Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 10.01.2022, Az.: 5 A 1293/21

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
10.01.2022
Aktenzeichen
5 A 1293/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 64214
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2022:0110.5A1293.21.00

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem die Beklagte ihn aus dem Bundesgebiet ausgewiesen, ihm seine Abschiebung nach Aserbaidschan angedroht und die Wirkung der Ausweisung und der ggf. noch zu erfolgenden Abschiebung auf sechs Jahre nach erfolgter Ausreise befristet hat.

Der im Jahr 1966 geborene Kläger ist aserbaidschanischer Staatsangehöriger. Er reiste im November 2001 gemeinsam mit seiner Ehefrau, Frau F. G. H., die ebenfalls die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit besitzt und als jüdische Emigrantin aus der ehemaligen Sowjetunion mit einer Aufnahmezusage des Bundesverwaltungsamts vom Land Niedersachsen aufgenommen worden war, als deren Angehöriger mit einem gültigen Visum in das Bundesgebiet ein.

Der Kläger und seine Ehefrau wurden auf der Grundlage des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge vom 22. Juli 1980 aufgenommen. Am 3. Dezember 2001 wurde dem Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.

Im April 2005 wurde seine Tochter, I. J., in K. geboren. Auch sie besitzt die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit.

Am 14. September 2006 erteilte ihm die Beklagte rückwirkend zum 3. Dezember 2001 eine Niederlassungserlaubnis gemäß § 23 Abs. 2 AufenthG.

Der Kläger ist wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:

Am 20. April 2004 verurteilte ihn das Amtsgericht Rosenheim wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15 EUR.

Am 16. November 2015 verurteilte ihn das Landgericht B-Stadt wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren.

Mit Bescheid vom 29. Oktober 2018 wies die Beklagte den Kläger nach vorheriger Anhörung und unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem Bundesgebiet aus, befristete die Wirkungen der Ausweisung und der ggf. noch zu erfolgenden Abschiebung auf sechs Jahre nach erfolgter Ausreise und drohte ihm die Abschiebung aus der Haft nach Aserbaidschan an. Für den Fall, dass die angekündigte Abschiebung nicht zum Zeitpunkt seiner Haftentlassung durchgeführt werden könne, forderte sie ihn auf, das Bundesgebiet innerhalb von zwei Wochen nach seiner Haftentlassung zu verlassen. Sollte er dem nicht nachkommen, werde er nach Aserbaidschan abgeschoben. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass auf Grund der Verurteilung wegen Totschlags ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1a AufenthG vorliege. Es stehe zu befürchten, dass der Kläger auch in Zukunft weiterhin gegen Gesetze verstoßen werde. Die Ausweisung sei daher aus spezialpräventiven Gründen geboten. Darüber hinaus überwiege das öffentliche Interesse an der Ausweisung. Der Kläger sei im Bundesgebiet nicht verwurzelt. Bis heute beherrsche er die deutsche Sprache nicht gut, obwohl er bereits seit fast 17 Jahren im Bundesgebiet lebe. Außer seiner Tochter und seiner Ehefrau seien keine besonderen persönlichen oder wirtschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet vorhanden. Der Schutz des Familienlebens des Klägers habe kein überwiegendes Gewicht. Die Kontakte zu seiner Familie ließen sich aus Aserbaidschan durch Telefon, Internet und Briefverkehr sowie gelegentliche Besuche aufrechterhalten. Der Kläger sei zudem in einem Alter, in dem ihm die Wiedereingliederung in die Verhältnisse seines Heimatlandes durchaus zugemutet werden könne, zumal er bereits als Erwachsener in die Bundesrepublik eingereist sei. Daher sei davon auszugehen, dass er sowohl mit der Sprache als auch der Kultur seines Heimatlandes weiterhin vertraut sei. Der Bescheid wurde am 1. November 2018 zugestellt.

Am 23. Januar 2019 wurde der Kläger aus der Justizvollzugsanstalt K. entlassen und zog entsprechend der Weisung im Bewährungsbeschluss des Landgerichts B-Stadt - Strafvollstreckungskammer - vom 17. Januar 2019 nach L..

Mit Beschluss des Landgerichts B-Stadt - Strafvollstreckungskammer - vom 18. August 2021 wurde die die Wohnsitznahme des Klägers in L. betreffende Weisung im Bewährungsbeschluss des Landgerichts B-Stadt - Strafvollstreckungskammer - vom 17. Januar 2019 aufgehoben, nachdem die Familie des vom Kläger Getöteten aus K. weggezogen war. Der Kläger zog daraufhin wieder nach K..

Bereits am 29. November 2018 hat der Kläger Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Mit Beschluss vom 1. März 2019 - 19 B 7426/18 - hat das erkennende Gericht den Antrag des Klägers auf vorläufigen Rechtsschutz abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Klägers hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. Juni 2019 - 8 ME 24/19 - zurückgewiesen.

