Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 23.03.2017, Az.: 11 ME 72/17

Abänderungsantrag; Aufenthaltserlaubnis; Ausweisung; Gefahrenprognose; breitere Tatsachengrundlage; Tatsachengrundlage; Wiederholungsgefahr; indizielle Wirkung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
23.03.2017
Aktenzeichen
11 ME 72/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 54195
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 20.02.2017 - AZ: 19 B 998/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei der Prognose der Wiederholungsgefahr im ausländerrechtlichen Verfahren sind weder die Ausländerbehörde noch das Verwaltungsgericht an die im Rahmen der Entscheidung über die Aussetzung des Restes der Freiheitsstrafe zur Bewährung erfolgte Einschätzung der Strafvollstreckungskammer gebunden.
2. Die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 -, NVwZ 2017, 229, juris, Rdnr. 21) gleichwohl bestehende erhebliche indizielle Bedeutung der Strafaussetzung zur Bewährung für das ausländerrechtliche Verfahren kann verneint werden, wenn sich die Strafvollstreckungskammer mit wesentlichen Umständen, die für die ausländerrechtliche Beurteilung der Wiederholungsgefahr erheblich sind, nicht oder nicht hinreichend auseinandergesetzt hat (hier: bejaht).

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 19. Kammer - vom 20. Februar 2017 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Ablehnung der Abänderung vorangegangener Beschlüsse der ersten und zweiten Instanz in einem Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg.

Die Beschwerdegründe, auf deren Überprüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen nicht eine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren liegt der Bescheid vom 24. Juni 2016 zugrunde, mit dem die Antragsgegnerin den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland auswies, die Wirkungen der Ausweisung auf sechs Jahre und drei Monate befristete, den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ablehnte und dem Antragsteller die Abschiebung aus der Strafhaft in die Türkei androhte. Hintergrund dessen war, dass der Antragsteller von dem Landgericht B. mit Urteil vom 28. Februar 2014 wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden war. Gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Juni 2016 hat der Antragsteller Klage erhoben (13 A 4030/16), über die noch nicht entschieden ist. Den zugleich gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 2. September 2016 - 13 B 4031/16 - ab. Die Beschwerde des Antragstellers hiergegen wies der Senat mit Beschluss vom 19. Oktober 2016 - 11 ME 203/16 - zurück.

Unter dem 30. Januar 2017 hat der Antragsteller beantragt, die vorangegangenen gerichtlichen Beschlüsse gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO abzuändern und die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen. Zur Begründung hat er unter Hinweis auf die Entscheidung der 1. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 - 2 BvR 1943/16 - (NVwZ 2017, 229, juris) geltend gemacht, dass nach dem im Strafvollstreckungsverfahren eingeholten Gutachten des Dipl.-Psych. C. vom 27. September 2016 von ihm eine signifikante Gefährlichkeit nicht mehr ausgehe, sodass die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts D. mit Beschluss vom 1. November 2016 die Vollstreckung des Restes seiner Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt habe.

Mit dem angefochtenen Beschluss - dem Antragsteller ausweislich des bei den Gerichtsakten befindlichen Empfangsbekenntnisses seiner Prozessbevollmächtigten am 22. Februar 2017 zugestellt - hat das Verwaltungsgericht diesen Abänderungsantrag abgelehnt und zur Begründung im Wesentlichen darauf abgestellt, dass in der Person des Antragstellers auch unter Berücksichtigung der genannten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts trotz der neuen Umstände nach wie vor eine hinreichende Wiederholungsgefahr im ausweisungsrechtlichen Sinn anzunehmen sei.

Die von dem Antragsteller gegen diese Entscheidung vorgetragenen Beschwerdegründe führen nicht zu einer abweichenden rechtlichen Beurteilung.

