

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Nach allem kommt es, wie das Verwaltungsgericht bereits zutreffend in Ablehnung des Beweisantrages (Verhandlungsprotokoll vom 13. Januar 2003, Bl. 48 der Gerichtsakte) ausgeführt hat, nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, ob die Klägerin in Ghana eine kostenpflichtige medikamentöse Behandlung deswegen nicht erreichen könne, weil sie dort keine Angehörigen habe. Denn ihre Lebensaussichten sind nach den erwähnten medizinischen Gutachten auch für den Fall der nicht medikamentösen Behandlung ihrer HIV-Infektion mit vier bis sechs beziehungsweise einigen Jahren angegeben, so dass eine „alsbaldige“ Verschlimmerung ihrer Krankheit im Sinne einer extremen Gefahr infolge der Abschiebung derzeit nicht festgestellt werden kann. Daher war das Verwaltungsgericht nicht gehalten, den Umstand einer eventuellen Bedürftigkeit der Klägerin in Ghana gemäß § 86 Abs. 1 VwGO aufzuklären.