Zur Begründung seiner Klage trägt der Kläger im Wesentlichen vor, der angegriffene Bescheid erweise sich jedenfalls im Hinblick auf die Abwägungsentscheidung als fehlerhaft. Er habe sich im Strafvollzug beanstandungsfrei geführt. Eine Wiederholungsgefahr sei als gering einzustufen. Außerdem verkenne dies Ausweisungsverfügung, dass seine Ehefrau im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei. Zudem leide seine Tochter erheblich unter der Trennung und sei in psychologischer Behandlung. Als sie erfahren habe, dass ihr Vater ausgewiesen worden sei, habe sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Des Weiteren macht der Kläger Abschiebungsverbote bezüglich Aserbaidschans geltend. Er sei nicht reisefähig. Hierzu legt er einen Arztbrief sowie eine fachärztliche psychiatrische Stellungnahme des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. M. N. vom 29. Oktober 2019 und vom 21. Dezember 2021, eine ärztliche Bescheinigung des Rehabilitationszentrums O. vom 29. Januar 2020 und ein ärztliches Attest der Fachärztin für Allgemeinmedizin P. Q. vom 8. April 2021 vor. Zudem trägt er unter Vorlage einer übersetzten Niederschrift einer WhatsApp-Sprachnachricht, die von seiner in Aserbaidschan lebenden Schwester stammen soll, vor, er müsse bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan mit einer Gefahr für Leib und Leben rechnen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 2018, zugegangen am 1. November 2018, aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angegriffenen Bescheid. Ergänzend trägt sie unter Vorlage einer Stellungnahme des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2021 vor, bezüglich des Klägers lägen keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans vor. Die vom Kläger vorgelegten Transkriptionen der Sprachnachrichten seiner Schwester seien kein geeigneter Nachweis dafür, dass ihm bei der Rückkehr in sein Heimatland eine Gefahr für Leib und Leben drohe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat keinen Erfolg.

Die erhobene Anfechtungsklage ist zulässig, insbesondere auch hinsichtlich der Befristung des gesetzlichen Einreiseverbots auf sechs Jahre nach erfolgter Ausreise. Bei der Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots von bestimmter Dauer handelt es sich um eine einheitliche Regelung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.7.2017 - 1 VR 3/17 -, juris, Rn. 72), die insgesamt mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.7.2017 - 1 C 28/16 -, juris, Rn. 42). Die Befristung eines - wie hier - in § 11 Abs. 1 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung noch vorgesehenen gesetzlichen Einreiseverbots für den Fall der Abschiebung, das mit der Richtlinie 2008/115 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger so nicht vereinbar war, ist unionsrechtskonform regelmäßig als konstitutiver Erlass eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer auszulegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7.9.2021 - 1 C 47/20 -, juris).

Die Klage ist jedoch unbegründet.

Der Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Rechtsgrundlage der Ausweisung ist § 53 AufenthG in der Fassung vom 15. August 2019, da der maßgebliche Zeitpunkt die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.2.2017 - 1 C 3/16 -, juris, Rn. 26).

Dabei kann - wie bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes - dahinstehen, ob die Ausweisung auf § 53 Abs. 1 AufenthG oder auf § 53 Abs. 3a AufenthG zu stützen ist. Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Gemäß § 53 Abs. 3a AufenthG hingegen darf ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, nur ausgewiesen werden, wenn er aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr anzusehen ist oder er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, weil er wegen einer schwerwiegenden Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

Zwar erfüllt der Kläger weiterhin keinen der in § 53 Abs. 3a AufenthG genannten Privilegierungstatbestände, da er weder als Asylberechtigter anerkannt ist noch im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt oder einen Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge besitzt. Allerdings ist er als Angehöriger seiner Ehefrau, die als jüdische Emigrantin aus der ehemaligen Sowjetunion mit einer Aufnahmezusage des Bundesverwaltungsamts vom Land Niedersachsen aufgenommen worden war, auf der Grundlage des am 1. Januar 2005 außer Kraft getretenen Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge aufgenommen worden. Gemäß § 1 Abs. 1 dieses Gesetzes genießen Ausländer, die in dessen Geltungsbereich aufgenommen worden sind, in dem Geltungsbereich des Gesetzes die Rechtstellung nach den Artikeln 2 bis 34 des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951. Dabei besteht der gesetzlich erworbene Kontingentflüchtlingsstatus über den 1. Januar 2005 hinaus fort (BVerwG, Beschluss vom 22.3.2012 - 1 C 3/11 -, juris Rn. 31). Ob der Kläger danach auch im Geltungsbereich des Aufenthaltsgesetzes, d.h. hier vorliegend gemäß dem einzig in Betracht kommenden § 53 Abs. 3a Var. 3 AufenthG privilegiert ist, kann jedoch dahinstehen, da auch dessen Voraussetzungen erfüllt sind.