Der Antragsteller wendet ohne Erfolg ein, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hätten entweder die Antragsgegnerin oder das Verwaltungsgericht ein weiteres Sachverständigengutachten zu der Prognose einer Wiederholungsgefahr einholen müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat in der von dem Verwaltungsgericht und dem Antragsteller in Bezug genommenen Entscheidung vom 19. Oktober 2016 ausgeführt, dass die einzelfallbezogene Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers sowie deren Abwägung gegeneinander den Verwaltungsgerichten übertragen sei. In dem zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde anstehenden Fall eines sogenannten faktischen Inländers, der unter anderem wegen Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz strafrechtlich belangt worden war, hat das Bundesverfassungsgericht im Folgenden darauf abgestellt, dass diese Abwägung den verfassungsrechtlichen Anforderungen und den Vorgaben der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - nicht gerecht werde. Für diese Personengruppe bestehe zwar kein generelles Ausweisungsverbot, es sei aber im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diesen Personenkreis darstelle, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Daher sei es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend, wenn die Verwaltungsgerichte von der Begehung von Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen würden. Vielmehr sei der konkrete, der Verurteilung zugrunde liegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und Therapie. Bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr seien die Verwaltungsgerichte zwar nicht an die Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammern gebunden, diesen Entscheidungen komme jedoch eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Daher bedürfe es einer substantiierten Begründung, wenn die Verwaltungsgerichte von der strafgerichtlichen Einschätzung abwichen. Wenn das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer wiege, werde sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen werde, etwa wenn die Ausländerbehörde oder das Verwaltungsgericht ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben hätten, welches eine Abweichung zulasse, oder wenn die von dem Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen ließen (BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 -, a. a. O., juris, Rdnr. 19 ff.).

Die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts steht mit diesen Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts nicht in Widerspruch. Zum einen ist der Fall des Antragstellers nicht mit dem Fall, der der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegt, vergleichbar. Der am 1. Juli 1989 geborene Antragsteller ist in der Türkei geboren und dort aufgewachsen. Erst im Erwachsenenalter reiste er 2009 als Tourist in das Bundesgebiet ein und heiratete eine türkischstämmige deutsche Staatsangehörige. Seitdem hat der Antragsteller im Bundesgebiet als Ungelernter bis zu seiner Inhaftierung im August 2013 lediglich vier jeweils befristete Beschäftigungsverhältnisse gehabt. Daher kann ihm nicht die Eigenschaft eines sogenannten faktischen Inländers zugesprochen werden.

Zum anderen ist das Verwaltungsgericht dem dargestellten Prüfungsprogramm des Bundesverfassungsgerichts gerecht geworden und hat den konkreten, der strafgerichtlichen Verurteilung des Antragstellers zugrunde liegenden Sachverhalt ebenso wie sein Nachtatverhalten und den Verlauf seiner Strafhaft berücksichtigt. Insbesondere hat es umfänglich ausgeführt, warum die Prognose der Wiederholungsgefahr trotz der indiziellen Wirkung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer gerechtfertigt ist. Das Verwaltungsgericht hat aufgezeigt, dass sich die Strafvollstreckungskammer mit wesentlichen Umständen, die für die ausweisungsrechtliche Beurteilung der Wiederholungsgefahr erheblich seien, nicht oder nicht eingehend auseinandergesetzt habe. In der Begründung ihrer Entscheidung hebe die Strafvollstreckungskammer wesentlich auf den Umstand ab, dass der Antragsteller erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt habe und nach Darstellung des Sachverständigen von deren bisherigen Vollzug durchaus beeindruckt sei, über einen sozialen Empfangsraum nach seiner Entlassung aus der Strafhaft verfüge, die Chance auf eine Arbeitsstelle habe, ansonsten strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei und zudem an Gewaltpräventionskursen teilgenommen habe. Die spezifischen Umstände der Tatausführung durch den Antragsteller, die im Hinblick auf eine darin zum Ausdruck kommende Kaltblütigkeit gerade auch für eine andauernde Gefährlichkeit des Antragstellers sprächen, habe die Strafvollstreckungskammer aber nicht hinreichend in den Blick genommen. Nach den Feststellungen in dem Strafurteil des Landgerichts B. habe der Antragsteller das Tatopfer nach dem ersten Angriff mit einem mitgeführten Klappmesser weiterverfolgt und weiter auf dieses eingestochen. Zudem habe der Antragsteller versucht, den Geschehensablauf so darzustellen, dass das Tatopfer ihn zuerst angegriffen habe. Dieser Ablauf zeige, dass der Antragsteller über eine erhebliche kriminelle Energie verfüge und gesteuert und rational vorgegangen sei. Auch das Nachtat- und das Tatsicherungsverhalten des Antragstellers sprächen für eine Wiederholungsgefahr. Der Antragsteller sei sowohl während als auch nach der Tatbegehung gesteuert und rational vorgegangen und habe eine affekttypische Erschütterung über die Tat nicht erkennen lassen. Weiter lasse die Strafvollstreckungskammer offen, ob die Ursachen für die Straftat zwischenzeitlich beseitigt seien. Es sei nicht ersichtlich, dass der Streit der Ehefrau des Antragstellers mit ihrem Halbbruder als Tatopfer wegen des Erbes des gemeinsamen Vaters beigelegt sei. Daher sei davon auszugehen, dass es erneut zu einer Konfrontation kommen könne. Hinzu komme weiteres Konfliktpotential, weil der Antragsteller dem Tatopfer zwar eine Zahlung von 10.000 EUR Schmerzensgeld angeboten habe, diesem aber ein Anspruch in Höhe von 30.000 EUR zugesprochen worden sei.