§ 53 Abs. 3a Var. 3 AufenthG knüpft daran an, dass der Flüchtling eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, weil er wegen einer schwerwiegenden Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist. Dies setzt nicht nur voraus, dass der betreffende Flüchtling wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist, sondern auch die Feststellung einer Verbindung zwischen der Straftat, für die er verurteilt wurde, und der Gefahr, die von ihm ausgeht. Die Person muss demnach auf Grund der konkreten von ihr begangenen Straftat eine Gefahr darstellen. Es reicht nicht aus, dass beispielsweise auf Grund ihres allgemeinen Verhaltens, das nicht zu einer Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat geführt hat, oder auf Grund mehrerer Verurteilungen wegen weniger schwerwiegender Straftaten eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht. Typischerweise sind etwa Vergewaltigung, Drogenhandel, versuchter Mord, schwerer Raub, schwere Körperverletzung besonders schwere Straftaten; allerdings entbindet dies nicht von der Prüfung, ob die kriminelle Handlung im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend zu betrachten ist. Ein Anhaltspunkt kann auch § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG sein, der eine mindestens dreijährige (Einzel-)Freiheitsstrafe voraussetzt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 53 AufenthG, Rn. 98). Nach diesen Kriterien ist der vom Kläger begangene Totschlag, dessentwegen er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt wurde, eine schwerwiegende Straftat. Auf Grund dieser begangenen Straftat stellt der Kläger auch weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in seinem den Beteiligten bekannten Beschluss vom 8 ME 24/19 -, V.n.b. - insoweit, insbesondere auch zur Wiederholungsgefahr, Folgendes ausgeführt:

"Aus den vom Verwaltungsgericht angeführten Gründen, auf die verwiesen wird, besteht eine rechtlich erhebliche Wiederholungsgefahr hinsichtlich schwerster Straftaten. Es drohen Tötungs- und schwerwiegende Körperverletzungsdelikte. Die aus der Vortat und dem begleitenden Verhalten abzuleitende Gefahr ist nicht in einem Maße reduziert, dass sie angesichts der bedrohten höchstwertigen Rechtsgüter nicht mehr als schwerwiegend angesehen werden könnte.

Die Haftentlassung und die seitdem eingetretenen Tatsachen genügen nicht für die Annahme, dass von dem Antragsteller keine relevante Gefahr mehr ausgehe. Die Entlassung erfolgte aufgrund des Beschlusses des Landgerichts B-Stadt vom 17. Januar 2019. Seitdem hat der Antragsteller eine Wohnung in L. bezogen und im April 2019 einen Arbeitsvertrag über eine Vollzeittätigkeit als Taxifahrer abgeschlossen. Sein Bewährungshelfer hat berichtet, die Bewährung verlaufe ausgesprochen positiv. Der Antragsteller sei gesprächsbereit, berichte auch über Probleme, könne Lösungen annehmen und bemühe sich sehr um seine Resozialisierung. Diese Tatsachen ändern nichts an der Gefährlichkeit des Antragstellers. Konkrete Veränderungen in Bezug auf seine Persönlichkeit und die in ihr begründete Gewaltbereitschaft, die sich unter bestimmten Umständen aktualisieren kann, werden damit nicht beschrieben. Vor diesem Hintergrund ist der seit der Haftentlassung vergangene Zeitraum deutlich zu kurz, um auf eine Reduzierung der Wiederholungsgefahr schließen zu können.

Die Einwände der Beschwerde gegen die Annahme einer fortbestehenden Wiederholungsgefahr durch das Verwaltungsgericht sind unbegründet.

Das betrifft zunächst den Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr gilt ein mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch die auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, kann im Hinblick auf die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts den Rang des bedrohten Rechtsguts nicht außer Acht lassen, denn dieser bestimmt die mögliche Schadenshöhe. Das bedeutet aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 -, BVerwGE 144, 230, juris Rn. 18, zum Assoziationsrecht).

Das Verwaltungsgericht hat nicht den Ausschluss jeglichen Risikos gefordert. Die Beschwerdebegründung reißt eine einzelne Passage aus dem Zusammenhang. Es hat zwar den Gutachten entnommen, dass seit der Begehung der Tat keine Änderungen eingetreten seien, die es ausschlössen, dass der Antragsteller erneut eine Tat von vergleichbarer Schwere begehen werde. Im Weiteren hat es aber darauf abgestellt, dass andere Situationen vergleichbarer affektiver Qualität nicht als unwahrscheinlich angesehen werden könnten, eine geringe, angesichts der Schwere der drohenden Rechtsgutsverletzung aber ausreichende Wiederholungsgefahr gegeben sei, eine nicht lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten bestehe und ein statistisches Rückfallrisiko von 8 % bestehe. Demnach hat das Verwaltungsgericht die Wahrscheinlichkeit weiterer Taten prognostiziert und das Prognoseergebnis in Beziehung zur Schwere des drohenden Schadens gesetzt. Die prognostizierte Wiederholungsgefahr hat danach einen in Bezug auf diesen Schweregrad beachtlichen Wahrscheinlichkeitswert. Eine Forderung des Inhalts, die Wiederholungsgefahr müsse auszuschließen sein, ist damit nicht verbunden.

Bei der prognostischen Bewertung der Wiederholungsgefahr hat das Verwaltungsgericht zu Recht das statistische Rückfallrisiko von 8 % nach 7 Jahren für eine erneute Inhaftierung aufgrund eines Gewaltdelikts in die Bewertung einbezogen. Es trifft nicht zu, dass diese Aussage in dem Gutachten des Dr. R. vom 19. Dezember 2017 durch dessen Gutachten vom 19. November 2018 überholt wäre. Der Sachverständige hat in dem neueren Gutachten vielmehr festgehalten, dass sich hinsichtlich anamnestischer Angaben beim Antragsteller im Vergleich zur Voruntersuchung keine relevanten Änderungen ergeben hätten (Seite 15 des Gutachtens). Dementsprechend hat er seine Schlussfolgerungen zur legalprognostischen Einschätzung auch auf das Ergebnis des ("Violent offenders Risk Appraisal Guide" VRAG) gestützt (Seite 22 des Gutachtens). Aus dem Gutachten ergibt sich auch nicht, dass die Aussagen des VRAG wenig nachvollziehbar wären. Die Vorgehensweise ist in dem Gutachten in Grundzügen beschrieben. Eine Darstellung von Einzelheiten des ohnehin nur durch einen in dessen Anwendung geschulten Sachverständigen zu verwendenden Prognoseinstruments bedarf es zur Nachvollziehbarkeit des Gutachtens nicht. Dem Gutachten ist auch nicht zu entnehmen, dass eine gedruckte deutsche Fassung des VRAG nicht vorläge (diese ist vielmehr, wie sich der in dem Gutachten zitierten Internetseite https://www.knfp.ch/de/risk-asses-sment-instrumente/vrag.html entnehmen lässt, 2009 in einer Zeitschrift erschienen). Der Sachverständige hat vielmehr begründet, warum er nicht die von den Autoren unlängst vorgestellte, auf einer Zusammenführung von VRAG und SORAG ("Sex offender Risk Appraisal Guide") beruhende revidierte Fassung (VRAG-R) verwendet hat. Für diese revidierte Fassung stand noch keine gedruckte deutsche Übersetzung zur Verfügung. Es beeinträchtigt den Wert des Gutachtens nicht, dass der Sachverständige die ihm zur Verfügung stehenden Methoden angewendet hat. Dass seither weitere Methoden hinzugekommen sind, verringert die Aussagekraft der seinerzeit vorhandenen nicht.

Die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung durch den Beschluss des Landgerichts B-Stadt vom 17. Januar 2019 hindert die Annahme einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend herausgearbeitet, dass auch die Strafvollstreckungskammer eine Wiederholungsgefahr angenommen hat (vgl. zu einem insoweit vergleichbaren Fall Bayerischer VGH, Beschl. v. 14.1.2019 - 10 ZB 18.1413 -, juris Rn. 13). Sie sei der komplexen Einschätzung des Sachverständigengutachtens gefolgt, es könne im Ergebnis gewagt werden, den Antragsteller in Freiheit zu erproben, allerdings nur innerhalb eines engen Netzes aus Weisungen. Weisungen setzten gerade voraus, dass der Verurteilte Hilfe bedürfe, um keine Straftaten mehr zu begehen. Daraus werde ersichtlich, dass eine Wiederholungsgefahr gegeben und es nach Auffassung des Landgerichts lediglich unter Resozialisierungsgesichtspunkten vertretbar sei, die Strafe unter Weisungen zur Bewährung auszusetzen.

Die Beschwerde wendet ein, ganz überwiegend zielten die Weisungen darauf ab zu vermeiden, dass der Antragsteller Kontakt zu der Familie des Tatopfers bekomme. Dies entspreche gerade dem Wunsch des Antragstellers. Die weiteren Weisungen seien ohne Aussagekraft. Das stellt den Schluss, auch die Strafvollstreckungskammer habe eine Wiederholungsgefahr bejaht, nicht in Frage. Der Antragsteller mag bei unaufgeregtem Nachdenken selbst den Wunsch formulieren, keinen Kontakt zu der Familie seines Opfers zu haben. Die Strafvollstreckungskammer hat aber die Gefahr gesehen, dass es bei einem gleichwohl stattfindenden Zusammentreffen - das zufällig, weil der Antragsteller aufgesucht wird oder weil er zwar äußert, keinen Kontakt zu wollen, sich aber nicht so verhält, zustande kommen könnte - zu Eskalationen kommen könnte. Dementsprechend sollen die Verlegung des Lebensmittelpunktes, das Kontaktverbot und das Messerverbot die Begehung weiterer Straftaten erschweren. Zudem hat die Strafvollstreckungskammer auch die Weisung psychologischer Gespräche für sinnvoll erachtet, die noch erteilt werden soll. Auch daraus hat das Verwaltungsgericht zutreffend abgeleitet, dass die Strafvollstreckungskammer eine Wiederholungsgefahr bejaht.