Diese Erwägungen des Verwaltungsgerichts beruhen auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer. Aus ihnen wird hinreichend deutlich, dass die von dem Antragsteller begangene Straftat, wegen derer er zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden ist, fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter begründet. Der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens - vom Bundesverfassungsgericht ohnehin nur beispielhaft aufgezählt - bedarf es auf dieser Grundlage nicht.

Der Vortrag im Beschwerdeverfahren zu der Annahme des Verwaltungsgerichts, es bestehe weiterhin Konfliktpotential wegen der erbrechtlichen Auseinandersetzung zwischen der Ehefrau des Antragstellers und ihrem Halbbruder als Tatopfer und wegen der Frage der Zahlung eines Schmerzensgeldes an den Halbbruder, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Der Antragsteller hat hierzu lediglich behauptet, die „ehemals streitenden Parteien (hätten) überhaupt keinen Kontakt mehr zueinander“. Allein aus diesem - als gegeben unterstellten - Umstand kann entgegen der Ansicht des Antragstellers nicht geschlossen werden, es gebe keine Auseinandersetzungen mehr und der Streit sei als beigelegt anzusehen, sodass weiteres Konfliktpotential nicht mehr vorhanden sei. Gleiches gilt für den Vortrag des Antragstellers, er habe die Höhe des dem Tatopfer zugesprochenen Schmerzensgeldes akzeptiert. Denn es ist nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich, dass der Antragsteller den ausgeurteilten Betrag in Höhe von 30.000 EUR an das Tatopfer geleistet hat.

Dass der Antragsteller nach seinen - indes nicht belegten - Angaben regelmäßig Kontakt zu seinem Bewährungshelfer hält und in der Bewährungszeit bisher keine Beanstandungen aufgetreten seien, widerlegt nicht die Einschätzung des Verwaltungsgerichts zu der Gefahr weiterer Straftaten. Unergiebig ist in diesem Zusammenhang das Vorbringen, dass er „immer noch verheiratet“ und Vater eines Kindes sei und demnächst Vater eines weiteren Kindes sein werde.

Soweit der Antragsteller im Übrigen „zwecks Vermeidung von Wiederholungen“ auf sein gesamtes bisheriges Vorbringen in den bisherigen verwaltungsgerichtlichen Klage- und Antragsverfahren Bezug nimmt, genügt er nicht den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO (vgl. hierzu Kaufmann, in: Posser/Wolff, VwGO, 2. Aufl. 2014, § 146, Rdnr. 14 m. w. N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).