Das Verwaltungsgericht hat die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, in der gebotenen Weise berücksichtigt. Das Institut der Strafrestaussetzung dient der Resozialisierung innerhalb der inländischen Gesellschaft. Es hat die Chance im Blick, diese eher durch eine bedingte Entlassung nach nur teilweisem Vollzug der Freiheitsstrafe herbeizuführen als durch die unbedingte Entlassung nach Vollverbüßung. Hat das Vorgehen Erfolg, so ist die von dem Verurteilten ausgehende Gefahr beseitigt. Dafür wird hingenommen, dass die Aussetzung bereits angeordnet wird, wenn sie unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. § 57 StGB nimmt mithin nicht in den Blick, dass die Gefahr im Falle eines Ausländers auch dadurch abgewehrt werden kann, dass dieser sich nicht mehr im Inland aufhalten darf, falls er ausgewiesen wird. Das Strafvollstreckungsrecht fragt daher auch nicht, welches Vorgehen am besten zur Abwehr einer gegebenen, nach dem Vollzug eines Teils der Freiheitsstrafe verbliebenen Wiederholungsgefahr geeignet ist (vgl. auch Bayerischer VGH, Beschl. v. 10.10.2017 - 19 ZB 16.2636 -, juris Rn. 21).

Daraus ergeben sich unterschiedliche Zwecke und zu betrachtende Zeiträume bei der Strafrestaussetzung einerseits und der Ausweisung andererseits. Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit ggf. unter Auflagen "offen" inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es bei der Ausweisung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen (BVerwG, Urt. v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 -, NVwZ-RR 2013, 435, juris Rn. 19; vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 4.4.2017 - 10 ZB 15.2062 -, juris Rn. 21; v. 7.2.2018 - 10 ZB 17.1386 -, juris Rn. 9; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 12.7.2017 - 18 A 2735/15 -, AuAS 2017, 235, juris Rn. 68).

Dass bei im Wesentlichen gleicher Beurteilung der Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten die Abwägung nach § 57 Abs. 1 StGB zu einem anderen Ergebnis führen kann als die Abwägung nach § 53 AufenthG, kommt auch in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 zum Ausdruck, auf den die Beschwerde abstellt. Darin heißt es, wiege das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer, so werde sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen werde oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen ließen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 -, NVwZ 2017, 229, juris Rn. 24). Die zweite Alternative betrifft gerade den Fall, dass Strafvollstreckungsgericht und Verwaltungsgericht einen im Wesentlichen identischen Sachverhalt zu beurteilen haben. Die prognostizierte Wahrscheinlichkeit neuer Straftaten wird dabei das gleiche Ausmaß haben. Wenn das Bundesverfassungsgericht unter diesen Umständen eine Abweichung als gerechtfertigt ansieht, dann augenscheinlich deshalb, weil die Abwägung im Ausweisungsrecht anders beschaffen ist, was die Möglichkeiten der Gefahrenabwehr, den Zeithorizont und das öffentliche Interesse an der effektiven Abwehr besonders schwerwiegender Rechtsgutsbeeinträchtigungen angeht. Dass ein solcher Fall hier vorliegt, hat das Verwaltungsgericht zutreffend herausgearbeitet. Es hat dargelegt, dass auch die Strafvollstreckungskammer eine Wiederholungsgefahr annimmt, und hat eine ausweisungsrechtliche Abwägung unter Berücksichtigung der höchstwertigen Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit vorgenommen. Im Ergebnis hat es damit der Tatsache Rechnung getragen, dass zur Abwehr der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr für diese Rechtsgüter nicht nur die Alternative des § 57 Abs. 1 StGB - Vollverbüßung oder bedingte Entlassung -, sondern als weiteres Mittel die Aufenthaltsbeendigung besteht. Auch das Erfordernis einer substantiierten Begründung, wenn von der straf(vollstreckungs)gerichtlichen Einschätzung abgewichen werden soll, erfüllt die angefochtene Entscheidung, auf die das Oberverwaltungsgericht oben bereits verwiesen hat.

Vor diesem Hintergrund bedarf es keines Eingehens auf die Frage, auf welche Fallkonstellationen außer der in ihm behandelten der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts übertragbar ist (vgl. dazu Hamburgisches OVG, Beschl. v. 27.4.2017 - 1 Bf 4/17.Z -, juris Rn. 26; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 23.3.2017 - 11 ME 72/17 -, juris Rn. 7; vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 2.5.2017 - 11 N 163.16 -, juris Rn. 21)."

Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich die Einzelrichterin an, zumal der Kläger ihnen im Klageverfahren nicht substantiiert entgegengetreten ist. Soweit er in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, ihm sei klar, was er dem Opfer angetan habe, es habe sich aber um eine Zufallstat gehandelt, die jedem passieren könne, verkennt der Kläger (weiterhin) die in dem fachpsychiatrischen Gutachten vom 19. November 2018 festgestellte, mit seiner Persönlichkeit verbundenen Disposition, der "ein bahnender Einfluss zugemessen werden" kann.

Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 58, 59 AufenthG. Der Kläger ist vollziehbar ausreisepflichtig, da mit der sofort vollziehbaren Ausweisung die Niederlassungserlaubnis des Klägers erloschen ist (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG). Die dem Antragsteller gesetzte Ausreisefrist ist angemessen; einer Fristsetzung für den Fall der Abschiebung aus der Haft bedurfte es nicht (§ 59 Abs. 6 Satz 1 AufenthG). Soweit der Kläger inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse geltend macht, indem er vorträgt, nicht reisefähig zu sein, steht dies der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nicht entgegen, § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG.

Soweit der Kläger vorträgt, er müsse bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan mit einer Gefahr für Leib und Leben rechnen, beruft er sich auf ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot. Ein solches steht der Abschiebungsandrohung nicht entgegen, § 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG. Selbst wenn im vorliegenden Fall ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot anzunehmen wäre, würde nur die mit der Abschiebungsandrohung verbundene Zielstaatsbestimmung gemäß § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufgehoben; die Abschiebungsandrohung bliebe im Übrigen unberührt (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.9.2007 - 10 C 8/07 -, juris, Rn. 20).

Die in dem - umfassend angefochtenen - Bescheid der Beklagten enthaltene selbstständig anfechtbare Zielstaatsbestimmung gemäß § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bezüglich Aserbaidschans ist indessen nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen des vom Kläger geltend gemachten zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Soweit der Kläger unter Vorlage einer übersetzten Niederschrift einer WhatsApp-Sprachnachricht, die von seiner in Aserbaidschan lebenden Schwester stammen soll, vorträgt, er müsse bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan mit einer Gefahr für Leib und Leben rechnen, da ihm dort Blutrache drohe, begründet dies kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Es ist bereits zweifelhaft, ob die vom Kläger geltend gemachte Blutrache in Aserbaidschan verbreitet ist. Der Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 17. November 2020 enthält keine gesonderten Informationen über Blutrache und führt lediglich aus, Repressionen Dritter seien dem Auswärtigen Amt nicht bekannt geworden (S. 16). Soweit das Verwaltungsgericht München in seinem Urteil vom 17. August 2016 - M 16 K 14.30893 -, juris - angenommen hat, der dortige Kläger habe glaubhaft vorgetragen, dass ihm in seinem Herkunftsland Aserbaidschan die konkrete Gefahr der Blutrache durch nichtstaatliche Akteure, lässt dies allein nicht den Schluss zu, Blutrache sei in Aserbaidschan generell verbreitet. Denn der dortige Kläger hatte geltend gemacht, die ihm drohende Blutrache gehe von einer jesidischen Familie aus, nachdem er gegen die von ihnen praktizierte Endogamie verstoßen habe.

Der Vortrag des Klägers zu der ihm drohenden Blutrache ist überdies auch unglaubhaft, da er unsubstantiiert und gesteigert ist. So ging der Kläger jedenfalls ausweislich der Ausführungen des im Strafvollstreckungsverfahren eingeholten Gutachten des Sachverständigen Dr. med. S. vom 26. November 2018 (S. 31 f.) etwas mehr als drei Jahre nach der Tat nicht unbedingt davon aus, dass Blutrache seitens der Familie des Opfers zu erwarten sei. So erwiderte er auf die Frage des Gutachters, ob er die Rache der Familie befürchten müsse, dass die Frau des Verstorbenen bis heute mit einer Frau in Kontakt stehe. Er wolle lieber wegziehen, zum Beispiel nach L., wo sein Schwager lebe, da K. klein sei und er vermeiden wolle, "denen" über den Weg zu laufen. Auf die Frage des Gutachters, ob es in seiner Kultur so etwas wie Blutrache gebe, antwortete der Kläger, dass es sein könne, dass die eine oder andere Familie Blutrache wolle. Auf weitere Nachfrage des Gutachters gab er dann jedoch an, dass er keinen von der Familie des Verstorbenen benennen könne, von dem er speziell Probleme befürchte. Er glaube nicht, dass es spezielle Personen gebe. Er habe mit dem Menschen, der ihm im Gefängnis bedroht habe, keine Probleme. Dieser habe einfach nur Drogenprobleme. Weiter gab er an, seine Ehefrau habe am Tag nach dem Tod seines Opfers die Familie des Verstorbenen besucht, um ihr Beileid auszusprechen. Er, der Kläger, habe sich selbst darüber gewundert, dass sie das gemacht habe. Die Frauen seien aber befreundet gewesen. Zudem hat der Kläger offenbar auch in der Zeit nach der Begutachtung keine Probleme mit der Opferfamilie gehabt, obwohl diese jedenfalls bis zum Sommer 2021 in K. gelebt haben muss. Denn das Landgericht B-Stadt - Strafvollstreckungskammer - hat mit Beschluss vom 18. August 2021 die die Wohnsitznahme des Klägers in L. betreffende Weisung im Bewährungsbeschluss des Landgerichts B-Stadt - Strafvollstreckungskammer - vom 17. Januar 2019 aufgehoben, nachdem die Familie des vom Kläger Getöteten aus K. weggezogen war. Der Kläger hat sich zwischen seinem Wegzug nach L. nach der Haftentlassung im Januar 2019 und seinem Umzug nach K. im Jahr 2021 nach Aufhebung der Weisung zur Wohnsitznahme in L. auch zumindest gelegentlich in K. aufgehalten. Hierfür sprechen die im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Stellungnahmen der in K. praktizierenden Ärzte Dr. med. M. N. und P. Q.. So wurde ausweislich des Arztbries von Dr. med. M. N. vom 29. Oktober 2019 am 28. Oktober 2019 ein psychopathologischer Befund erhoben. Dem ärztlichen Attest der Fachärztin für Allgemeinmedizin P. Q. vom 8. April 2021 zufolge steht der Kläger bei ihr in hausärztlicher Behandlung. Da die Ehefrau des Klägers und die gemeinsame Tochter nach dem Wegzug des Klägers nach L. weiterhin in K. gelebt haben, ist zudem davon auszugehen, dass der Kläger diese während seiner Wohnsitznahme in L. in K. besucht hat.

Demgegenüber hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nunmehr geltend gemacht, einer der Brüder des Opfers sei Straftäter und solle geschworen haben, dass er für seinen Bruder Rache üben werde. Die Leute dieses Mannes hätten die Schwester des Klägers beobachtet und rausfinden wollen, ob er, der Kläger, sich bereits in Baku aufhalte. Es seien zwei Leute bei seiner Schwester aufgekreuzt und hätten gesagt sie hätten Verbindungen. Näher substantiiert hat er dies jedoch nicht. Auch die vom Kläger vorgelegte Niederschrift einer WhatsApp-Sprachnachricht, die von seiner in Aserbaidschan lebenden Schwester stammen soll, ist hinsichtlich der vom Kläger geltend gemachten Bedrohung unsubstantiiert. Insbesondere wird nicht klar, wer "diese Leute, die damals kamen" sein sollen.

Unterstellt, dass dem Kläger in Aserbaidschan die von ihm behauptete Blutrache tatsächlich drohen sollte, ist zudem selbstständig tragend davon auszugehen, dass dem Kläger in Aserbaidschan staatlicher Schutz zur Verfügung steht. Ausweislich der von der Beklagten eingeholte Stellungnahme des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2021, die u.a. auf den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 17. November 2020 verweist, ist von der Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des aserbaidschanischen Staates auszugehen. Dies hat im Übrigen auch das Verwaltungsgericht München in seinem oben erwähnten Urteil vom 17. August 2016 - M 16 K 14.30893 -, juris - so angenommen.

Auch die vom Kläger geltend gemachten Erkrankungen Diabetes mellitus Typ II, essenzielle Hypertonie, hypertensive Herzkrankheit, Linksherzinsuffizienz, NYHA-Stadium II, mittelgradig depressive Symptomatik mit Angst- und Panikattacken, Depression, Panikstörung, PTBS und Anpassungsstörungen begründen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach diesem Maßstab sind die vom Kläger vorgetragenen Erkrankungen weder für sich genommen noch in ihrer Gesamtheit derart schwerwiegend, dass bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan und einer ggf. schlechteren Versorgung als in Deutschland oder einer Umstellungsphase auf andere Medikamente unmittelbar damit zu rechnen wäre, dass dem Kläger eine außergewöhnlich schwere körperliche oder psychische Gesundheitsgefahr droht. Die Erkrankungen können zudem in Aserbaidschan behandelt werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in seiner von der Beklagten eingeholten Stellungnahme vom 25. März 2021 ausgeführt, dass die Behandlung von regelmäßigen Krankheitsbildern wie z. B. Bluthochdruck, Anämie, allgemein Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Depressionen, PTBS, Asthma, Gelenk- und Rückenschmerzen etc. in Aserbaidschan ebenso möglich ist wie die Beschaffung der meisten hierfür benötigten Medikamente. Es ist auch davon auszugehen, dass der Kläger in Aserbaidschan Zugang zu den erforderlichen Behandlungen und Medikamenten erhalten wird. Ausweislich des Länderinformationsblatt Aserbaidschan 2021 der Internationalen Organisation für Migration (IOM) Deutschland (https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2021_Azerbaijan_DE.pdf) sind gemäß dem Gesetz der Republik Aserbaidschan vom 26. Juni 1997, Nr. 360-IQ über die öffentliche Gesundheitsfürsorge (oder Gesetzbuch über den Schutz der öffentlichen Gesundheit) die medizinischen Leistungen in den staatlichen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen kostenlos. Wenn ein Staatsangehöriger im Besitz eines gültigen Ausweises ist, gibt es keine Einschränkung für die Behandlung in staatlichen Gesundheitseinrichtungen. Für die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, die von der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt werden, ist die Vorlage eines Personalausweises an der Rezeption der Gesundheitseinrichtung erforderlich. Die Kosten für staatlich registrierte Medikamente sind durch den so genannten Tarif-Rat der Republik Aserbaidschan vorgegeben. Einige durch das Gesundheitsministerium der Republik Aserbaidschan ausgewählte Medikamente sollten von Gesundheitseinrichtungen kostenlos und nur in öffentlichen Krankenhäusern sowie Kliniken zur Verfügung gestellt werden.

Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung geäußert hat, er habe Angst vor der Zukunft, da er nicht wisse, was ihn in Aserbaidschan erwarte und er dort nichts habe; der deutsche Staat schicke ihn ins Nichts, ist dem entgegenzuhalten, dass die allgemeine humanitäre Lage in Aserbaidschan kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK begründet. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist gesichert, einkommensschwache Familien erhalten Sozialleistungen. Insgesamt sind die allgemeinen humanitären Verhältnisse in Aserbaidschan nicht generell derart defizitär, als dass auf Grund dessen unterschiedslos für alle Personen bzw. den Personenkreis, dem der Kläger angehört (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 18.11.2021 - AN 16 K 16.32508 -, juris, Rn. 49).

Auch der Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie die getroffene Befristungsentscheidung sind rechtmäßig. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung und auch der Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.7.2017 -, juris, Rn. 16).

Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Im Falle einer Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Entscheidung über die Länger der Frist erfolgt gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen. Dieses ist gemäß § 114 Satz 1 VwGO gerichtlich nur dahingehend überprüfbar, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG darf die Frist außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten. Sie soll gemäß § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.

Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zu Grunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.7.2012 - 1 C 19.11 -, juris Rn. 42).

Gegen den Kläger war ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu erlassen, da die Beklagte ihn mit Bescheid vom 29. Oktober 2018 aus dem Bundesgebiet ausgewiesen hat. Auch die Entscheidung der Beklagten, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Jahre nach erfolgter Ausreise zu befristen, ist nach dem Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO nicht zu beanstanden.

Die Beklagte hat erkannt, dass die Entscheidung über die Länge der Frist in ihrem Ermessen steht und dieses ausgeübt. Da der Kläger auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde, bewegt sich die von der Beklagten getroffene Befristungsentscheidung auch in den von § 11 Abs. 3 Satz 2, Abs. 5 Satz 1 AufenthG vorgegebenen zeitlichen Grenzen von fünf bis zehn Jahren. Die Beklagte hat bei der Befristungsentscheidung das auf Grund der Verurteilung wegen Totschlags vorliegende besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1a AufenthG und die bestehende Wiederholungsgefahr berücksichtigt. Ebenso hat sie in ihrer Ermessensentscheidung die persönlichen Belange des Klägers berücksichtigt und zutreffend gewichtet. So hat sie die familiären Bindungen des Klägers zu seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter in ihre Entscheidung einbezogen und dabei zu Grunde gelegt, dass die Kontakte des Klägers zu seiner Familie sich aus Aserbaidschan durch Telefon, Internet, Briefverkehr sowie gelegentliche Besuche aufrechterhalten lassen. Zudem hat sie Art. 8 EMRK geprüft und das Ergebnis dieser Prüfung - die mangelnde Verwurzelung des Klägers im Bundesgebiet in Folge der mangelnden Deutschkenntnisse und der fehlenden wirtschaftlichen Integration sowie die Möglichkeit der Wiedereingliederung in die Verhältnisse seines Heimatlandes - in ihre Ermessensentscheidung eingestellt. Dementsprechend erweist sich die von der Beklagten festgesetzte Frist von sechs Jahren unter Berücksichtigung des im Verhalten des Klägers gründenden Ausweisungsinteresses einerseits und der Bleibeinteressen des Klägers andererseits als verhältnismäßig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.